Das tragisch-komische Leben der Geschwister Popper
Irgendwie sind sie alle verkorkst, die drei jüdisch-säkularen Geschwister Popper aus Paris. Aus Serge, mit 60 Jahren der Älteste und an Führerschaft gewöhnt, ist ein „König der nebulösen Unternehmungen“ und Aufschneider geworden, ein Egozentriker und Besserwisser, dessen Beziehungen regelmäßig scheitern. Jean, der mittlere Bruder und Ich-Erzähler mit teils auktorialem Wissen, für den sich der Vater nie interessierte, ist ein Zauderer, Beobachter und „Würstchen“ und fürchtet, das wahre Leben verpasst zu haben. Er schreckt vor einer dauerhaften Partnerschaft zurück, kümmert sich aber einfühlsam um den entwicklungsverzögerten Sohn seiner Ex-Partnerin. Die Jüngste ist Anne, genannt Nana, einstiger Liebling der Eltern, deren intakte Ehe mit einem Spanier in der Familie als Mesalliance gilt und belacht wird. Sie sucht ihr Glück in ihrer Familie und in der Wohltätigkeit.
Ein Tod zu Beginn
Jahre nach ihrem Mann Edgar Popper stirbt zu Beginn des Romans die Mutter Marta:
Diese Kuddelmuddelkiste, unsere Familie, die hast du geschaukelt, Omi, sagte meine Nichte Margot auf dem Friedhof. (S. 13)
Als Jüdin mit ungarischen Wurzeln verlor sie ihre Familie in Auschwitz, wehrte sich aber lebenslang gegen eine Opferrolle. Legendär für die drei Geschwister sind die erbitterten Streitereien der Eltern über das Thema Israel, das der Mutter regelmäßig den Vorwurf des Antisemitismus eintrug. Über Vergangenes wurde kaum gesprochen, die Kinder fragten nicht nach und nun ist es zu spät.
Von Serges Tochter Joséphine, einem „Sprössling in der Identitätskrise“, stammt der Vorschlag zu einer Auschwitzreise. Ohne wirkliche Motivation, ohne gemeinsame Vorstellung vom Umgang mit dem Gedenken und mit viel zu vielen eigenen Problemen im Gepäck wird der Familienausflug nach Auschwitz zum Fiasko:
Wir gehen über einen Weg, der zu keiner Zeit gehört. Und wir selbst haben keine Ahnung, was uns hierhergeführt hat. (S. 116)
Schwieriges Erinnern
Es wird viel gestorben in diesem Roman und mit der alten Generation gehen Erinnerungen an den Holocaust verloren. Braucht es deshalb Gedenkorte wie Auschwitz? Oder verkommt die Erinnerung dort zur Touristenattraktion, also quasi zu einem Disneyland des Gedenkens? 2,3 Millionen Besucherinnen und Besucher verzeichnete das Museum Auschwitz-Birkenau 2019, ein Grund zur Freude? Die 1959 geborene jüdisch-französische Autorin Yasmina Reza zweifelt, indem sie die Geschwister Popper orientierungslos durch das KZ stolpern lässt, die Berechtigung solcher Orte und die gängigen Bewältigungsstrategien an:
Von der Erinnerung ist nichts zu erwarten. Dieser Fetischismus der Erinnerung ist bloßer Schein. (S. 106)
Gute Unterhaltung und wertvoller Denkanstoß
Was den Roman Serge für mich so lesenswert macht, ist die gelungene Verbindung aus Komik und Tragik, die bühnenreifen, temporeichen, teils skurrilen, teils bitteren, teils urkomischen Dialoge bei melancholischer Grundstimmung, und die sehr kreativen Wortschöpfungen in der deutschen Übersetzung von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Obwohl nicht unbedingt sympathisch, habe ich sehr gerne über die Geschwister Popper gelesen, die bei allen Differenzen doch nicht voneinander loskommen, eine gemeinsame Geschichte teilen und im Ernstfall füreinander da sind. Die Mischung aus unterhaltsamen, völlig alltäglichen, aber nie banalen Episoden und tiefgreifenden Fragen nach der „richtigen“ Erinnerungskultur für die Zeit nach dem Tod der Augenzeugen ist Yazmina Reza vorzüglich gelungen. Obwohl ich ihre Ansichten nach meinem Besuch im würdigen, stillen KZ Ravensbrück nicht pauschal teile, hat mich der Roman zu Fragen geführt, die ich mir vorher so noch nie gestellt hatte.
Yasmina Reza: Serge. Aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Hanser 2022
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