Lange Schatten
Bis zur Einführung der Invalidenversicherung, dem Ausbau der Alters- und Hinterlassenenversicherung sowie der obligatorischen Arbeitslosenversicherung in den 1960er- und 1970er-Jahren war die soziale Absicherung in der Schweiz überwiegend außerstaatlich organisiert: in den Familien, Kirchen, Firmen oder Gewerkschaften. Eines der dunkelsten Kapitel in der neueren Schweizer Geschichte ist auf diese fehlende Sozialstaatlichkeit zurückzuführen und dauerte von 1800 bis in die 1960er-Jahre: die behördlich angeordnete Fremdunterbringung von Kindern, das sogenannte Verdingwesen.
Das Verdingkind
Auch die Großmutter väterlicherseits des 1944 geborenen Schweizer Autors Lukas Hartmann erlitt das Schicksal eines Verdingkinds. Nachdem ihr Vater durch einen Arbeitsunfall zum Pflegefall geworden war, konnte die Mutter zunächst die Verdingung ihrer sechs Kinder abwenden. Nach dessen Tod jedoch wurden sie rasch auf verschiedene Pflegefamilien im Berner Umland aufgeteilt, auch die Zweitjüngste, die erst achtjährige Martha:
Die Kinder müssen mitgehen, auch wenn sie die Leute nicht kennen, denn darunter sind solche aus anderen Dörfern, aber nur Männer. Die Kinder werden verdingt, auch das ist ein neues Wort für Martha. Später wird sie denken, dass das Wort ja stimmt, sie sind zu Dingen geworden. (S. 17)
Martha kommt zur Bauernfamilie Bürgi, gläubige „Stündeler“ aus einer evangelischen Gemeinschaft. Obwohl sie im Gegensatz zu vielen anderen Verdingkindern weder körperlichen noch sexuellen Missbrauch erfährt, muss sie doch hart arbeiten, leidet als letzte am Tisch unter Hunger, erfährt keinerlei Zuwendung und bleibt eine Fremde.
Alles opfern für den Aufstieg
Wäre Martha und die Ihren ein leichter Unterhaltungsroman, aus dem um seine Kindheit betrogenen, entwurzelten Verdingkind würde eine liebende Ehefrau und Mutter, die ihrer Familie die Wärme und Geborgenheit schenkt, die sie selbst so schmerzlich vermisst hat. Stattdessen macht das Schicksal aus ihr jedoch eine zähe, harte und dominante Frau, die weder Nähe noch Schwäche zulassen kann, und der kein glückliches Leben beschieden ist. Nach dem Tod ihres ersten Ehemanns, eines kränkelnden Schusters, für den sie heimlich die Werkstatt führte, steht sie mit den beiden ihr fremdgebliebenen Söhnen erneut vor dem Nichts. Selbst als sie durch das Milchgeschäft ihres zweiten Ehemanns und mit dem von ihm ererbten Haus bescheidenen Wohlstand erlangt, kommt sie nicht zur Ruhe.
Marthas Dämonen gehen über auf ihren älteren Sohn Toni, der wie sie nur für die Arbeit und den sozialen Aufstieg seiner Familie lebt und daran zugrunde geht. Gegen seine Strenge, sein kleinbürgerliches Leben und die patriarchalisch geprägte Ehe lehnt sich sein ältester Sohn Bastian auf, hinter dem sich der Autor versteckt.
Bewegung durch Öffnung
Erst mit dem Abstand der Enkelgeneration gerät etwas in Bewegung: Angeregt durch die bruchstückhaften Erzählungen seiner Großmutter im Altersheim beginnt Bastian, Martha und die Folgen ihres Traumas auf ihre Nachfahren zu verstehen – als Voraussetzung für die eigene Gesundung.
Chronologisch, mit viel psychologischem Gespür und einem mit seiner knappen Nüchternheit hervorragend zu den Figuren passenden Stil erzählt Lukas Hartmann über drei Generationen und die langen Schatten der Vergangenheit. Besonders gut gefallen hat mir, dass er mit viel Wärme, besonders für die weiblichen Familienmitglieder, erklärt, anstatt zu werten oder gar anzuklagen. Es gelingt Lukas Hartmann hervorragend, Denkprozesse über die eigene Familie aus veränderter Blickrichtung in Gang zu setzen, damit wir im besten Falle verstehen, warum wir so geworden sind, wie wir sind. Was kann man mehr verlangen von Literatur?
Lukas Hartmann: Martha und die Ihren. Diogenes 2024
www.diogenes.ch