Lina Nordquist: Mein Herz ist eine Krähe

  Endloses Elend

Seit 2016 stellt die Redaktion des schwedischen Bonniers Buchklub eine Liste mit zwölf schwedischen oder ins Schwedische übersetzten Titeln von hoher sprachlicher Qualität zusammen, die sich für ein breites „Årets bok„. Zwei der Siegertitel habe ich mit großer Freude gelesen: 2017 erhielt Alex Schulman den Preis für Glöm mig, 2021 Ann-Helén Laestadius für Stöld, in deutscher Übersetzung Das Leuchten der Rentiere. Meine Erwartungen waren daher beim Gewinnertitel von 2022 Dit du går, följer jag, dem Debüt der 1977 geborenen Physiologie-Professorin und schwedischen Parlamentsabgeordneten Lina Nordquist, im Diogenes Verlag als Mein Herz ist eine Krähe erschienen, hoch.

Zwei Frauenleben
Unni und Kåra, die sich kapitelweise als Ich-Erzählerinnen abwechseln, stehen im Mittelpunkt des Romans. Obwohl sie sich nie begegnen, sind ihre Schicksale eng miteinander verbunden. Beiden droht aus unterschiedlichen Gründen die Zwangseinweisung in eine Irrenanstalt, beide leben, allerdings zu unterschiedlichen Zeiten, in derselben Bauernkate in Hälsingland, die sie schließlich verlassen, und beide lieben, wenn auch auf unterschiedliche Weise, den selben Mann: Roar. Er ist der dritte, leider jedoch stumme Protagonist.

Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Buchcover: © Diogenes

Unni
1897 muss Unni, die wegen ihrer Heilkunde von der Kirche und der Justiz verfolgt wird, aus dem norwegischen Trondheim fliehen. Zusammen mit ihrem einjährigen unehelichen Sohn Roar und ihrem Geliebten Armod wandert sie bis ins schwedische Hälsingland. Dort beziehen sie eine leerstehende Bauernkate auf einer sonnigen Waldlichtung, die sie „Frieden“ nennen, doch der kehrt nicht ein. Erdrückende Schulden beim Waldbauern, Wetterkapriolen, schwierige Böden, furchtbare Hungerperioden, Elend, Tod und unvorstellbare Gewalt lassen Unni oft verzweifeln, „Herbstbangen“, „Winterdarben“ und „Frühlingshunger“ (S. 136) wechseln sich in Endlosschleife ab:

Es nahm kein Ende. (S. 319)

Kåra
Über 70 Jahre später bereiten Roars Schwiegertochter Kåra und dessen Witwe
Bricken seine Beerdigung vor. Kåra, psychisch krank seit Kindertagen, inzwischen verwitwet, hat einst geheiratet, um der Einweisung in eine Anstalt zu entgehen. Sie ist abhängig von Psychopharmaka, angstgestört, missmutig und selbstmitleidig, verabscheut die freundliche Schwiegermutter, geht bei Menschen wie Tieren über Leichen und streut wiederholt Zweifel an der Zuverlässigkeit ihrer Erzählung. Was also ist wahr an ihrer angeblichen Liebesbeziehung mit Roar?

Ein zwiespältiges Fazit
Legt man die Kriterien für das „Årets bok“ zugrunde, so erfüllt Mein Herz ist eine Krähe die sprachlichen Anforderung klar. Lina Nordquist beschreibt die ebenso atemberaubend schöne wie lebensbedrohliche Natur, Stimmungen und Licht poetisch, bildstark und lebendig. Auch die Schilderung der existentiellen Nöte Unnis hat mir, bevor sie in der zweiten Romanhälfte zu gehäuft und zu detailliert brutal wurde, gefallen. Bei den Wendungen der beiden Erzählstränge, beim Übermaß an Dramatik, bei der Logik, der klischeehaften, statischen Charakterzeichnung und beim Plot hat der Roman jedoch für mich ernüchternde Schwächen und die zweite Hälfte fällt deutlich gegen die erste ab. Selbst wenn man über diverse Zufälle hinwegsieht, handeln die Figuren an entscheidenden Stellen weder zu ihren körperlichen Möglichkeiten noch zu ihrer charakterlichen Beschreibung passend. Schade, denn mit dem Interesse von Lina Nordquist an sozialen und gesundheitspolitischen Fragen und am Schicksal stigmatisierter Frauen früher und heute wäre mehr möglich gewesen. Dafür hätte es allerdings mehr Tiefe, Subtilität und Glaubwürdigkeit, dafür weniger Effekthascherei und Holzhammer gebraucht.

Lina Nordquist: Mein Herz ist eine Krähe. Aus dem Schwedischen von Stefan Pluschkat. Diogenes 2023
www.diogenes.ch

 

Weitere Rezensionen zu Romanen, die in Schweden als „Årets bok“ ausgezeichnet wurden:

2017
2021

 

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