Was bleibt
Zu ihrem 150. Geburtstag beschenkt der Verlag Manesse die amerikanische Autorin Willa Cather (1873 – 1947) und sein Publikum mit einer wunderschönen Neuausgabe ihres elften Romans Lucy Gayheart im bekannt kleinen Format mit bunter Fadenheftung und Lesebändchen. Über 60 Jahre alt und bereits mit dem Pulitzer-Preis dekoriert war die Autorin 1935 beim Erscheinen ihres vorletzten Romans, mehr als dreimal so alt wie ihre Protagonistin.
Erinnerungen
Bereits zu Beginn erfahren wir, dass Lucy Gayheart für die Bewohnerinnen und Bewohner ihres fiktiven Heimatstädtchens Haverford, Nebraska, nur noch als schöne Erinnerung weiterlebt. Gerne denken sie an den Wirbelwind zurück, der unbekümmert, heiter, charmant, voller Romantik war. Im Winter liebte sie das Schlittschuhlaufen auf dem zugefrorenen Platte River, eine Vorliebe, die so gut zu ihrem Wesen passte wie das Schaukeln zu Theodor Fontanes Effi Briest. Gelegentlich schloss sich ihr der acht Jahre ältere, vermögende Kleinstadtbankier Harry Gordon an, ein junger Mann, der eine bessere Partie hätte machen können, doch wie alle Haverforder dem Zauber Lucys seit langem erlegen war und allgemein als ihr zukünftiger Ehemann galt.
Eine Begegnung, die alles verändert
In den Weihnachtferien 1901 war Lucy, die inzwischen im entfernten Chicago Klavier studierte und Musikunterricht erteilte, zurück in Haverford. Ungezwungen, fast noch kindlich glitt sie mit Harry über den zugefrorenen Fluss, aber etwas hatte sich verändert. Nun freute sie sich mehr als sonst auf die Rückkehr in die Großstadt, nicht nur wegen ihres eigenen Zimmers, dank dem sie „frei wie ein junger Mann kommen und gehen“ (S. 32/33) konnte, sondern auch wegen eines Vorstellungstermins beim bekannten Bariton Clement Sebastian, der eine Klavierbegleitung für seine Übungsstunden suchte. Ein Besuch seines Konzertes im letzten Herbst hatte sie spontan für diesen knapp fünfzigjährigen, verheirateten Künstler entflammt, überwältigt von seiner ausdrucksstarken Vortragsweise des Schubert‘schen Liedguts und seiner schwermütigen Ausstrahlung. Verändert kehrte sie an diesem Abend in ihr Zimmer zurück:
Vom ersten Tag an war sie in Chicago glücklich gewesen und hatte sich für vom Schicksal begünstigt gehalten, weil sie aus ihrem kleinen Heimatort in die große Stadt hatte fliehen können […]. Aber jene Zeiten lagen weit zurück. An dem Abend, als sie zum ersten Mal Clement Sebastian gehört hatte, begann für sie ein neues Leben. Zuvor hatte sie nur mit Nichtigkeiten und Träumereien herumgespielt. (S. 113/114)
Von nun an hing Lucys Glückseligkeit von der Anwesenheit dieses Mannes in der Stadt ab, pendelnd zwischen Hoffen und Bangen. Über ein Jahr – bis zur Weihnachtszeit 1902 – folgt man lesend und bangend ihrem Schicksal in Chicago und Haverford und schließlich, im dritten Teil des Romans, den Gedanken des nachdenklichen, veränderten Harry Gordon von 1927, die das Buch äußerst gekonnt abrunden.
Fußspuren
Begeistert und ergriffen habe ich diesen modernen, überhaupt nicht verstaubten Klassiker über drei Menschen mit völlig unterschiedlicher Beziehung zur Zeit gelesen. Während Sebastian der Vergangenheit nachhängt, träumt Lucy von der Zukunft und will Harry die Gegenwart beherrschen. Obwohl von zarter Melancholie durchzogen, ist es dank Willa Cathers überragender Erzählkunst kein trauriges Buch. Mit wunderbaren Bildern aus der Musik und der Natur Nebraskas, in denen sich die Stimmungen und das Gefühlsleben der Haupt- und Nebenfiguren spiegeln, erzählt sie völlig ohne Kitsch eine zu Herzen gehende Geschichte über hochfliegende Träume. Sie wird die Zeit ebenso überdauern wie die sorgsam von Harry gehüteten Fußabdrücke der übermütigen Dreizehnjährigen im noch nicht festen Beton vor ihrem Haus.
Willa Cather: Lucy Gayheart. Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Elisabeth Schnack. Für die Neuausgabe durchgesehen von Susann Ostwald. Nachwort von Alexa Hennig von Lange. Manesse Verlag 2023
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