Uwe Timm: Alle meine Geister

  Handwerk und Schreiben

Der die Existenz bestimmende Zufall bringt die Freiheit der Wahl mit sich, jemand, der ein gutes Blatt bekommen hat, kann ein schlechtes Spiel machen und verlieren, ein anderer mit schlechten Karten macht ein gutes, überlegtes Spiel und gewinnt. (S. 164)

Ein Buch des 1940 in Hamburg geborenen Uwe Timm zur Hand zu nehmen, heißt für mich, mit den ersten Sätzen in der Lektüre anzukommen. Besonders gilt das für seine Erinnerungsbücher. Alle meine Geister reiht sich zeitlich nach Am Beispiel meines Bruders (2003) ein, in dem Uwe Timm auf höchst ergreifende Weise dem Schicksal seines 1943 gefallenen Bruders nachspürt und der Frage, warum der sich als 18-Jähriger freiwillig zur Waffen-SS meldete. Am Ende von Alle meine Geister steht der Aufbruch aus der Enge Hamburgs ans Braunschweig-Kolleg, wo Uwe Timm sich ab 1961 zusammen mit Benno Ohnesorg auf sein Abitur vorbereitete, Stoff von Der Freund und der Fremde (2005).

Foto: © B. Busch. Buchcover: © Kiepenheuer & Witsch

Kein Wunschberuf
Den Beruf des Kürschners hatte sich Uwe Timm nicht ausgesucht, genauso wenig wie sein Vater, dessen Einstieg in die Selbstständigkeit im Pelzgeschäft der Fund einer Pelznähmaschine im Nachkriegs-Hamburg war. Nun wurde der Sohn, der einer Rechtschreibschwäche wegen nach väterlicher Ansicht nicht zum Abitur taugte, als knapp Fünfzehnjähriger beim soliden Hamburger Pelz- und Modehaus Levermann in die Lehre geschickt – als Nachfolger für Pelze Timm.

Prägende Jahre verbrachte der junge Uwe Timm in der streng hierarchisch geprägten Werkstatt nahe dem Rathaus, lernte die heute nahezu vergessenen Fertigkeiten, das Vokabular und die jahrhundertealten Geheimnisse der Kürschnerei, hörte die Geschichten der Meister, Gesellen, Näherinnen und Kundinnen von Krieg, Heldentum, Flucht und Vertreibung, aber auch vom Jazz und von Amerika. Heimlich frönte er im Sortierzimmer dem „zufällige[n], anarchistisch[en] Lesen“ (S. 272) von Roald Amundsen über Salinger, Benn, Dostojewski, Tostoi und Schopenhauer bis Brecht, Camus, Bachmann und Heißenbüttel. Der SS-Staat von Eugen Kogon, entliehen vom Meister Walther Kruse, befeuerte den Dauerkonflikt mit dem Vater über das Schweigen im Nationalsozialismus. Der frühe Tod des Vaters 1958 kurz nach der mit Auszeichnung bestandener Gesellenprüfung des Sohnes beendete nach drei Monaten dessen Besuch des Abendgymnasiums. Obwohl er Pelze Timm bis 1960 in die schwarzen Zahlen zurückführte, übergab Uwe Timm das Geschäft an seine Mutter, um ab 1961 in Braunschweig die Voraussetzungen für ein Studium und die erträumte Schriftstellerlaufbahn zu schaffen.

Foto und Collage: © B. Busch. Buchcover: © Kiepenheuer & Witsch

Die Möglichkeit des Gelingens
Ich habe auch dieses dritte Erinnerungsbuch von Uwe Timm mit Freude und Begeisterung gelesen und ihm beim Staunen über Erinnern und Vergessen über die Schulter geblickt:

Wie eigentümlich sich Details, ohne ihre tiefere Bedeutung zu verraten, in unsere Erinnerung beharrlich gegen das Vergessen verkapseln. (S. 123)

Alle meine Geister ist eine Hommage an eine, durch veränderte Umstände auch in den Augen des Autors glücklicherweise untergegangene Handwerkstradition, eine Sammlung von Anekdoten und empathisch gezeichneten Porträts, Nachkriegsgeschichte, Entwicklungs- und Bildungsroman und vor allem Zeugnis der Faszination für gute Literatur:

Das Erstaunliche ist, dass diese hohe Perfektion nicht entmutigt, sondern ein Versprechen auf die Möglichkeit des Gelingens gibt… (S. 177)

Mit den als Kürschner erlernten Fähigkeiten des sorgfältigen Sortierens und ästhetischen Anordnens hat Uwe Timm hier ein exakt solch gelungenes Stück Literatur geschaffen.

Interview und Lesung mit Uwe Timm am 10.11.2023 im Literaturhaus Stuttgart. Moderation: Olaf Petersen, ehemaliger Lektor von Uwe Timm. © M. Busch

Uwe Timm: Alle meine Geister. Kiepenheuer & Witsch 2023
www.kiwi-verlag.de

 

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