Szczepan Twardoch: Kälte

  Der Zweck heiligt auch im Roman nicht alle Mittel

Der 1978 in Oberschlesien geborene, vielfach ausgezeichnete Schriftsteller Szczepan Twardoch gehört zur Minderheit der Schlesier. Er engagiert sich mit Spendenaufrufen und eigenhändigen Lieferungen von militärischem Material im Angriffskrieg Russlands für die Ukraine und befürwortet das Eingreifen der NATO. Im Lichte der polnischen Angst vor Einflussnahme und Bedrohung durch Russland ist Twardochs 2022 in Polen und nun in deutscher Übersetzung von Olaf Kühl erschienener Roman Kälte zu lesen. Am Beispiel des Schlesiers Konrad Widuch stellt der Roman die Frage, wie lange man angesichts seiner Taten noch als Mensch gelten kann, und warnt vor der allgegenwärtigen Bedrohung durch Russland:

Denn wenn Russland kommt, dann so, dass hier von eurem Leben nichts mehr bleibt. (S. 384)

Die Notizbücher des Konrad Widuch
Nicht der übliche Dachbodenfund von Briefen und Dokumenten spielt dem in der Rahmenhandlung selbst auftretenden Autor zwei umfangreiche Notizbücher in die Hände. Während einer Auszeit auf Spitzbergen lernt Szczepan die 83-jährige Norwegerin Borghild Moen kennen, die ihn nicht nur auf ihrer Yacht Isbjørn mitnimmt, sondern ihm auch die Aufzeichnungen überlässt.

Diese beginnen im Juni 1946 und handeln von Widuchs liebloser Kindheit in Schlesien, von seinem Weggang mit 14 Jahren, von der Arbeit im Bergwerk, zunächst in Schlesien, dann an der Ruhr, von früher Neigung zur Gewalt und Begegnung mit dem Sozialismus, von der Teilnahme am Ersten Weltkrieg bei der Marine und am Kieler Matrosenaufstand Ende 1918. Zunehmend radikalisiert folgte Widuch 1920 dem Trotzkisten Karl Radek (1885 – 1939) nach Russland, wo er als bolschewistischer Politoffizier beim grausamen großen Marsch der Reiterarmee vom Kaukasus in die Ukraine dabei war. Zusammen mit seiner noch radikaleren Frau Sofie überstand er die Stalinschen Säuberungen zunächst in Murmansk, kam nach deren Flucht mit den beiden Töchter jedoch als politischer Gefangener in einen sibirischen Gulag. Nach einem abenteuerlichen Ausbruch fand Widuch zusammen mit der ebenfalls entflohenen Kriminellen Ljubow Aufnahme bei einem sibirischen Wildvolk in Cholod, einer 30 Gehöfte umfassenden Siedlung in der Taiga, bis auch dort Russen auftauchten.

Brutal, vulgär und teilweise langatmig
So thematisch interessant dieser Ritt durch die ersten 50 Jahre des 20. Jahrhunderts ist, so wenig konnte mich Szczepan Twardoch mit seinem Schreibstil gewinnen. Von Beginn an widerten mich vor allem die jeden Rahmen sprengenden Darstellungen exzessiver Brutalitält und das penetrant eingestreute obszöne Vokabular an, eingebaut in wohlgeformte Sätze und Beschreibungen, die so gar nicht zum intelligenten, jedoch wenig gebildeten Protagonisten passen. Ab der Mitte kamen zur unsäglichen Gewalt und den ekelerregenden Sexszenen enervierend langatmige Ausführungen über das fiktive Naturvolk. Mit der Landung des Aeroplans zweier russischer Wissenschaftler eröffnete sich zwar die Bühne für Widuchs anti-russische Brandrede, letztlich sprengten zunächst jedoch nicht die Russen, sondern die beiden Flüchtlinge die Gemeinschaft und wurden ihrer Gastfamilie zum Verhängnis.

Die Notizbücher richten sich an eine „fiktive Leserin“, an die Widuch nicht glaubt, die er aber im letzten Teil als „elende Schlampe“, „Hündin“ und „Nutte“ beschimpft. Nicht nur dazu blieb mir der intellektuelle Zugang verwehrt, verärgert hat es mich dennoch.

Nicht mein Roman
Mag sein, dass ich auch deshalb keinen Zugang zu Kälte fand, weil ich Abenteuergeschichten nur selten und Schelmenromane generell nicht mag. Definitiv lag es nicht am geschichtlichen Hintergrund und der politischen Aussage, weswegen ich einem Sachbuch des Autors jederzeit eine Chance geben würde, einem weiteren Roman keinesfalls.

Kälte endet zwischen Wahnsinn und Nebel. Für die grausigen Bilder in meinem Kopf erhoffe ich letzteres.

Szczepan Twardoch: Kälte. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Rowohlt 2024
www.rowohlt.de

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