Stephanie Bishop: Der Jahrestag

  Tragödie auf hoher See

Nicht jede Wahrheit kann fiktional erfasst werden, aber ich weiß, dass ich mir selbst gegenüber ehrlicher bin, wenn ich einen fiktionalen Text schreibe, als wenn ich vorgebe, die Wahrheit zu sagen. (S. 423)

Eine Kreuzfahrt zum 14. Hochzeitstag soll die Ehe der erfolgreichen Schriftstellerin Lucie, Künstlername J.B. Blackwood, und dem bekannten Filmregisseur Patrick Heller retten. Was an einer australischen Universität als Beziehung zwischen einer 24-jährigen Studentin und ihrem allseits verehrten, charismatischen britischen Dozenten begann und jahrelang ihrer beider Arbeit bestens befruchtete, endet nahe der russischen Halbinsel Kamtschatka mit einer Tragödie. Was geschah während des Sturms an Deck der „Adventure of the Seas“ wirklich und wie konnte es dazu kommen?

Jegliche Einschätzung dessen, was zeitgleich geschieht, wird durch das, was davor geschah, kontextualisiert. (S. 326)

Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Buchcover: © dtv

Wahrheit und Fiktion
Zur Beantwortung dieser Fragen sind die Leserinnen und Leser ausschließlich auf Lucies Bericht angewiesen, in deren Kopf wir uns über die gesamten 461 Seiten des Romans befinden. Er erweist sich schnell als ebenso fragwürdig wie absichtsvoll. Die australische Autorin und Literaturwissenschaftlerin Sarah Bishop, die im britischen Norwich lebt und dort kreatives Schreiben unterrichtet, liefert uns einer durch und durch unzuverlässigen Erzählerin aus, bei der Wahrheit und Fiktion ein undurchdringliches Dickicht bilden. Immer wieder erzählt Lucie Episoden auf unterschiedliche Art und Weise, flüchtet mit ihrer diffusen Erzählstimme in kleinteilige Details, um vom Wesentlichen abzulenken, und streut selbst Zweifel an ihrem Erinnerungsvermögen und an ihrer Glaubwürdigkeit, wie hier bei der Vernehmung durch die japanische Polizei:

Ich konnte ihnen nicht sagen, dass ich nur allzu oft meine eigene Version des Erlebten in Zweifel ziehe. (S. 47)

Ungleiche Machtdynamik
Der Jahrestag kein Krimi, wie man vielleicht vermuten könnte. Eher handelt es sich um einen Ehe- und Künstlerroman, der das Machtgefälle in einer Beziehung thematisiert, in der der männliche Teil wesentlich älter und bereits erfolgreich ist, während die weibliche Karriere erst beginnt. Die scharfsinnigen, bisweilen von subtilem Humor grundierten Überlegungen zu patriarchalen Strukturen in Ehe und Literaturbetrieb und zur Frage, wieviel autobiografisches Schreiben und weiblichen Erfolg eine Ehe verträgt, sowie zu den Unterschieden zwischen Literatur und Film sind das Plus des Romans.

Opfer oder nicht?
Allerdings hat mich weder der Plot noch die Protagonistin überzeugt, die für mich als Figur nicht schlüssig ist. Nie hatte ich ein Bild von ihr vor Augen, genausowenig wie von ihrem Roman, der im Buch eine entscheidende Rolle spielt, selten gelang es mir, äußere Geschehnisse und Erzählinhalt zusammenzubringen. Weder die Opferrolle noch die ständig betonte Schwäche oder die Klagen über Fremdbestimmung habe ich ihr geglaubt. Im Gegenteil hat mich das Fehlen jeglicher Selbstkritik, die permanenten Anklagen und die Ungereimtheiten, wenngleich beabsichtigt, zunehmend ermüdet. Bei einigen Details habe ich mich gefragt, was unzuverlässige Erzählstimme und was mangelnde Recherche der Autorin ist.

Interessant sind dagegen die vielen Schauplätze auf verschiedenen Kontinenten von Großbritannien über Japan, die USA und Australien, die gut zu Lucies Atemlosigkeit passen. Erst auf den letzten Seiten ändert sich der Erzählton, passend zu ihrer neuen Situation, was für mich allerdings die Frage nach der Erzählzeit des Hauptteils aufwirft.

Der Jahrestag ist die perfekte Lektüre für alle, die beim Lesen gerne rätseln. Mir waren es einige Rätsel und Ungereimtheiten zuviel.

Stephanie Bishop: Der Jahrestag. Aus dem Englischen von Kathrin Razum. dtv 2023
www.dtv.de

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