Alice Greenway: Schmale Pfade

Inseln und Vögel

Es gab gleich mehrere Gründe, warum ich dieses Buch unbedingt lesen wollte: das farblich zurückhaltende Cover, das im wahrsten Sinne federleicht wirkt, der geheimnisvolle Titel, der nichts über den Inhalt verrät, der Handlungsort Maine, der Übersetzer Klaus Modick, den sogar der gestrenge Dennis Scheck zu den „großen Erzählern der Bundesrepublik“ zählt, und der mare Verlag, der mich noch nie enttäuscht hat. Nach der Lektüre kann ich feststellen, dass mein Gefühl mich nicht getäuscht hat. Ich habe diesen Roman von der ersten bis zur letzten Seite inhaltlich, atmosphärisch sowie sprachlich genossen und das erstaunt mich umso mehr, als ich für den Helden  nur Mitleid, aber keine Sympathie empfinde.

Der Roman beginnt in den 1970er-Jahren, als Jim Kennoway, geboren 1903, ein alter, verbitterter Mann ist, geheimniskrämerisch, schlecht gelaunt, abweisend und unfreundlich. Er trinkt und raucht im Übermaß, weshalb ihm zu seinem großen Groll ein Bein oberhalb des Knies amputiert werden musste. Er hat seine Arbeit in der ornithologischen Abteilung des American Museum of Natural History in New York aufgegeben und sich in das Sommerhaus seiner Familie auf eine Insel vor der Küste von Maine zurückgezogen. Doch auch dort findet er nicht die gewünschte Ruhe, denn sein alter Freund Stillman und sein Sohn Fergus bemühen  sich trotz seiner Zurückweisung um ihn. Und dann kündigt sich auch noch Cadillac an, Tochter seines Kriegsfreunds Tosca Baketi von den Salomonen, wo er 1942/43 gegen die Japanern gekämpft hat. Cadillac hat einen Studienplatz für Medizin in Yale und möchte zuvor einige Zeit bei Jim verbringen. Schafft sie es, mit ihrer Unbefangenheit und Direktheit Jims Panzer aufzuweichen? Auf jeden Fall weckt sie lange verdrängte Erinnerungen.

Ein despotischer Großvater und ein mitverschuldeter Unglücksfall überschatteten Jims Kindheit. Doch dem naturbegeisterten Jungen eröffnete sich in einer neuen Umgebung auf Cumberland Island/Georgia eine neue Lebensperspektive. Er machte die Ornithologie zu seinem Beruf und heiratete die fröhliche, lebensfrohe Helen, die er über alles liebte. Und doch konnte er sein Glück nicht festhalten: Die freiwillige Meldung zur Armee als Marineoffizier in der Südsee traumatisierte ihn nicht nur, sondern zerstörte auch seine Familie.

Sehr gut gefallen hat mir das Leitmotiv „Insel“, das den ganzen Roman durchzieht: als  geografische Inseln, als innerer Rückzugsort oder in Form der Schatzinsel von Robert Louis Stevenson, mit der Jim intensiv beschäftigt. Daneben haben mich, der ich bisher ornithologisch kaum interessiert war, die Natur- und Vogelbeschreibungen begeistert.

Der präzise komponierte Aufbau der Geschichte lässt trotz dreier Zeitebenen und mehrerer Schauplätzen keine Verwirrung aufkommen. Die Sprache ist einfühlsam, melancholisch und klar.

Wer sich auf den Roman einlassen und dem langsamen Duktus der Autorin folgen mag, dem verspreche ich ein unvergessliches Leseerlebnis.

Alice Greenway: Schmale Pfade. mare 2016
www.mare.de

Birgit Vanderbeke: Das Muschelessen

Fast ohne Punkt und Komma

Die Rückkehr des Vaters von einer Dienstreise und dessen voraussichtliche Beförderung sollen um 18 Uhr mit einem gemeinsamen Muschelessen der ganzen Familie – Vater, Mutter, Sohn und Tochter – gefeiert werden. Als der stets pedantisch pünktliche Vater auch einige Minuten nach 18 Uhr noch nicht zu Hause ist, beginnt sich eine Unruhe auszubreiten. Die von den dreien als eklig empfundenen Muscheln vor sich, die nur ihm zuliebe zubereitet werden, wird der Patriarch erst zögernd und dann immer unverblümter kritisiert. Sein bisher unangefochtener Machtanspruch, die emotionale Kälte in der Familie und das Denunziantentum kommen erstmals offen zur Sprache. Je weiter der Abend fortschreitet und je mehr die drei der Spätlese zusprechen, desto direkter wird die Anklage, desto mehr wird der gewalttätige Terror des Vaters, dessen Lebensziel es ist, die Fassade einer intakten Musterfamilie aufrecht zu erhalten, entlarvt.

Ich-Erzählerin in dieser in den späten 1970er-Jahren angesiedelten Geschichte ist die ca. 18-jährige Tochter, die ohne Absatz und Kapiteleinteilung und mit sparsam gesetzten Punkten in ungeordneter Struktur und ohne Chronologie heraussprudelt, was ihr durch den Kopf geht. Die Wiederholungen und die oft naiv wirkenden, resigniert erzählten Episoden haben mich in Bann gezogen. Die erzählte Zeit von ca. 4 Stunden entspricht der Erzählzeit und lädt dazu ein, das Buch in einem Rutsch zu lesen.

Birgit Vanderbeke, geboren 1956, hat mit ihrem Erstling Das Muschelessen 1990 sofort den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen und seither zahlreiche weitere Romane veröffentlicht. Zentrale Themen ihres Werks sind Familienstrukturen, Liebe und Spießertum.

Birgit Vanderbeke: Das Muschelessen. Piper 2012
www.piper.de

Christa Holtei & Gerda Raidt: In die neue Welt

Ein Auswandererschicksal

Vor zwei Jahren habe ich das Auswanderermuseum in Bremerhaven besucht, eine der museumpädagogisch für Kinder und Erwachsene am besten aufbereiteten Ausstellungen, die ich kenne.

Ähnlich gut gemacht ist das Bilderbuch In die neue Welt, das mit dem Text von Christa Holtei und den Illustrationen von Gerda Raidt das Thema Auswanderung für Kinder ab ca. sechs Jahren konkret am Beispiel einer Familie sehr gut verständlich aufbereitet.

Die vierköpfige Familie Peters entschließt sich 1869 wegen ihrer Armut aus der preußischen Provinz Hannover in die USA auszuwandern. Wir erleben sehr kindgerecht, aber auch für Erwachsene ansprechend, ihre Reisevorbereitungen und den schweren Abschied, die zweiwöchige Überfahrt im Zwischendeck der Teutonia, die Weiterreise auf dem Mississippi, die Ankunft in Nebraska, die Fahrt mit dem Planwagen, die Ankunft in der Prärie und den Neubeginn im fremden Land.

150 Jahre später recherchieren Nachfahren die Geschichte und besuchen die alte Heimat Deutschland.

Interessant ist außerdem ein Vergleich der Farm und des Hamburger Hafens früher und heute, wobei es für Groß und Klein viel zu entdecken gibt.

Dieses Bilderbuch ist einerseits aufgrund der heutigen Flüchtlingsbewegung hochaktuell, andererseits als Geschichts- und Geografiebuch für Kinder und Erwachsene äußerst spannend und anregend.

Christa Holtei & Gerda Raidt: In die neue Welt. Beltz & Gelberg 2013
www.beltz.de

Thomas Beckstedt: 1888

Narben und Dämonen

Zwei Zeitebenen, zwei Orte und zwei Protagonisten sind die Zutaten zu diesem spannenden Debüt des promovierten Philosophen und diplomierten Datentechnikers Thomas Beckstedt. Was ich zunächst für einen sehr intelligent aufgebauten historischen Krimi gehalten hatte, entpuppte sich auf den letzten 150 Seiten doch noch als der auf dem Umschlag versprochene Thriller.

Georg, ein deutscher Soldat des Ersten Weltkriegs, hat seine Zelte in Deutschland abgebrochen, das Familienunternehmen verkauft und ist nach London übergesiedelt, traumatisiert und verwundet an Körper und Seele, ohne Plan für sein weiteres Leben. Da erreicht ihn 1922 überraschend ein Paket aus Indien von einem gewissen Dr. Richard Rollet. Ihn und seine wesentlich jüngere Frau Maria hatte Georg in seinem letzten unbeschwerten Sommer 1914 in einem Hotel in Sils Maria kennengelernt. Nun schickt Dr. Rollet ihm Tagebücher und Manuskripte und bittet ihn, seine Geschichte aufzuschreiben, wozu er selber nicht in der Lage ist. Die Unterlagen, deren Anziehungskraft sich Georg vom ersten Moment an nicht entziehen kann, berichten vom schließlich nicht vollstreckten Todesurteil gegen den Arzt, der 1888 in London wegen des Doppelmords an seinem Kollegen, Dr. Lafitte, und einer Prostituierten schuldig gesprochen worden war.

Die Recherche, die sich wie von Dr. Rollet prophezeit als sehr kompliziert erweist, führt Georg von London nach Wien. Fehlende Bausteine bringen ihn fast an den Rand des Wahnsinns und die Schicksale der beiden Männer verschmelzen nicht nur bedingt durch Georgs Opiumkonsum immer mehr. Denn hat Georg bisher nur mit seinen eigenen Dämonen gekämpft, so kämpft er nun auch mit denen Rollets.

1888 ist kein Thriller, den man nebenbei lesen kann. Der Autor verlangt dem Leser eine Menge Konzentration ab und überfrachtet ihn manchmal mit seiner unerschöpflich scheinenden Kreativität, was bei einem Erstling zu entschuldigen sein dürfte. Dafür belohnt er ihn aber mit einem außergewöhnlichen, dem Durchschnitt des Genres weit überlegenen Schreibstil, mit psychologisch ausgefeilten Charakteren, mit einer sehr atmosphärischen Beschreibung der beiden Städte und mit gut recherchiertem historischem Flair. Die düstere Stimmung, die sich durch den gesamten Roman zieht, wurde für mich so greifbar, dass ich schließlich fast jeder Figur des Buches Böses zugetraut habe.

Mehr noch als die Spannung, die erst in der zweiten Hälfte richtig aufkommt, haben mich bei diesem ungewöhnlichen, sehr empfehlenswerten historischen Thriller die Atmosphäre und die Sprache fasziniert.

Thomas Beckstedt: 1888. Braumüller 2015
www.braumueller.at

Rolf Dobelli: Und was machen Sie beruflich?

Der unaufhaltsame Abstieg eines Managers

Vor einiger Zeit schon hat Rolf Dobelli seinen Helden Gehrer in Fünfunddreißig durch die Midlifecrises gejagt. Nachdem diese überstanden ist, folgt in Und was machen Sie beruflich? ein weiteres Erdbeben: die Rezession. Gehrer, Marketingdirektor einer internationalen Softwarefirma mit einem gläsernen Eckbüro und zwei(!) Fensterfronten, der sich vollkommen über seinen Beruf definiert und in seinen Maßanzügen von Projekt zu Projekt jettet, wird plötzlich freigestellt.

Rolf Dobelli erzählt in diesem kleinen Roman vom Zusammenbrechen einer Welt, vom unaufhaltsamen Abstiegs eines Managers bis zur Selbstaufgabe. Während Gehrer die Entlassung zunächst vor seiner beruflich als Anwältin sehr erfolgreichen Frau verheimlicht und seine Tage im Café verbringt, kämpft er sich erfolglos durch einen Marathon von Vorstellungsgesprächen und scheitert auch als selbständiger Fahrlehrer.

In einem absolut kompromisslosen Stil erzählt Rolf Dobelli, der mit seinem Wirtschaftsabschluss als Insider gelten kann, aus der eindimensionalen, fast autistischen Perspektive Gehrers und nahezu ohne Dialoge.

Obwohl dieser Roman bisweilen Züge einer Komödie trägt, ist mir das Lachen im Halse steckengeblieben. Ganz große Klasse!

Rolf Dobelli: Und was machen Sie beruflich? Diogenes 2004
www.diogenes.ch

Susan Vreeland: Die Malerin

Eine moderne Frau der Renaissance

Artemisia Gentileschi (1593 – 1653) war eine der wenigen bekannten Malerinnen der Renaissance und die erste, die in die Accademia dell’Arte in Florenz  aufgenommen wurde. Ihre Motive waren die typischen ihrer Zeit: Judith, Lukrezia, Maria Magdalena und Susanna, gesehen mit den Augen einer Frau.

In einer geschickten Mischung aus Realität und Fiktion zeichnet die amerikanische Literaturprofessorin Susan Vreeland ihren bewegten Lebensweg nach, der sie zu einem Vagabundenleben von einem Auftraggeber zum nächsten zwang.

Die Malerin ist eine ebenso spannende wie informative Romanbiografie über eine sehr interessante Frau, die besonders dann aktuell wird, wenn Artemisia um die Vereinbarkeit von Familie und Beruf kämpfen muss oder in einem Vergewaltigungsprozess vor Gericht steht.

Susan Vreeland: Die Malerin. Diana 2003
www.randomhouse.de

Friedrich Dürrenmatt: Das Versprechen

Ein Requiem auf den Kriminalroman

Der Mord an der kleinen Gritli Moser und der unerbittliche Ermittler Dr. Matthäi stehen im Mittelpunkt von Dürrenmatts Kriminalroman Das Versprechen. Doch aus diesen Zutaten macht der Schweizer Autor keinen traditionellen Krimi sondern – so der Untertitel – ein „Requiem auf den Kriminalroman“.

Kriminalkommissär Matthäi steht vor einem großen Karrieresprung, als aus Mägendorf bei Zürich der Mord an einem kleinen Mädchen gemeldet wird. Aus Mitleid verspricht er den Eltern, die ihr einziges Kind verloren haben, „bei seiner Seeligkeit“ nicht zu rasten, bis er den Mörder gefunden hat. Er glaubt nicht an die Täterschaft des Hausierers von Gunten, den die Kollegen unter Verdacht haben. Doch während Matthäi sich immer mehr in den Gedanken verrennt, mit Vernunft und Logik den Fall lösen zu können, und dabei allmählich in den Wahnsinn treibt, lässt Dürrenmatt den Zufall über alles kriminalistische Können triumphieren.

Friedrich Dürrenmatt hat 1958 als Auftragsarbeit das Drehbuch zum Film „Es geschah am hellichten Tag“ verfasst, der mit Heinz Rühmann und Gerd Fröbe gedreht wurden. Anschließend hat er den Stoff umgearbeitet zum Roman Das Versprechen, der vielschichtiger und faszinierender als der Film ist, und dessen Schluss sich deutlich unterscheidet.

Hans Korte liest diesen meisterhaft geschriebenen Roman nicht nur mit seinem sonoren Bass, er lebt und spielt ihn so beeindruckend, dass das Hören mir noch mehr unter die Haut gegangen ist als das Lesen.

Friedrich Dürrenmatt: Das Versprechen. Diogenes Hörbuch 2006
www.diogenes.ch

Ingmar Bergman, Ingrid Bergman & Maria von Rosen: Der weiße Schmerz

„Es zeigt sich, dass es keine selbstverständlichen Gefühle gibt.“  (H. Mankell)

Dies ist ein Buch der Trauer.

Ingmar Bergman, der große schwedische Filmregisseur, und Ingrid Bergman, nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Schauspielerin, lernten sich 1957 kennen, als beide verheiratet waren. 1970 heirateten sie. Ingrids Kinder und Maria von Rosen, die gemeinsame Tochter von Ingmar und Ingrid, blieben bei ihrem geschiedenen Mann. Maria erfuhr erst im Alter von 22 Jahren, wer ihr wahrer Vater ist.

Im Oktober 1994 erkrankte Ingrid an Magenkrebs. Sie starb im Mai 1995.

Das Buch ist Teil der Trauerarbeit und stellt die drei Tagebücher von Ingrid, Ingmar und Maria aus dieser Zeit nahezu unkommentiert nebeneinander. Dabei kommt Banales genauso zur Sprache wie Bewegendes und obwohl die Inhalte sehr persönlich sind, wird es nie voyeuristisch. Allen drei ist das Bemühen um einen geregelten Alltag anzumerken. Ingmar und Maria leiden darunter, die Frau und Mutter nicht ausreichend unterstützen zu können, Ingrid macht sich Sorgen um beide.

Im schwedischen Original trägt das Buch den weniger marktschreierischen und passenderen Titel „Drei Tagebücher“. Es ist ein bewegendes Dokument, das zeigt, wie Beziehungen sich angesichts extremer Bedrohungen verändern. Henning Mankell hat dazu ein sehr einfühlsames Nachwort verfasst.

Friedhof der Kirche von Fårö: Das Grab von Ingrid und Ingmar Bergmann. © M. Busch

Ingmar und Ingrid sind auf dem kleinen Friedhof der Insel Fårö in einem schlichten und gerade deswegen beeindruckenden Grab beigesetzt. Ein Besuch dort lohnt sich ebenso wie die Lektüre dieses Buches.

 

 

Ingmar Bergman, Ingrid Bergman & Maria von Rosen: Der weiße Schmerz. Hanser 2007
www.hanser-literaturverlage.de

Peter Mayle: Mein Jahr in der Provence

Szenen aus dem provenzalischen Dorfleben

Der Engländer Peter Mayle ist vor einigen Jahren aus dem wolkenverhangenen Großbritannien in die sonnige Provence, ins Lubéron, geflohen.

Mit liebevollem Humor und Sprachwitz schildert er seine alltäglichen Erlebnisse mit den Franzosen im Allgemeinen und den französischen Handwerkern im Besonderen, die Tücken der französischen Sprache, das Leben in den Dörfern sowie Natur und Küche im Wandel der Jahreszeiten.

Empfehlen kann ich das Buch und auch den zweiten Band Toujours Provence allen Provencereisenden, da sie viele Anregungen abseits der Touristenströme beinhalten, aber auch allen Couchpotatos mit Sehnsucht nach Sonne, Lavendelduft und Trüffel.

Eine äußerst vergnügliche Lektüre, auch beim wiederholten Lesen!

Peter Mayle: Mein Jahr in der Provence. Knaur 2014
www.droemer-knaur.de