Die Welt als Mikrokosmos
In der Reihe Erlesenes Lesen – Kröners Fundgrube der Weltliteratur veröffentlicht der Stuttgarter Alfred Kröner Verlag seit 2013 Klassiker in wunderbarer Aufmachung mit Leineneinband, Lesebändchen, Fadenheftung und auf hochwertigem Papier gedruckt, ein sinnliches Vergnügen bereits beim Entfernen der Folie. Die Büchlein liegen hervorragend in der Hand und die angenehme Schriftgröße sowie das wohlgestaltete Seitenlayout tragen maßgeblich zum Lesegenuss bei.
Den vorliegenden Band Die Chronik der Sperlingsgasse runden ein Anhang mit hilfreichen Anmerkungen, einem informativen Nachwort von Joachim Bark, einer Bibliografie und einer Zeittafel sowie wunderschön feine Miniaturen aus der Hand Raabes ab. Es ist der erste Roman von Wilhelm Raabe (1831 – 1910) und erschien erstmals 1856. Raabe gehört neben Theodor Fontane zu den bedeutenden Erzählern des poetischen Realismus. Obwohl dieser Erstling dem Autor einige Anerkennung einbrachte, war er finanziell kein Erfolg.
Der alte, einsame Johannes Wachholder ist der Chronist, der uns von den kleinen und großen Ereignissen in der Sperlingsgasse in Berlin Mitte des 19. Jahrhunderts erzählt. Er ist mit seinem „Leben da angelangt, wo, wie in jenem Übergang vom Wachen zum Schlaf, die Erlebnisse des Tages sich noch dumpf im Gehirn des Müden kreuzen, wo aber bereits die dunkle, traum- und geistervolle Nacht über alles, Gutes und Böses, ihren Schleier breitet…; es ist die Zeit, wo die Erinnerung an die Stelle der Hoffnung tritt.“
Vor etwa 30 Jahren ist Johannes Wachholder in diese Gasse gezogen und der Blick aus dem Fenster ersetzt ihm den Blick in die Welt, ist sein Mikrokosmos. Er berichtet von Alltäglichem, wirft Blicke zurück, erzählt aus dem Leben seiner Nachbarn, von Geburt und Tod, aber auch vom Weltgeschehen wie der Napoleonischen Zeit, der Revolution von 1848 oder der Auswanderungswelle nach Amerika, letzteres oft in kleinen Episoden und als bloße Andeutungen.
Die rote Faden im Roman aber ist das große Glück im Leben des Chronisten, sein Pflegekind Elise, noch in der Wiege verwaiste Tochter seiner Freunde, für die er bis zu ihrer Verheiratung sorgt. Ihre Abreise mit ihrem Mann nach Italien stürzt Wachholder in tiefe Traurigkeit und Wehmut, die den Ton des Romans prägen. Immer wieder eingestreute fröhliche Passagen verhindern jedoch, dass die Schwermut sich allzu sehr auf den Leser überträgt.
Den Stil, in dem Raabe seine Chronik zu Papier gebracht hat, möchte ich als pathetisch und entschleunigt bezeichnen. Die Ruhe und Lebensweisheit des alten Mannes, mit der von Unglücken, Tod, Armut, aber auch von fröhlichen Festen und über die Liebe berichtet wird, überträgt sich beim Lesen und macht die Lektüre zum Genuss. Besonders gut gefallen haben mir daneben seine poetischen Beobachtungen zu den Jahreszeiten seines Schreibens von November bis Mai mit der Aussicht auf das Wiedererwachen der Natur.
Für mich war dieser mir bisher unbekannte Klassiker eine wirkliche Entdeckung und ein literarisches Erlebnis!
Wilhelm Raabe: Die Chronik der Sperlingsgasse. Kröner 2015
www.kroener-verlag.de