Michael Köhlmeier: Das Mädchen mit dem Fingerhut

Bittere Kinderschicksale

Das Mädchen mit dem Fingerhut macht bereits die Zuordnung zu einer literarischen Gattung schwer: ein kurzer Roman, eine Novelle, ein Märchen?

In Michael Köhlmeier neuestem Werk begleiten wir ein sechsjähriges, offensichtlich elternloses Mädchen, vielleicht ein unbegleitetes Flüchtlingskind, durch irgendeine Stadt in Westeuropa, vielleicht sogar zwei verschiedene. Zu Beginn hat es noch einen „Onkel“, der es jeden Morgen auf dem Markt absetzt und abends wieder abholt, doch eines Tages ist er verschwunden. Das Mädchen, das die Landessprache nicht spricht und so zur Sprachlosigkeit verurteilt ist, irrt durch die Stadt, wird in ein Heim gebracht und büxt von dort mit zwei älteren Jungen aus, von denen immerhin einer ihre Sprache spricht. Die Odyssee der drei Kinder ist ein nackter Kampf ums Überleben, gezeichnet von Hunger, Kälte, Krankheit, Regen, Schnee und Armut – direkt unter den Augen einer wohlhabenden Großstadtbevölkerung. Doch sobald die Kinder den Kopf gesenkt halten, sieht man durch sie hindurch. Dabei hat die Kleine, die nach einiger Zeit behauptet, Yiza zu heißen, noch einen Vorteil durch ihre Kindlichkeit und das hübsche, niedliche Aussehen. Man schenkt ihr einen Mantel, Handschuhe, eine Mütze, doch tragen das so ungleich verteilte Mitleid und die Hilfsbereitschaft stets Anzeichen von Egoismus des Gebenden und sind unweigerlich verbunden mit dem Verlust ihrer Freiheit.

Der auktoriale Erzähler bedient sich, passend zur Sprachlosigkeit der Kinder, eines einfachen Satzbaus, doch ist auch in dieser Beschränkung die Brillanz des Autors spürbar.

Die bittere Geschichte über Kinderschicksale ohne Perspektive hält uns einen Spiegel vor, ruft zum genaueren Hinschauen auf und lässt mich doch auch ratlos zurück.

Michael Köhlmeier: Das Mädchen mit dem Fingerhut. Hanser 2016
www.hanser-literaturverlage.de

Uwe Timm & Axel Scheffler: Die Zugmaus

Ein Mäuserich reist durch Europa

Uwe Timm gehört für mich mit seinen Romanen für Erwachsene zu den größten lebenden deutschsprachigen Autoren. Sein Kinderbuch Die Zugmaus, erstmals erschienen 1981 und inzwischen schon ein Kinderbuchklassiker, habe ich erst jetzt kennengelernt, da meine Tochter es als Referendarin im Rahmen einer Projektprüfung in einer dritten Grundschulklasse mit den Schülerinnen und Schülern gelesen hat. Dazu hat sie auch das im BVK Verlag erschienene, sehr empfehlenswerte Zusatzmaterial Literaturprojekt zu „Die Zugmaus“ von Ulrike Itze und Jessica Steggemann für die fächerübergreifende Unterrichtsgestaltung verwendet sowie die ausgezeichnete Hörspielversion.

Die idyllische Kindheit des kleinen Hausmaus-Jungen Stefan, wegen seiner ungewöhnlichen früheren Nagegewohnheiten „Mausebiber“ genannt, endet jäh, als das alte Haus in der Münchner Paradiesstraße einem Hochhausneubau weichen muss. In der Folge ist die Familie mehr oder weniger heimatlos.

Bei seinen Ausflügen zum Bahnhof verschlägt es Stefan eines Tages in einen Zug und fortan reist der kleine Mäuserich durch Europa. Er erfährt, dass das Käseparadies Schweiz keineswegs so mäusefreundlich ist wie gedacht, findet dort aber in Wilhelm einen Reisegefährten mit einem drolligen Dialekt. Im Gourmet-Paradies Paris treffen sie auf den Artgenossen Pierre, lernen aber, dass das gute Essen mit der ständigen Bedrohungen durch die vielen Katzen teuer erkauft werden muss, und landen schließlich bei einem Zirkus, der durch England reist. Als das Heimweh zu groß wird, machen sich die beiden auf nach München, wo die Mäusefamilie sie mit viel Hallo und großer Neugier willkommen heißt.

Ein von Axel Scheffler mit Schwarz-Weiß-Zeichnungen wunderbar illustriertes Kinderbuch, witzig, emotional, informativ, fantasievoll und absolut empfehlenswert!

Uwe Timm & Axel Scheffler: Die Zugmaus. dtv 2003
www.dtv.de

A. B. Saddlewick: Super Sarah

Wo Superhelden ihr Handwerk lernen

So super, wie der Buchtitel Super Sarah es suggeriert, ist Sarah zunächst eigentlich nicht. Sie ist ein Tollpatsch wie er im Buche steht, das schwarze Schaf der supertalentierten Familie Adams, und fliegt deshalb eher früher als später aus jeder AG. Dabei ist sie ein liebenswertes Mädchen, das einfach nur gemocht werden will und sich die allergrößte Mühe gibt, um Missgeschicke zu vermeiden.

Nach einem weiteren Beinahe-Unglück in der Turmsprung-AG, das zu aller Erstaunen glimpflich abgeht, erhält sie eine mysteriöse persönliche Einladung zur AG Fliegen lernen, die sich als eine Ausbildungsstätte für Superhelden zur Bekämpfung des Bösen entpuppt. Sarah ist fest davon überzeugt, dass sie zu Unrecht eingeladen wurde, und auch die Test ergeben bei ihr zunächst keine Superbegabung. Doch als sie sich plötzlich dem Superschurken Tsunami gegenübersieht und eine Katastrophe verhindern muss, kann sie endlich doch zeigen, was in ihr steckt…

Der Anfang dieses Kinderbuchs hat mir ausgesprochen gut gefallen, im Mittelteil mit der Suche nach Sarahs Begabung empfand ich es dann als etwas schwerfällig. Dagegen war aber der Schluss wieder spannend. Die Protagonistin Sarah ist ein Mädchen mit einer sympathischen Ausstrahlung, die Handlung sehr fantasievoll und die Auszüge aus dem „Handbuch Fliegen lernen“, die über jedem der 13 Kapitel stehen, sind interessant und anregend. Bei deren Verständnis muss man den kleinen Leserinnen und vielleicht auch Lesern ab ca. acht Jahren allerdings etwas behilflich sein.

A. B. Saddlewick: Super Sarah. Kerle 2016
www.herder.de/verlag-kerle

Simone de Beauvoir: Sie kam und blieb

Ménage à trois

Simone de Beauvoir, 1908 in eine gutbürgerliche Familie hineingeboren, war eine der ersten Frauen, die an der Sorbonne Philosophie studierten. Während des Studiums lernte sie Jean-Paul Sartre kennen, dessen lebenslange Begleiterin sie wurde. Die  Grundregeln ihrer Partnerschaft waren sexuelle Freiheit nach allen Richtungen, keine Ehe, getrennte Wohnungen und keine hausfraulichen Pflichten.

Ihre Debütroman, Sie kam und blieb, aus dem Jahr 1941 erschien erstmals 1943 im von der deutschen Wehrmacht besetzten Paris. Er ist genau in dem Milieu der Pariser Bohème angesiedelt, in dem Beauvoir und Sartre sich damals bewegten.

Im Mittelpunkt des Romans stehen der Schauspieler und Regisseur Pierre Labousse und die Schriftstellerin Françoise Miquel, die eine Beziehung à la Beauvoir und Sartre führen. Ihr auf volles Vertrauen, Ehrlichkeit, sexuelle Freiheit und die völlige Abszenz von Eifersucht trotz Pierres Affären gegründetes Verhältnis gerät ins Wanken, als Françoise die junge Xavière Pages aus Rouen bei sich aufnimmt. Aus dem Duo wird ein Trio. Doch Xavière akzeptiert die Spielregeln der beiden anderen nicht und spielt sie gegeneinander aus. Sie reizt Pierres Jagdinstinkt und seine Eitelkeit, ist eifersüchtig und drängt Francoise in die Rolle der Rivalin. Als Françoise ihre Eifersucht begreift, sieht sie ihre Existenz gescheitert und es kommt zur Katastrophe.

Der Roman besteht zum großen Teil aus Dialogen, fast wie in einem Drama. Bei mir hat er Wut ausgelöst, manchmal auf Xavière mit ihrem Egoismus, manchmal auf Pierre und Françoise, die Xavières Spiel viel zu lange nicht durchschauen und zu beherrscht reagieren.

Simone de Beauvoir: Sie kam und blieb. Rowohlt 2004
www.rowohlt.de

Adriana Lisboa: Der Sommer der Schmetterlinge

Und niemand sagte auch nur ein einziges Wort

Der Roman Der Sommer der Schmetterling der 1970 in Brasilien geborenen und seit 2007 in den USA lebenden Autorin Adriana Lisboa stammt bereits aus dem Jahr 2001 und wurde 2003 mit dem Prémio José Saramago, einem bedeutenden portugiesischen Literaturpreis ausgezeichnet. Anlässlich des Gastlandauftritts von Brasilien auf der Frankfurter Buchmesse 2013 wurde er ins Deutsche übersetzt.

Wer hinter dem so leicht daherkommenden Titel einen beschwingten Sommerroman erwartet, wird sich getäuscht sehen. Der Sommer der Schmetterlinge ist eine tieftraurige, tragische und bewegende Familiengeschichte, die sich nicht oberflächlich lesen lässt, dafür aber umso länger nachhallt.

In ihrem Elternhaus, einer Fazenda im Landesinneren des Bundesstaates Rio de Janeiro, in dem sie nach dem Tod ihrer Eltern und ihrer Scheidung alleine lebt, erwartet die kanpp 50-jährige Clarice ihre vier Jahre jüngere Schwester Maria Inês, die sie lange nicht gesehen hat. Auch Tomás, der Maler und ehemalige Geliebte von Maria Inês, der in einem Nachbargebäude lebt, wartet auf sie, die Frau, die er seit 30 Jahren liebt.

In mosaikhaft geschriebenen Rückblenden, die sich erst nach und nach zu einem Gesamtbild zusammensetzen, erzählt Adriana Lisboa von der glücklichen Kindheit der beiden so verschiedenen Schwestern, der folgsamen Clarice und der aufbegehrenden Maria Inês, die schlagartig endete, als Clarice 13 Jahre alt war. Zu spät schickte die Mutter Clarice zwei Jahre später zu einer Großtante nach Rio de Janeiro; das „gründliche, wahre, endgültige Vergessen war für beide Schwestern unmöglich und die Zukunft vergiftet.

Adriana Lisboa lüftet das ungeheuerliche Geschehen nur sehr langsam und lange Zeit habe ich mich angesichts der wunderbaren Naturbeschreibungen und Landschaftsbilder förmlich gegen das Begreifen gesträubt. Als es nicht mehr zu verdrängen war, hat mich die Wucht dieses in so leisen Tönen geschilderten Familiendramas umso mehr betroffen gemacht und ich bin sehr dankbar, dass mit dem Schlusskapitel ein zarter Hoffnungsschimmer zu erahnen ist.

Ein wahrlich gekonnt komponierter, poetisch geschriebener Roman, der ein schwieriges Thema leise und eindringlich aufnimmt. Unbedingt lesen!

Adriana Lisboa: Der Sommer der Schmetterlinge. Aufbau 2016
www.aufbau-verlag.de

Gertraud Klemm: Muttergehäuse

Alternative Familiengenese

Dem Nachwort ist zu entnehmen, dass dem Roman ein Text aus dem Jahr 2010 unter dem Titel Mutter auf Papier zugrunde liegt, den die Autorin nun umgearbeitet hat, damit „es jenes Buch über alternative Elternschaft ist, das ich während der Zeit unserer Familiengenese so gerne gelesen hätte“.

Der Wiener Verlag Kremayr & Scheriau, dem ein großes Lob für die liebevolle und aufwändige Gestaltung des Buches bis in kleine Details gebührt, belegt den Roman im Verzeichnis lieferbarer Bücher mit den Schlagwörtern „Adoption“, „Kinderlosigkeit“ und „Bürokratie“. Gertraud Klemm hat die drei Teile der Geschichte mit den Überschriften „Mutter“, „Papier“ und „Kind“ versehen.

In „Mutter“ habe ich sehr ergriffen die einzelnen Abschnitte des Abschiednehmens vom eigenen Kind verfolgt. Immer wieder die Hoffnung, die Option, und dann wieder Enttäuschung. Da wird sogar der eigene Garten, in dem nichts so recht gedeihen will, zum Zeichen des Versagens: das Muttergehäuse bleibt leer. Nur drum herum scheint alles fruchtbar: „… im Zug, im Büro, in der Mittagspause, beim Nachmittagskaffee, zwischendurch bei einer wildfremden Person, die im Park telefoniert, am Abend, am Wochenende, in den Zeitungen, nirgends ist man sicher“. Die Zeit des Wartens ist geprägt von Arzttermine, der Belastung für die Beziehung, den Selbstvorwürfe und -zweifeln, dem Gefühl des Versagens und immer wieder gutgemeinten Ratschläge von überall her.

Im zweiten Teil, „Papier“, wird das Versagen endgültig nach außen getragen. Mit dem Antrag auf Adoption beginnt ein neuer Abschnitt im Ringen um ein Kind. Und wieder die ungebetenen Kommentare: „Warum gerade ein Afrikaner?“, „Ihr seid aber mutig!“, „Und was kostet das?“ Die Wut, die sich im ersten Teil noch vor allem gegen sich selbst und den sich einer Schwangerschaft verweigernden Körper gerichtet hat, beginnt sich jetzt gegen eine indiskrete Bürokratie und überbordende Anteilnahme zu wenden. Gleichzeitig entsteht durch die Treffen mit anderen adoptionswilligen Paaren zum ersten Mal ein Gefühl von Gemeinschaft.

Und dann ist es soweit: Nach einer gefühlten Ewigkeit darf der knapp fünf Monate alte Sohn in einem südafrikanischen Waisenhaus abgeholt werden. Dieser dritte Teil hat mich am meisten überrascht, denn es setzt keineswegs schlagartig die große Freude und Erleichterung ein, die ich mir ausgemalt hatte. Es überwiegt die Unsicherheit im Umgang mit dem Kind, aber vor allem die Wut auf eine Umwelt, die Adoptiveltern nicht als gleichwertige Eltern anerkennt. Der Wunsch nach einem zweiten Kind löst ein noch größeres bürokratisches Beben als beim ersten aus.

Das Buch endet versöhnlich und hoffnungsvoll mit einem der vielen, auf elegant gestalteten Seiten zwischengeschobenen Träume. Für mich ist es ein ganz starkes Stück Literatur, ein Roman, bei dem Form und Inhalt ineinander verschmelzen und jedes Wort sorgsam ausgewählt und an den richtigen Platz gesetzt wurde. Es lässt mich als Leserin tief ergriffen zurück und in der Hoffnung, dass ich einer Bekannten, die in zwei Wochen ein Kind in Thailand abholt, so unbefangen entgegentreten kann, wie die Autorin sich das gewünscht hätte, und zum Ausdruck bringen kann, wie ehrlich ich mich über das Kind freue.

Gertraud Klemm: Muttergehäuse. Kremayr & Scheriau 2016
www.kremayr-scheriau.at

Milena Busquets: Auch das wird vergehen

Sex als Mittel der Überwindung von Trauer

In der Literatur gibt es unzählige Versuche, den Tod der Eltern zu verarbeiten: John von Düffel (Hotel Angst) reist nach dem Tod des Vaters nach Bordighera, wo die Familie ihre Sommerurlaube verbracht und der Vater seinen Lebenstraum gelebt hat, Helen Macdonald richtet in H wie Habicht im Gedenken an den verstorbenen Vater ein Habichtweibchen ab, Simone de Beauvoir reflektiert in Ein sanfter Tod das schwierige Verhältnis zur verstorbenen Mutter und Milena Busquets versucht, ebenfalls autobiografisch inspiriert, ihre ca. 40-jährige Romanheldin Blanca den Tod der Mutter im Sex vergessen zu lassen („Sex gefällt mir, weil er mich im Hier und Jetzt festzurrt.“)

Der kurze Roman beginnt und endet auf dem Friedhof von Cadaqués, einem katalanischen Ferienort an der Costa Brava, gut zwei Autostunden von Barcelona entfernt. Das Begräbnis zu Beginn und der erste Besuch am (geschlossenen) Friedhof rahmen die Handlung ein. Dazwischen liegen wilde Tage, die Blanca zusammen mit ihren beiden Söhnen, den beiden verflossenen Ehemännern, dem aktuellen Liebhaber und Freunden in ihrem Sommerhaus verbringt. Partys, Bootsausflüge, Drogen, Alkohol und Sex bestimmen die Tage. Die Ich-Erzählerin Blanca, von Trauer und Melancholie durchdrungen, begegnet in ihren Gedanken immer wieder der verstorbenen Mutter, reflektiert das nicht unproblematische gemeinsame Leben, die Krankheit und den Tod.

Doch trauert sie wirklich nur um die Mutter? Mir kamen ihre Orgien der Selbstbemitleidung und Jammerei („Manchmal fühle ich mich, als ob ich alles verloren hätte“) eher so vor, als ob sie um sich selbst trauert, den Verlust der Jugend. Wer sich wie sie nur über ihre Männer, ihre Affären und über ihr Aussehen definiert, den muss der Gedanke an das Alter und die Vergänglichkeit besonders schrecken.

Die Beurteilung dieses Romans fällt mir ausgesprochen schwer. Einerseits kann Milena Busquets wunderbar atmosphärisch und virtuos schreiben. Ihre Sätze sind eine Liebeserklärung an die Sprache und klingen nach. Auch mir kam immer wieder der Vergleich mit Françoise Sagan in den Sinn. Andererseits konnte mich die Protagonistin in ihrer Selbstbezogenheit und Oberflächlichkeit zu keiner Zeit überzeugen. Wann denkt sie jemals an andere, ihre Kinder zum Beispiel, die die Großmutter verloren haben? Welches Männer- und Frauenbild hat diese Frau, die scheinbar ohne arbeiten zu müssen und mit einem Kindermädchen ausgestattet, nur dem eigenen Vergnügen frönt? Hat die Generation der heute Vierzigjährigen wirklich so wenig aus der Emanzipationsbewegung mitgenommen?

Beim heftigen Schwanken zwischen drei und vier Sternen entscheide ich mich für vier, weil mich der Roman trotz aller Kritik gut unterhalten hat und ich schließlich nicht über die Protagonistin zu urteilen habe.

Milena Busquets: Auch das wird vergehen. Suhrkamp 2016
www.suhrkamp.de

Donna Milner: River

Wenn Geheimnisse mehr Schaden anrichten als die Wahrheit

River ist der Debütroman der kanadischen Autorin Donna Milner und eine Familiensaga aus dem Kanada der 1960er-Jahre.

Ich-Erzählerin ist Natalie Ward, die eine harmonische, geborgene  Kindheit bei ihren sehr unterschiedlichen Eltern und mit drei älteren Brüdern erlebt hat. Die Familie lebt auf einer Milchfarm, drei Kilometer von der amerikanischen Grenze entfernt.

Der Roman spielt in zwei Zeitebenen. 2003 ist Natalie um die 50 Jahre alt, ist zum dritten Mal verheiratet und macht sich mit dem Bus auf eine lange Reise ans Sterbebett ihrer Mutter. Sie hat die Farm mit 17 verlassen und ist kaum dorthin zurückgekehrt. Die Busreise ist eine Reise in die Vergangenheit. Aber was ist damals geschehen, das eine so intakte Familie derart spalten konnte?

220 Seiten müssen wir Leser durchhalten, bis die Geschehnisse aus dem Jahr 1966 allmählich Konturen annehmen. Verraten werden soll das hier natürlich nicht, nur so viel: Im Mittelpunkt der Ereignisse stand damals River, ein Kriegsdienstverweigerer und Hippie aus den USA, der als Helfer auf den Hof kam und den alle liebten. Trotzdem löste er eine solche Kettenreaktion von Katastrophen aus, dass das Leben der Familie Ward aus den Angeln gehoben wurde.

Donna Milner erzählt sehr amerikanisch und packend über das Leben in einer kanadischen Kleinstadt in den 1960er-Jahren als wäre sie ein schwäbisches Dorf. Sie versteht es, Spannung aufzubauen, und zeigt, wohin Sprachlosigkeit führen und was sie zerstören kann.

Unterhaltsam, emotional und keine schwere Kost.

Donna Milner: River. Piper 2010
www.piper.de

Stefan Moster: Neringa

Familienlegenden

Ein namenloser Protagonist in der Midlife-Krise, der seine unerfüllten Lebenswünsche auf den verstorbenen Großvater projiziert, steht im Mittelpunkt des Romans Neringa oder Die andere Art der Heimkehr von Stefan Moster.

Der Ich-Erzähler, 50 Jahre alt, lebt in London, arbeitet in der IT-Branche und bereitet Produkten, die sich noch in der Entwicklung befinden, einen Markt, indem er die potentiellen Käufer von deren Notwendigkeit überzeugt. Obwohl erfolgreich, ist er unzufrieden. Wie glücklich muss doch sein Großvater Jakob gewesen sein, der als Pflasterer in Mainz künstlerische Straßenmosaike entworfen hat und am Abend sein bleibendes Werk zufrieden betrachten konnte. Und was wird von ihm einmal bleiben?

In Rückblenden scheint die Vergangenheit auf: eine Kindheit bei lieblosen Eltern, ein angedeuteter Missbrauch durch einen Pfarrer, eine missglückte erste Liebe, eine jahrelange Psychotherapie während des Studiums und immer wieder der Großvater, Dreh- und Angelpunkt seiner Gedanken. Doch welche der Legenden um den Großvater halten einer Überprüfung stand?

Während sich der Protagonist in seinen einsamen Gedankengängen förmlich zu verheddern scheint, tritt plötzlich eine Frau in sein Leben. Es ist seine Putzhilfe, eine Litauerin mit Universitätsabschluss, die in ihrer Freizeit beim Figurentheater mitwirkt. Diese kluge junge Frau, die er erst entlassen muss, um sich ihr nähern zu können, hört ihm zu, ist vielleicht die Erste, die ihn versteht, und begleitet ihn auf seiner Suche nach dem Großvater. Je wichtiger Neringa für ihn wird, desto mehr Sinn verspürt er in seinem Leben und desto mehr kann er schließlich von den Überhöhungen des Großvaters lassen.

Stefan Mosters Roman ist sprachlich ein Meisterwerk, bei dem das Lesen schon aus diesem Grunde eine Freude ist. Inhaltlich hätte ich mir an der ein oder anderen Stelle gewünscht, die Sicht des Ich-Erzählers von neutraler Stelle bestätigt oder korrigiert zu bekommen – zu unglaublich oder verschleiernd klangen oft seine Ausführungen, vor allem rund um die Psychotherapie. Trotzdem ein wirklich empfehlenswerter Roman!

Stefan Moster: Neringa. mare 2016
www.mare.de

Isabel Allende: Die Insel unter dem Meer

Der Preis der Freiheit

Auch wenn ich Isabel Allendes chilenische Romane mit dem magischen Realismus und die Romane über ihre Familie noch lieber mag, so habe ich doch auch ihren 17. Roman, Die Insel unter dem Meer, einen opulenten historischen Roman und eine beeindruckende Familiensaga, mit Freude gelesen.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht die Mulattin Zarité, genannt Tété, die Ende des 18. Jahrhunderts als Sklavin zu Toulouse Valmorain kommt. Dieser hält sich unfreiwillig in Santo Domingo (= Haiti) auf, wo er die heruntergewirtschaftete Zuckerrohrplantage seines Vaters übernommen hat. Tété wird zunächst die Sklavin seiner geisteskranken Frau, später seine Geliebte. Von Anfang an strebt sie nach ihrer Freiheit, zunächst in ihrer Heimat, später in Louisiana, wohin sie nach den Sklavenaufständen gelangt.

Der gut recherchierte historische Roman in der Isabel Allende eigenen bildreichen, farbigen Sprache und ihrer mitreißenden Erzählweise führt den Leser durch eine turbulente Zeit: die Sklavenaufstände in Santo Domingo, die Sezessionskriege in den amerikanischen Südstaaten, die Französische Revolution und die Zeit der Schmuggler auf Kuba. Für Unterhaltung und Spannung ist also gesorgt.

Isabel Allende: Die Insel unter dem Meer. Suhrkamp 2011
www.suhrkamp.de