Sabine Ludwig & Isabel Pin: Wie lange noch?

Ein Adventskalender zum Vorlesen

Wie lange noch?  – Wer kennt sie nicht, diese Frage der Kinder vor Weihnachten? Sabine Ludwig ist die Herausgeberin des gleichnamigen Buches mit dem Untertitel Die schönsten Adventsgeschichten in 24 Tagen, das aber auch Lieder, Gedichte und sogar Rezepte enthält.

Vertreten sind so unterschiedliche Autoren wie Hans Christian Andersen, Leo Tolstoi, Charles Dickens, Erich Kästner, Tilde Michels, Klaus Kordon, Paul Maar, Kirsten Boie, natürlich Sabine Ludwig und viele andere. Die Geschichten sind mal lustig, mal traurig, und nicht so kurz wie sonst oft in Adventskalendern zum Vorlesen. Man sollte also für das abendliche Vorlesen im Familienkreis etwas mehr Zeit einplanen.

Die Illustrationen der Französin Isabel Pin untermalen die sehr gut ausgewählten Geschichten.

Entgegen der Altersangabe des Verlag von 5 bis 14 Jahren würde ich es frühestens ab 7, dafür aber ohne Begrenzung nach oben empfehlen.

Sabine Ludwig & Isabel Pin: Wie lange noch? Aufbau 2011
www.aufbau-verlag.de

Anne Gesthuysen: Sei mir ein Vater

Eine Reise in die Belle Epoque – leider gekürzt!

Anne Gesthuysen erzählt in ihrem neuen Roman Sei mir ein Vater gleich zwei Geschichten. In der autobiografisch beeinflussten Rahmenhandlung geht es um die knapp vierzigjährige Pariserin Lilie, die sich während eines Jahres als Schülerin in Deutschland mit ihrem Gastvater Hermann einen Ersatz für ihren stets abwesenden biologischen Vater Yves gesucht hat. Mit Hermann, der sich im Endstadium einer Krebskrankheit befindet, und ihrer Wahlschwester Hanna unternimmt sie eine letzte Reise auf den Spuren ihrer Ururgroßtante, der Malerin Georgette Agutte (1867 – 1922), und eines geheimnisvollen verschollenen Bildes.

Was wir über diese Malerin und ihren zweiten Mann, den Juristen und Politiker Marcel Sembat, erfahren, macht für mich den Reiz dieses Buch aus. Obwohl Georgette Agutte als Malerin genauso wenig in der ersten Reihe stand wie ihr Mann als Politiker, war das Ehepaar mit vielen Künstlern und anderen bekannten Persönlichkeit ihrer Zeit befreundet, u.a. mit  Henri Matisse, Camille Pissaro, Pierre-Auguste Renoir und Emile Zola sowie dem Politiker und Pazifisten Jean Jaurès.

Dieser historische Teil macht für mich den Reiz des leicht erzählten Romans aus. Die Berühmtheiten ihrer Zeit, die im Hause Agutte-Sembat ein- und ausgingen, sowie die Zeitumstände, vor allem während des Ersten Weltkriegs, sind sehr gut und lebendig dargestellt und laden dazu ein, weitere eigene Nachforschungen anzustellen. Beim Hören habe ich deshalb immer wieder ein Lexikon und verschiedene Bildbände bemüht und den Roman damit „angereichert“.

Etwas schwächer ist dagegen die Rahmenhandlung, die zwar unterhält, aber bei weitem nicht so tiefgehend ist. Gut gefallen hat mir dagegen das Motiv, das die beiden so unterschiedlichen Frauen Lilie und Georgette Agutte verbindet: das Aufwachsen ohne Vater. Während Georgette ihren Maler-Vater wegen dessen frühem Tod nie kennengelernt hat, ist Lilies Vater zu egozentrisch, um sich um sie zu kümmern, und taucht nur sporadisch auf. Der glücklich verheirateten Georgette bleiben eigene Kinder verwehrt wohingegen die alleinlebende Lilie einen Sohn hat, der wiederum ohne Vater aufwächst – die Geschichte wiederholt sich.

Warum vergebe ich nur drei Sterne, obwohl ich mich durch das Hörbuch sehr gut unterhalten gefühlt habe und die Sprecherin Doris Wolters den Roman ausgezeichnet und mit der genau richtigen Menge an Schauspielerei liest? Ich habe dieses Hörbuch im Rahmen einer kombinierten Hör- und Leserunde gehört. Dabei ist mir aufgefallen, dass es leider an vielen Stellen gekürzt ist, und zwar vor allem bei der Geschichte um Georgette Agutte. So fehlt z. B. die sehr interessante Begegnung mit Renoir und auch das wichtige Nachwort ist dem Rotstift zum Opfer gefallen. Schade, denn ich würde für die vollständige Lesung gerne ein paar Euro mehr bezahlen. Dem Buch hätte ich vermutlich vier Sterne gegeben, für die Kürzungen des Hörbuchs ziehe ich einen Stern ab.

Anne Gesthuysen: Sei mir ein Vater. Argon Hörbuch 2015
www.argon-verlag.de

Garry Disher: Drachenmann

Nichts für schwache Nerven

Es ist kurz vor Weihnachten in der sommerlichen Hitze Australiens. Das Wasser wird knapp, es drohen Buschfeuer und Detective Inspektor Hal Challis wünscht sich nichts sehnlicher, als die Gespenster aus der Vergangenheit, die anlässlig des bevorstehenden Fests wieder lebendig werden, mit einem neuen Fall zu vertreiben.

Sein Wunsch wird erhört: Auf dem Old Peninsula Highway vor Melbourne wird eine Frau auf brutale Weise vergewaltigt und ermordet. Kurz darauf geschieht ein weiterer Mord und in einem Brief an die örtliche Zeitung wird ein dritter angekündigt. Challis und sein Team begeben sich auf die Suche nach einem Serienmörder.

Drachenmann aus dem Jahr 1999 ist der erste Krimi aus der Serie um den Ermittler Inspektor Hal. Atmosphärisch dicht, spannend, mit schnellen Schnitten und aus wechselnden Perspektiven erzählt Garry Disher eine Geschichte, die zugleich Krimi und Milieu-Studie ist, und die man kaum noch aus der Hand legen kann.

Garry Disher: Drachenmann. Unionsverlag 2012
www.unionsverlag.com

Waldtraut Lewin: Mond über Marrakesch

Freundschaft und Liebe in schwierigen Zeiten

Berlin 1940. Kommerzienrat Moebius lässt aus Karrieregründen seine Ehe mit der Jüdin Sidonie annullieren und liefert sie damit den Nazis aus. Seine Tochter Rita, Halbjüdin, die mehr an ihrer Stiefmutter als am Vater hängt, wendet sich deshalb von ihm ab und flieht mit den Diamanten und Schecks aus dem Safe. Ihr Ziel ist Marrakesch, das sie von einer Postkarte Sidonies kennt.

In Straßburg lernt Rita den ehemaligen Fremdenlegionär Gabriel kennen, der von den Nazis gesucht wird. Gemeinsam fliehen sie vor der heranrückenden deutschen Wehrmacht und aus der Zweckgemeinschaft wird allmählich Liebe. Doch da sie nur einen Pass haben, kann plötzlich nur noch einer weiter, und nur einer wird den Mond über Marrakesch sehen…

Freundschaft und Liebe sind immer möglich, egal wie schwierig die äußeren Umstände sind. Eine packende Lektüre für Jugendliche ab ca. 13 Jahre und Erwachsene!

Waldtraut Lewin: Mond über Marrakesch. Ravensburger 2006
www.ravensburger.de

Birger Koch: Wau sucht eine Frau

Ein Hund auf Partnersuche

Weil sich der kleine Wau in seiner Hütte einsam fühlt, geht er auf die Suche nach einer Frau. Doch überall hat er Pech: Die Maus hat schon eine Familie, die Kuh ist zu groß, der Hahn will keine Henne abgeben, das Schwein schnacht und die Pudeldame ist zu vornehm. Doch gerade als er resigniert hat und traurig in seiner Hütte liegt, kommt Rettung…

Bei diesem Bilderbuch stimmt einfach alles: Die knappen Sätze mit eingeflochtener wörtlicher Rede sind schon für Dreijährige verständlich und die mit grobem Pinsel in leuchtenden Farben gemalten, ausdrucksstarken Bilder unterstützen den Text optimal.

Birger Koch: Wau sucht eine Frau. Bohem Press 2006
www.bohem.ch

Christopher Wilkins: Der Zeitmesser

Ohne Erinnerung kann es Zeit nicht geben

„Zeit ist Erinnerung. So einfach ist das. Ohne Erinnerung kann es Zeit nicht geben.“

Und eben dieses Erinnerungsvermögen geht der jungen Elisabeth verloren, als sie an Alzheimer erkrankt. Ihr Mann, der Mathematiker und Uhrmacher Robert Garrett, beschließt, ihr durch den Bau einer perfekten Uhr ein Denkmal zu setzen.

Christopher Wilkens verwebt in seinem ersten Roman die Liebes- und Krankheitsgeschichte mit einer Historie der Zeitmessung von den Uhren der Antike bis zur Atomuhr.

Ein spannender und interessanter Roman, der zudem durch seine gelungene Aufmachung besticht.

Christopher Wilkins: Der Zeitmesser. Rowohlt 2000
www.rowohlt.de

Simone van der Vlugt: Klassentreffen

 Gedächtnisverlust oder Verdrängung?

Die Niederländerin Simone van der Vlugt, ist bis 2006 nur als Autorin spannender und gut recherchierter historischer Jugendromane in Erscheinung getreten. 2006 ist mit Klassentreffen ihr erster Roman für Erwachsene und Jugendliche ab ca. 15 Jahren auf Deutsch erschienen, der es an Spannung mit jedem Thriller aufnehmen kann.

Die 23-jährige Sabine nimmt nach einem Burnout-Syndrom ihre Arbeit im Sekretariat einer Amsterdamer Großbank wieder auf. Ihre Psychologin hat sie dorthin zurückgeschickt, obwohl sie vermutet, dass der Zusammenbruch mit einem verdrängten Erlebnis aus früherer Zeit zusammenhängt, zu dem weder sie noch Sabine im Moment Zugang haben.

Bedingt durch verschiedene äußere Anlässe, wie das Mobbing im Büro, die Einladung zu einem Klassentreffen, die Begegnung mit einem Jugendfreund ihres Bruders und schließlich das Wiedersehen mit ihrer großen Jugendliebe lassen die Erinnerung an das vermeintlich Vergessene jedoch allmählich zurückkehren. Vor neun Jahren ist Sabines einst beste Freundin Isabel, die ihr zuletzt durch das Mobbing mit ihrer Clique das Leben zur Hölle gemacht hat, spurlos verschwunden. Langsam und puzzlehaft gelingt es Sabine, den Tag zu rekonstruieren und plötzlich weiß sie, dass sie damals einen Mord beobachtet hat …

Simone van der Vlugt: Klassentreffen. Diana 2007
www.randomhouse.de

Hanns-Josef Ortheil: Die geheimen Stunden der Nacht

Der Sohn des Patriarchen

Hanns-Josef Ortheil hat diesen Familienroman aus dem Jahr 2005 in der Branche angesiedelt, die er kennt wie kaum ein anderer: im deutschen Literaturbetrieb.

Der alte, hemdsärmlig und in Gutsherrenmanier regierende Patriarch Richard von Heuken, Herrscher über ein Verlagsimperium, hat seine drei Kinder Georg, Christoph und Ursula nie neben sich hochkommen lassen. Die Nachfolgeregelung ist offen und die drei sind vorläufig mit je einem Verlag als „Spielwiese“ abgespeist. Doch nun erleidet der Mann wie aus heiterem Himmel einen zweiten, lebensbedrohlichen Infarkt, und während er in kritischem Zustand auf der Intensivstation liegt, begleiten wir seinen ältesten Sohn Georg, 52 Jahre, auf der Spurensuche nach dem Vater, dem Kampf gegen seine Geschwister um die Leitung der Heukengruppe und seiner eigenen Neuorientierung. Er, der „Mann, dem man noch keine Gelegenheit gegeben hat, zu seiner Höchstform aufzulaufen“, versucht nun, die Kontrolle nicht nur über das Imperium, sondern auch über sein eigenes Leben zu bekommen und nichts aus seinem bisherigen Leben scheint mehr zu ihm zu passen: nicht sein Auto, nicht sein Haus und wahrscheinlich nicht einmal mehr seine Frau.

Hanns-Josef Ortheil zeichnet gleichzeitig das Porträt eines Mannes, der sich an einem Wendepunkt seines Lebens und auf der Suche nach einem eigenen Profil befindet, und einer Branche, in der die alten, im wahrsten Sinne des Wortes kriegserfahrenen Haudegen allmählich von Bord gehen.

Ein sehr unterhaltsamer Roman, der interessante Einblicke in die Buchbranche gibt und bei dem mir die Schilderung einer Lektorenkonferenz mit Vorschauplanung besonders gut gefallen hat. Etwas weniger gelungen fand ich dagegen die Schlusspointe.

Hanns-Josef Ortheil: Die geheimen Stunden der Nacht. btb 2007
www.randomhouse.de

Michael Petrowitz & Patrick Wirbeleit: Besuch aus dem Weltraum

Wo ist Dussel?

Es ist schwierig, Bücher für Erstleser zu finden, deren Geschichte wirklich begeistern kann. Zu kurz sind die Texte, zu eingeschränkt das Vokabular. Bisher fand ich die Erstleserbücher aus dem Tulipan Verlag besonders ansprechend, aber mit Michael Petrowitz’ Besuch aus dem Weltraum gibt es auch in der Leserabe-Reihe von Ravensburger einen ausgesprochen originellen, fetzigen, spannenden und von Patrick Wirbeleit witzig illustrierten Titel für die zweite Lesestufe, den begabte Leser allerdings ab dem zweiten Halbjahr von Klasse eins bewältigen können. Besonders schön finde ich, dass ein Junge im Mittelpunkt steht, denn gute Bücher für Jungs sind leider selten, und mit dieser Konstellation kann man Jungs und Mädchen ansprechen.

Die Ausgangssituation dürfte vielen Kindern vertraut sein: Niko hat Ferien, aber alle Freunde sind verreist und er langweilt sich schrecklich. Doch Rettung kommt buchstäblich von oben, denn der kleine Hieronymo landet mit seinem Ufo direkt vor seiner Nase. Er ist auf der Suche nach seinem Weltraumhund. Während die beiden Kinder gemeinsam nach dem verschwundenen Dussel suchen, wird immer klarer, dass es sich dabei mitnichten um einen gewöhnlichen Hund handelt: Dussel hinterlässt die Fußabdrücke einer Ente, hat gelbe Federn mit blauen Punkten, macht sich über fremde Eisbecher her und pinkelt grün. Ihrer nervenaufreibenden Suche schließen sich mit Jule und Collin zwei weitere Kinder an, und als Hieronymo schließlich samt dem witzigen Weltraumhund Dussel wieder in sein Ufo steigt, hat Niko nicht nur ein unglaubliches Abenteuer erlebt, sondern auch noch zwei neue Spielkameraden gefunden.

Ergänzt wird die in großer Schrift gedruckte Geschichte mit kurzen Kapiteln und Zeilen durch fantasieanregende Fragen und kreative Leseraben-Leserätsel mit Lösungen.

Ein wirklich sehr empfehlenswertes Erstleserbuch!

Michael Petrowitz & Patrick Wirbeleit: Besuch aus dem Weltraum. Ravensburger Buchverlag 2015
www.ravensburger.de

Erich Kästner: Interview mit dem Weihnachtsmann

Nicht nur zur Weihnachtszeit…

29 frühe Kästnergeschichten und -gedichte, fast alle Zeitungs- und Zeitschriftenbeiträge aus den 1920er-Jahren, sind in diesem hübsch gemachten Bändchen abgedruckt. Da gibt es Weihnachtliches zum Schmunzeln, wie die Geschichte vom diebischen Weihnachtsmann, oder die Anekdote über ein Geschenk für die Erbtante mit fatalen Folgen, oder Rührendes, wie die Geschichte von einem jungen Paar, das sich aus Geldmangel eigentlich nichts zu Weihnachten schenken will. Den größeren Teil machen jedoch Erzählulngen zu allgemeinen Themen aus, wie zum Beispiel Der Musterknabe, die von einem Jungen handelt, der seiner schwer arbeitenden Mutter immer nur Freude macht, bis er eines Tages nicht mehr kann und ausbricht.

Viele der Geschichten sind, wie so oft bei Kästner, autobiografisch beeinflusst. Oft stehen Kinder im Mittelpunkt, ohne dass sie für Kinder bestimmt sind.

Eine empfehlenswerte Lektüre, auch wenn es nicht das beste Buch von Erich Kästner ist.

Erich Kästner: Interview mit dem Weihnachtsmann. Sanssouci 2009
www.hanser-literaturverlage.de