Kirsten Boie & Barbara Scholz: Der kleine Ritter Trenk

Für kleine Ritterfans

„Leibeigen geboren, leibeigen gestorben, leibeigen ein Leben lang“, damit will sich der schlaue Bauernsohn Trenk nicht abfinden. Als der Ritter Wüterich seinen Vater wieder einmal zu Schlägen auf die Burg bestellt, zieht er mit seinem Ferkelchen fort, und nach vielen Abenteuern heißt es für ihn: „Leibeigen geboren, als Ritter gestorben, tapfer ein Leben lang“.

Kirsten Boie hat auch in diesem Kinderbuch genau den richtigen Ton für die anvisierte Altersgruppe ab ca. fünf Jahren getroffen und ein wunderbar erzähltes, märchenhaftes und doch sehr informatives Vorlesebuch geschrieben, aufwändig ausgestattet mit mehr als 200 fantasievollen Zeichnungen von Barbara Scholz, Leinenrücken und Lesebändchen.

Kirsten Boie & Barbara Scholz: Der kleine Ritter Trenk. Oetinger 2006
www.oetinger.de

Niall Williams: Die Geschichte des Regens

Ein in jeder Hinsicht besonderer Roman

Ruth Swain, 19-jährige Irin aus der County Clare, liegt im Bett ihrer Mansarde direkt unter dem Regen, umgeben von den 3589 Büchern ihres Vaters. Indem sie ihre Geschichte, die Geschichte ihrer Familie, ihres Dorfes, des Shannon, der auf dem Weg zum Meer an ihrem Haus vorbeifließt, und des unaufhörlich herabprasselnden Regens erzählt, versucht sie, ihre Leukämie zu besiegen und am Leben zu bleiben und „die am Leben  halten, die nur noch im Erzählen da sind“. Doch wenn man wie sie „nur im Bett liegt, der Körper nirgends hin kann, macht sich irgendwann der Geist auf die Socken“, der Fluss des Erzählens wird reißend. Mrs Quinty, die ihre neu verfassten Buchseiten liest, beklagt eine „exzentrische stilistische Überfülle“ und „unkontrollierte Gedankensprünge“, Ruth selber bezeichnet ihr Werk als „Flusserzählung“, ihr bevorzugtes Stilmittel als „Mäander“, und sie versucht immer wieder erfolglos, sich zu zügeln, wenn sie abschweift.

Die Geschichte des Regens war beim Lesen eine Herausforderung für mich und hat mich unverhältnismäßig lange beschäftigt. Auf den ersten hundert Seiten hatte ich immer wieder den Wunsch abzubrechen, weil ich das Gefühl hatte, in diesem Strudel von Worten und Sätzen unterzugehen und nichts aus der Geschichte mitzunehmen. Doch danach ging es immer besser und der Monolog hat mich zunehmend gepackt, vor allem im zweiten Teil, als Ruth von dem erzählt, was sie selber erlebt hat, und auch einige wenige Blitzlichter auf ihre Erkrankung geworfen werden. Auch ihr ungewöhnlicher Erzählstil, mit dem ich zu Anfang sehr gekämpft habe und in dem Melancholie und Humor gleichermaßen Platz finden, hat mich mehr und mehr gepackt. Und so habe ich das Buch schließlich doch mit einem Bedauern beendet um anschließend die ersten hundert Seiten nochmals zu überfliegen mit dem Gefühl, sie nun sehr viel besser zu verstehen.

Ich kann das Buch allen empfehlen, die eine ausschweifende Erzählweise und eine blumige Sprache mögen, die die vielen Anspielungen auf die Literatur zu schätzen wissen, die das langsame Tempo mitgehen können und die es ertragen, wenn sie die eine oder andere Stelle oder Anekdote mangels Vorwissen über Irland nicht verstehen. Ich war schließlich froh, dass ich mich durchgebissen habe, und vergebe vier Sterne für dieses außergewöhnliche Buch, was ich lange Zeit nicht für möglich gehalten hätte. Es ist ein in jeder Hinsicht besonderer Roman, manchmal vielleicht zu besonders, aber für mich alles in allem sehr lesenswert!

Niall Williams: Die Geschichte des Regens. DVA 2015
www.randomhouse.de

Susanne Mischke: Nixenjagd

Krimi für Mädchen ab 15

Während des Oberstufenfests am Badesee verschwindet Faranziskas beste Freundin Katrin spurlos. Kurz darauf wird ihre Leiche geborgen, die Spuren eines Verbrechens zeigt. Aber wer hätte ein Interesse daran, Katrin aus dem Weg zu räumen? Welche Rolle spielt der Neue an der Schule, der Mädchenschwarm Paul, den Katrin kurz vor ihrem Verschwinden im Zelt besucht hat, und auf den auch Franziska ein Auge geworfen hat? Kommissarin Petra Gerres ermittelt hartnäckig und einfühlsam im Kreis der Schülerinnen und Schüler.

Nixenjagd ist ein super spannender Krimi für Mädchen ab ca. 15 Jahren, aber auch für die Eltern. Man kann ihn überall lesen, nur nicht am Badesee…

Susanne Mischke: Nixenjagd. Arena 2007
www.arena-verlag.de

Sibylle Knauss: Füße im Feuer

Weit mehr als ein historischer Roman

Dieser historische Roman von Sibylle Knauss spielt zur Zeit der Hexenverfolgungen des 17. Jahrhunderts an der Grenze zwischen Frankreich und Spanien im äußersten Südwesten Frankreichs, hauptsächlich in der Zeit zwischen August und November 1609. Doch anders als bei den meisten in dieser Epoche angesiedelten Büchern stehen hier nicht die angeklagten Frauen und Männer im Mittelpunkt, sondern der Täter, der Parlamentsrat und Emporkömmling Pierre de Lancre, und sein Gegenspieler, der Wundarzt Martin Lallemand.

In der ersten Szene brennt eine „Hexe“, die letzte von 57 Männern und Frauen in diesem Gebiet. Um wen es sich handelt, werden wir erst im letzten Teil des Romans erfahren, denn der Spannungsbogen spannt sich, dramaturgisch kunstvoll angelegt, fast bis zum Ende.

Die Charakterisierung der zwei Protagonisten, auf der einen Seite der königliche Richter und Parlamentsrat in Bordeaux, Pierre de Lanore, Emporkömmling und Jesuitenschüler, der von der Angst vor dem Abstieg beherrscht wird und nie den geringsten Zweifel an seinem Tun hegt, auf der anderen Seite der deutsche Wundarzt Martin Lallemand, kein Intellektueller, der zunächst an Hexenprozessen teilnimmt, dann aber zunehmend von Zweifeln heimgesucht wird und den Gefangenen und ihren Angehörigen mit kleinen Diensten hilft.

Füße im Feuer ist weit mehr als ein spannender, gut geschriebener historischer Roman. Sibylle Knaus geht darüber hinaus der Frage nach, ob es möglich ist, den Irrtümern der eigenen Zeit zu entkommen. Insofern ist das Thema Hexenverfolgung nur Mittel zum Zweck, das sich problemlos auf andere Sujets übertragen ließe.

Sibylle Knauss: Füße im Feuer. List 2005
www.ullsteinbuchverlage.de

Sabine Kaufmann: 1816

Potential verschenkt

Im Jahr 1815 brach der Vulkan Tambora in Indonesien aus und schickte eine riesige Aschewolke um die Welt. Als Folge traten schwerwiegende Klimaschwankungen in Westeuropa ein mit Hagelstürmen, Kälte, Schneemassen und sintflutartigen Regenfällen. Der Sommer in Mitteleuropa fiel aus.

Sabine Kaufmann ist Historikerin und Journalistin und erzählt in neun Episoden Schicksale, die sich aus der Klimakatastrophe ergaben. Da ist z. B. der Pfarrer Fortunat Fauler, der auf der Schwäbischen Alb verzweifelt gegen die Hungersnot in seiner Gemeinde kämpft und das Kartoffelbrot erfindet, Königin Katharina von Württemberg, als Zarentochter an Luxus gewöhnt, die radikal ihren Lebensstil ändert und große Teile ihres Vermögens in die Errichtung von Armenküchen investiert, und Mary Wollstonecraft Shelley, die angesichts des trüben, trostlosen Wetters am Genfer See ihren Roman Frankenstein schreibt. Tausende Familien wanderten, getrieben von Hunger und Elend, aus. In den Jahren 1816/17 erhöhte sich die Zahl der Auswanderer aus Baden und Württemberg um 4300%.

Obwohl die ausgewählten Episoden äußerst interessant und authentisch sind, konnte mich der Schreibstil dieses historischen Episodenromans nicht packen. Nach meinem Empfinden hätte man aus diesem spannenden Material mehr machen können.

Sabine Kaufmann: 1816. G. Braun 2013
derkleinebuchverlag.de

Paul Kustermans: Nur der Regenbogen

Ein historischer Liebesroman für Teenager

Rubens Vater ist nicht aus dem Krieg zurückgekehrt und die Mutter kann die Pacht für den kleinen Hof nicht bezahlen. Als sie sich gegen den Pächter wehrt, wird sie wegen Hexerei angeklagt, was einem Todesurteil gleichkommt.

Ruben flieht auf dem Weg zum Kerker und schlägt sich nach Amsterdam  durch. Sein Zeichentalent überzeugt den Malermeister Boecke, der ihn ohne Lehrgeld als Lehrling aufnimmt. Als Ruben auf dem Markt dann noch Syrah, die Tochter eines reichen Kaufmanns, kennenlernt, scheint sein Leben sich endlich zum Besseren zu wenden. Aber dann spüren ihn die Handlanger der Inquisition wieder auf und er muss Hals über Kopf mit Syrah fliehen…

Nur der Regenbogen ist ein anrührender Liebesroman ohne jeden Kitsch, der ein sehr lebendiges Bild der farbenprächtigen Welt des 16. Jahrhunderts vermittelt. Dabei wird es die jugendlichen Leserinnen ab ca. 12 Jahren sicher nicht stören, dass Paul Kustermans auf eine Legende um den Maler Rubens zurückgegriffen hat, die mit dessen tatsächlicher Biografie nur wenig zu tun hat.

Paul Kustermans: Nur der Regenbogen. Loewe 2002
www.loewe-verlag.de

Umberto Eco: Der Name der Rose

Ein sehr atmosphärisches Hörerlebnis

Mit der 1986 von BR, SWF und NDR produzierten Hörspielfassung von Umberto Eco historischem Kriminalroman werden die atemlosen Hörer in eine mittelalterliche Abtei im Apennin entführt.

Der greise Mönch Adson berichtet, wie er dort als junger Adlatus des in politischer Mission reisenden Bruders William von Baskerville rätselhafte Morde rund um eine geheimnisvolle Bibliothek erlebte.

Anders als der Film bleibt das Hörspiel sehr nahe am Text, nur die politisch-religiösen Exkurse sind gekürzt. Durchweg herausragende Sprecher wie Heinz Moog, Pinkas Braun, Ernst Jacobi, Rolf Boysen u. a. schaffen eine atemberaubende Atmosphäre.

Umberto Eco: Der Name der Rose. DHV – der Hörverlag 2011
www.randomhouse.de/Verlag/der-Hoerverlag

Ernest Hemingway: In einem andern Land

Ein Antikriegsbuch

In einem andern Land, im englischen Original treffender A Farewell to Arms, erzählt die Geschichte des amerikanischen Sanitätsoffiziers Frederic Henry, der sich aus Idealismus und Abenteuerlust für den Ersten Weltkrieg gemeldet hat. Im tristen und grauen Kriegsalltag an der italienisch-österreichischen Front geht sein Idealismus schnell verloren.

Als er die englische Krankenschwester Catherine Barkley kennen- und lieben lernt, trifft er eine schwerwiegende Entscheidung…

In einem andern Land ist einerseits ein Antikriegsbuch, in dem Ernest Hemingway seine eigenen traumatischen Kriegserlebnisse im Ersten Weltkrieg verarbeitet hat, andererseits ein wunderbarer, trauriger  Liebesroman.

Für mich ist es eines der schönsten Bücher des unübertroffenen Erzählers Hemingway, nicht zuletzt deshalb, weil seine beiden Lieblingsthemen „Jagd“ und „Stierkampf“ hier nicht vorkommen.

Ernest Hemingway: In einem andern Land. Rowohlt 1999
www.rowohlt.de

Wilhelm Raabe: Die Chronik der Sperlingsgasse

Die Welt als Mikrokosmos

In der Reihe Erlesenes Lesen – Kröners Fundgrube der Weltliteratur veröffentlicht der Stuttgarter Alfred Kröner Verlag seit 2013 Klassiker in wunderbarer Aufmachung mit Leineneinband, Lesebändchen, Fadenheftung und auf hochwertigem Papier gedruckt, ein sinnliches Vergnügen bereits beim Entfernen der Folie. Die Büchlein liegen hervorragend in der Hand und die angenehme Schriftgröße sowie das wohlgestaltete Seitenlayout tragen maßgeblich zum Lesegenuss bei.

Den vorliegenden Band Die Chronik der Sperlingsgasse runden ein Anhang mit hilfreichen Anmerkungen, einem informativen Nachwort von Joachim Bark, einer Bibliografie und einer Zeittafel sowie wunderschön feine Miniaturen aus der Hand Raabes ab. Es ist der erste Roman von Wilhelm Raabe (1831 – 1910) und erschien erstmals 1856. Raabe gehört neben Theodor Fontane zu den bedeutenden Erzählern des poetischen Realismus. Obwohl dieser Erstling dem Autor einige Anerkennung einbrachte, war er finanziell kein Erfolg.

Der alte, einsame Johannes Wachholder ist der Chronist, der uns von den kleinen und großen Ereignissen in der Sperlingsgasse in Berlin Mitte des 19. Jahrhunderts erzählt. Er ist mit seinem „Leben da angelangt, wo, wie in jenem Übergang vom Wachen zum Schlaf, die Erlebnisse des Tages sich noch dumpf im Gehirn des Müden kreuzen, wo aber bereits die dunkle, traum- und geistervolle Nacht über alles, Gutes und Böses, ihren Schleier breitet…; es ist die Zeit, wo die Erinnerung an die Stelle der Hoffnung tritt.“

Vor etwa 30 Jahren ist Johannes Wachholder in diese Gasse gezogen und der Blick aus dem Fenster ersetzt ihm den Blick in die Welt, ist sein Mikrokosmos. Er berichtet von Alltäglichem, wirft Blicke zurück, erzählt aus dem Leben seiner Nachbarn, von Geburt und Tod, aber auch vom Weltgeschehen wie der Napoleonischen Zeit, der Revolution von 1848 oder der Auswanderungswelle nach Amerika, letzteres oft in kleinen Episoden und als bloße Andeutungen.

Die rote Faden im Roman aber ist das große Glück im Leben des Chronisten, sein Pflegekind Elise, noch in der Wiege verwaiste Tochter seiner Freunde, für die er bis zu ihrer Verheiratung sorgt. Ihre Abreise mit ihrem Mann nach Italien stürzt Wachholder in tiefe Traurigkeit und Wehmut, die den Ton des Romans prägen. Immer wieder eingestreute fröhliche Passagen verhindern jedoch, dass die Schwermut sich allzu sehr auf den Leser überträgt.

Den Stil, in dem Raabe seine Chronik zu Papier gebracht hat, möchte ich als pathetisch und entschleunigt bezeichnen. Die Ruhe und Lebensweisheit des alten Mannes, mit der von Unglücken, Tod, Armut, aber auch von fröhlichen Festen und über die Liebe berichtet wird, überträgt sich beim Lesen und macht die Lektüre zum Genuss. Besonders gut gefallen haben mir daneben seine poetischen Beobachtungen zu den Jahreszeiten seines Schreibens von November bis Mai mit der Aussicht auf das Wiedererwachen der Natur.

Für mich war dieser mir bisher unbekannte Klassiker eine wirkliche Entdeckung und ein literarisches Erlebnis!

Wilhelm Raabe: Die Chronik der Sperlingsgasse. Kröner 2015
www.kroener-verlag.de

Andreas Steinhöfel: Es ist ein Elch entsprungen

Eine etwas andere Weihnachtsgeschichte

Bereits der Einstieg in diese absurde, haarsträubende, ganz und gar unkitschige Weihnachtsgeschichte ist brachial: Ein Elch stürzt durch die Zimmerdecke, als Bertil, seine neunmalkluge Schwester Kiki und die Mutter gerade Weihnachtsmusik machen. Sören, der Couchtisch von Ikea, geht zu Bruch und Mr Moose, der höfliche Elch des Santa Claus, muss gesundgepflegt werden.

Warum Elche die Weihnachtsschlitten ziehen, wie Santa Claus in der Nervenklinik landet und wie Mr Moose und die Kinder dafür sorgen, dass Weihnachten schließlich doch nicht ausfällt, wird in dieser turbulenten, humorvollen Vorlesegeschichte ab ca. sechs Jahren sehr unterhaltsam und durchaus nicht nur für Kinder erzählt.

Andreas Steinhöfel: Es ist ein Elch entsprungen. Carlsen 2002
www.carlsen.de