Finni Fuchs ist ein Frühaufsteher, Pech für Papa und Mama, die gerne ausgeschlafen hätten. Seufzend steht Papa Fuchs schließlich auf und ein weiterer abenteuerlicher Tag im Leben des kleinen Fuchskinds kann beginnen, denn:
Na bitte, also hat Papa doch ausgeschlafen! (S. 9)
Ein unternehmungslustiges Füchslein In fünf Kapiteln begleiten wir Finni beim Aufstehen, in den Kindergarten, beim Einkaufen mit dem Vater, beim Kuchenbacken mit der Mutter für den Besuch von Oma und Opa und beim Zubettgehen. In allen Situationen können sich Kinder ab zwei Jahren bestens wiederfinden, denn die kleinen Szenen kommen mitten aus ihrem kindlichen Alltag: Da fällt das Frühstücksbrot vom Hochstuhl, gibt es einen dicken morgendlichen Abschiedskuss von den Eltern, stürzt der Bauklotzturm von Lulu Dachs und Flocke Hase um, braucht Finni nach einem Unfall an der Rutsche ein Pflaster, bekommt er ein leckeres Probierstück an der Käsetheke (aber leider bei den Keksen), wird der Kuchenteig gleich zweimal verkostet und fließen Tränen, als der Kuchen vor Oma auf dem Boden landet. Und natürlich ist Finni nach einem solch ereignisreichen Tag kein bisschen müde – oder vielleicht doch?
Bilderbuch- und Vorlesespaß für Klein und Groß Hier kommt Finni Fuchs ist eine fröhliche Bildergeschichte, bei der die kleinen Zuhörerinnen und Zuhörer durch Fragen zum Mitmachen und zum Benennen von ihnen bestens vertrauten Gegenständen animiert werden. Die ausdrucksstarken Gesichter der Familie Fuchs und Finnis kleiner Kameradinnen und Kameraden verschiedener Tiergattungen spiegeln ihre Gefühle gut erkennbar wider. Katja Reider hat ihre Texte zu jedem der mal doppelseitigen, mal einseitigen, mal kleineren Bilder der Zielgruppe ab zwei Jahren im Umfang angepasst, wobei ich meinem genau zweijährigen Test-Kind das Geschehen zunächst lieber erzählt habe. Mit Ausnahme der Szene, in der Finni heimlich eine Packung Bonbons in Papas Einkaufswagen schmuggelt, konnte der Zweijährige alle Begebenheiten verstehen und Parallelen zum eigenen Alltag ziehen. Trotzdem werden auch Drei- und Vierjährige ihren Spaß beim Entdecken haben, nur ist auch für ihre kleinen Hände die niedliche Finni-Ausstanzfigur zum Ankleiden aus zu dünnem Papier gemacht. Die vielen Details auf den Bildern von Meike Teichmann laden zum genauen Hinschauen wie auch zum Weitererzählen ein und sind dank der ausreichenden Weißflächen gut zu erkennen. Ihre Freude an den liebevollen, mit viel Humor grundierten Texten und Illustrationen werden auch die Vorleserinnen und Vorlesern haben, denn sie können sich bestens in ihrem turbulenten Alltag mit einem unternehmungslustigen, wissbegierigen Kleinkind wiedererkennen und mit den Fuchseltern aufatmen, wenn es heißt:
Schlaf schön, Finni! Morgen ist ein neuer Tag – mit Mama und Papa und allen, die du lieb hast. (S. 44)
Inspiriert von der eigenen Familiengeschichte erzählt die 1985 in Niedersachsen als Tochter eines 1945 nach Zentralasien deportierten Zivilgefangenen und einer Polin geborene Autorin Sabrina Janesch vom Schicksal der Russlanddeutschen und ihrer Nachkommen, von Auswanderung, Umsiedlung, Vertreibung, Enteignung, Verschleppung, Befreiung und Rückkehr. In zwei Erzählsträngen, 1945/46 und 1990/91, verwebt sie zwei Kindheiten: Josef Ambacher wurde 1945 als Zehnjähriger nach Sibirien, genauer Kasachstan, verschleppt, seine Tochter Leila lebt im gleichen Alter 1990/91 in Mühlheide, Niedersachsen, und wächst mit seinen Geschichten auf:
Wofür mein Vater keine Worte fand, das kleidete er in Geschichten. (S. 15)
Ich hing an den Geschichten meines Vaters wie an einem Tropf […] (S. 17)
In der Rahmenhandlung erzählt die erwachsene Leila von ihrem Bemühen, die Geschichten des inzwischen über 80-jährigen, zunehmend dementen Vaters zu bewahren.
Kasachstan Ursprünglich aus dem Egerland stammend, wanderte die Familie Ambacher im 18. Jahrhundert wie viele andere nach Galizien aus, wurde von den Nationalsozialisten „heim ins Reich“ geholt und im zuvor polnischen Wartheland angesiedelt, bevor sie auf der Flucht von der Roten Armee aufgegriffen und in die Verbannung nach Zentralasien geschickt wurde. Zusammen mit den Großeltern und der Tante – der kleine Bruder verstarb auf dem Transport, die Mutter verschwand spurlos – verbrachte Josef zehn Jahre in einem Dorf mit Deportierten verschiedenster Nationalitäten unter der Aufsicht des Dorfsowjets in der lebensfeindlichen Steppe. Hunger, Mangel an allem, extreme Wetterverhältnisse, Ausgestoßensein, Angst vor den Gulags, aber auch Abenteuer, die Begegnung mit der kasachischen Kultur, ein zugewandter russischer Lehrer und sein kasachischer Freund Tachawi bestimmten Josefs Leben bis zur Ausreise 1955 nach Deutschland. Allgegenwärtig war die Trauer um den Verlust der Mutter:
Wenn er auf den Beinen war und umherlief, konnte er die Gedanken an die Mutter manchmal für eine Weile abschütteln. Seine Traurigkeit wanderte langsamer durch den Raum als er selbst… (S. 120/121)
Mühlheide 35 Jahre nach den Zivilgefangenen kamen die Spätaussiedler nach Deutschland, für die Siedlungsbewohnerinnen und –bewohner am Rande von Mühlheide bedeutete dies eine schwierige Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit, Berührungsängste und Schuldgefühle. Aus kindlicher Ich-Perspektive erzählt Leila von Menschen, die „jeder Vorstellung von Beheimatung und Zuhause misstrauen“ (S. 247), ihrer Freundschaft mit Arnold, isolierten Siedlungskindern und ihrer Grenzwallfunktion zwischen Türken und „Normalos“ im Klassenzimmer, ihrem Konflikt mit dem ehemaligen SS-Mann Tartter und vom Spätaussiedlerjungen Pascha, der ihr Duo zum Trio macht.
Ein wichtiger Teil der deutschen Geschichte
Herausragend in Sibir ist der Teil über Josefs Kindheit, das Aufwachsen unter Extrembedingungen, die man in jedem Wort fühlt. Gefallen hat mir auch, wie gekonnt Sabrina Janesch Sachinformationen über die historischen Bevölkerungsverschiebungen in den literarischen Text einbindet, wie sie fließend die beiden Kindheiten über Begriffe wie „Sturm“, „Hütte“, „Schuld“, „Freundschaft“, „Schule“ oder „Familie“ verwebt und sie in die anrührende Rahmenhandlung einbindet. Auch die sprachliche Qualität des Romans mit den eingeflochtenen deutsch-russisch-kasachischen Vokabelketten hat mich überzeugt. Allerdings hadere ich mit der Gewichtung der Erzählstränge, denn Leilas kindliche Klagen über ihre „schwere“ Kindheit, die dramatisch beschriebene Außenseitersituation der nachgeborenen Kinder 35 Jahre nach der Rückkehr der Eltern, die ich aus eigener Anschauung so nicht nachvollziehen kann, und der aufgebauschte Konflikt mit dem Tartter haben mich mehr genervt als ergriffen und dienen vor allem der Konstruktion von Parallelen. Empfehlenswert ist Sibir trotzdem. Mit mehr Kasachstan und weniger Mühlheide wäre es sogar ein Lieblingsbuch geworden.
Sabrina Janesch: Sibir. Rowohlt Berlin 2023 www.rowohlt.de
Weitere Rezension zu einem Roman über Russlanddeutsche auf diesem Blog:
70 Jahre nach seinem Tod sind die Werke des norwegischen Literaturnobelpreisträgers Knut Hamsun (1859 – 1952) seit dem Jahresbeginn 2023 gemeinfrei. In einer Neuübersetzung von Ulrich Sonnenberg erschien pünktlich dazu sein Debütroman Hunger, basierend auf der Urfassung von 1890, bevor Knut Hamsun ihn unter dem Einfluss der in späteren Jahren von ihm bedingungslos bewunderten und verinnerlichten Nazi-Ideologie mehrfach überarbeitete. Trotz meiner Liebe zur norwegischen Literatur hatte ich aus diesem Grund bisher Berührungsängste zu seinem Werk. Die wunderschöne Neuausgabe mit dem schlichten Cover in Schleifpapiermanier und der schmucklosen, plakativen Schrift sowie das Wissen um die große Bedeutung seines Werks für spätere Autoren haben mich nun doch bewogen, Hunger zu lesen, das ihm den literarischen Durchbruch bescherte.
Gezeichnet von einer Stadt In vier mit „Stück“ überschriebenen Kapiteln folgen wir einem mittellosen, hungernden Journalisten und Schriftsteller durch die Straßen Kristianias, dem heutigen Oslo:
Es war zu der Zeit, als ich hungrig in Kristiania umherging, dieser sonderbaren Stadt, die niemand verlässt, bevor er von ihr gezeichnet worden ist. (1. Satz, S. 5)
Jedes „Stück“ markiert einen neuen Tiefpunkt, während die positiven Momente, in denen der namenlose Ich-Erzähler zu etwas Geld kommt, ausgespart bleiben. Zunehmend zerlumpt, ohne Besitztümer und in immer prekäreren Quartieren hausend kommt er mit jeder Episode dem Wahnsinn wie dem Tod näher. Dabei ist er unfähig, sein Schicksal zu wenden, gibt das wenige Geld, an das er gelegentlich kommt, aus Gründen der Ehre und um über seine Not hinwegzutäuschen verschwenderisch ab und schwankt zwischen Größenwahn und schamhafter Unterwürfigkeit. Nur selten wird der innere Monolog für die wilden Lügengeschichten unterbrochen, die er bei seinen zufälligen Begegnungen erzählt. Nicht immer ist klar, ob diese Zusammentreffen in der Realität oder in seiner Fantasie stattfinden, weshalb das Werk manchen als Vorstufe des absurden Theaters gilt.
Ein Roman ohne Plot Nicht nur an Brot mangelt es dem Hungerhelden, auch wenn der tagelange Nahrungsentzug ihm immer mehr zusetzt. Gleichzeitig dürstet er nach Wahrnehmung seiner Person, nach Anteilnahme, Anerkennung und Zuwendung. Selten habe ich Einsamkeit in einem Roman so greifbar beschrieben gefunden. Es ist mir deshalb ein Rätsel, warum Astrid Lindgren, wie Felicitas Hoppe im Nachwort ausführt, ihn als „hinreißend lustiges Buch über den Hunger“ beschreibt und beim Lesen vor Lachen „wimmerte“. Treffender wären für mich die Bezeichnungen „skurril“ und „aberwitzig“ für die Fantasiegeschichten, Worterfindungen, Gefühlsschwankungen und die Tatsache, dass der Ich-Erzähler am Ende auf einem Schiff nach Leeds anheuert, einer Stadt ohne Hafen. Ein Lachen wäre mir jedenfalls im Halse stecken geblieben. Eher schon hat mich der Hungerheld mit seinem deplatzierten Stolz, der ruinösen Ehrsucht und dem mangelnden Überlebensinstinkt zur Verzweiflung gebracht.
Ich staune selbst, dass der fehlende Plot, zahlreiche Wiederholungen, der Verzicht auf die Schilderung der gesellschaftlichen Umstände und von Sozialkritik, das Schweigen über die Vergangenheit des Protagonisten und seine geringe Weiterentwicklung mich kaum gestört haben. Vielleicht liegt es daran, dass Knut Hamsuns eigene Erfahrungen so authentisch spürbar sind und dass seine minutiöse Beobachtungsgabe, die geschärfte Wahrnehmung sowie die sprachliche Virtuosität, an der auch der Übersetzer großen Anteil hat, mich bei diesem Klassiker überzeugen
Knut Hamsun: Hunger. Nach der Erstausgabe von 1890 aus dem Norwegischen übersetzt von Ulrich Sonnenberg. Nachwort von Felicitas Hoppe. Manesse 2023 www.penguinrandomhouse.de
Rezensionen zu Romanen von Literaturnobelpreisträgerinnen und -trägern auf diesem Blog:
Das isländische Hafenstädtchen Akranes mit gut 7000 Einwohnern ist zwar durch den Bau eines Tunnels unter dem Hvalfjörður auf 30 Fahrminuten an Reykjavík herangerückt, hat jedoch seinen dörflichen Charakter bewahrt. Früh hat die junge Polizistin Elma die ungeliebte Enge mit der Freiheit in der Hauptstadt vertauscht und dort bis vor Kurzem mit ihrem Partner Davið gelebt. Nun ist sie nach einem privaten Desaster zurückgekehrt und tritt ihren Dienst bei der Kripo Akranes an, wieder ist es eine Flucht und Zweifel nagen ebenso an ihr wie Trauer und Wut.
Keine Schonfrist
Kaum haben die neuen Kolleginnen, Kollegen und ihr Chef Hörður sie freundlich begrüßt, wird eine Leiche am älteren der beiden Leuchttürme von Akranes gefunden: eine junge Frau, verheiratet, Mutter zweier Söhne im Grundschulalter, liegt tot auf den Klippen. Schnell wird ermittelt, dass es sich um Elísabet handelt, eine Pilotin aus Reykjavík, die früher in Akranes lebte und mit neun Jahren mit ihrer Mutter nach Reykjavík zog. Nach Aussagen ihres Mannes Eiríkur und anderer Zeugen besuchte die sehr verschlossene Frau ihr verhasstes Heimatstädtchens kaum.
Prägende Jahre Unterbrochen wird die Schilderung der auf Hochtouren laufenden Ermittlungen durch verstörende Rückblenden in Elísabets Kindheit 1989 bis 1992 aus ihrer kindlichen Sicht. Was geschah vor 30 Jahren mit ihr? Was hat ihre Persönlichkeit geprägt?
Immer wieder stoßen Elma und ihr ebenso sympathischer 35-jähriger Kollege Sævar bei den Nachforschungen auf Mitglieder derselben Familie: Vater Hendrik, Macho und angesehener Besitzer einer Immobilienfirma, seine scheue, traurige Frau Ása, den Sohn und designierten Nachfolger Bjarni, dessen selbstbewusste Frau Magnea und das schwarze Schaf, Hendriks gewalttätigen Bruder Tomás.
Nordic Noir Während Elmas Wiedereinleben nicht immer sanft verläuft und alte Verletzungen erneut aufbrechen, wühlt sie sich immer tiefer in Elísabets Vergangenheit. Aber liegen die Gründe für ihre Ermordung wirklich in ihren frühen Jahren in Akranes oder doch im Hier und Heute? Was wollte Elísabet nachts am alten Leuchtturm und wo befindet sich ihr verschwundener Wagen?
Gerne mehr Gemordet wird im friedlichen Island hauptsächlich in Krimis. Mit der 1988 in Akranes geborenen und aufgewachsenen Autorin Eva Björg Ægisdóttir und ihrem in Island preisgekrönten Debüt Verschwiegen, dem Auftakt zu einer neuen Serie, gibt es nun eine weitere lesenswerte isländische Krimistimme.
Auch wenn die Vielzahl der Personen mit den ungewohnten Namen zu Beginn erschreckend wirkte, ließen sie sich doch erstaunlich schnell zuordnen. Kleinere Unstimmigkeiten, wenn das Ermittlerteam Verhören mehr Informationen entnimmt, als tatsächlich gesagt wurde, oder ein technisches Detail bei der Auflösung (Stichwort: Auto) haben mich nur kurz irritiert. Dafür hat mich die doppelte Spannung bezüglich des Mordfalls und Elmas Vergangenheit ausgezeichnet unterhalten und dem Team bin ich bei seinen Ermittlungen sehr gerne gefolgt. Die gelungenen Orts- und Charakterzeichnungen, die düstere Grundstimmung, eine zaghaft beginnende Liebesgeschichte, die Verbindungen zur Vergangenheit, die schwierige Situation des auch privat mit dem Ort und den Beteiligten verbundenen Ermittlerteams, gründliche Recherche statt oberflächlicher Rasanz, Elmas zwiespältiges Gefühl nach der Auflösung und das in allen Handlungssträngen wiederkehrende Motiv des Wegschauens haben mir sehr gut gefallen.
Schön, dass im August 2023 mit Verlogen bereits der zweite Band der Reihe erscheint.
Eva Björg Ægisdóttir: Verschwiegen. Aus dem Isländischen von Freyja Melsted. Kiepenheuer & Witsch 2022 www.kiwi-verlag.de
Nene und Boris, beide Mitte 20, sind keine Sonnenkinder. Sie stammen aus dem Norden der Stadt, wo es nicht so schön ist und die Lebensverhältnisse oft prekär sind. Auch für Nenes Vater war der Umzug von der bürgerlichen Südstadt, wo er mit seiner ersten Frau und der gemeinsamen Tochter Alma lebte, in die Nordstadt ein Abstieg. Dem Alkohol verfallen hat er seine zweite Frau und vor allem Nene körperlich und psychisch misshandelt, um den eigenen Frust abzubauen. Nenes Mutter ist an Krebs gestorben, als sie acht war, von da an wechselten sich Gewaltepisoden zuhause und Inobhutnahmen durch das Jugendamt ab, eine Vergewaltigung mit 17 kam hinzu. Nenes Halt und zweites Zuhause war das Schwimmbad, wo sich Trainer um sie bemühten. Mit 18 dann die erste eigene Wohnung, die Ausbildung zur Bademeisterin und eine Anstellung in ihrem Wunschberuf – mit Zielstrebigkeit und Kampf hat sie sich eine Position in der Welt ertrotzt. Geblieben ist eine ohnmächtige Wut auf die Eltern.
Von einer wilden Wut ist auch Boris durchdrungen. Er ist als Sohn einer verspäteten Hippie-Mutter das Opfer einer fehlenden Impfung gegen Kinderlähmung und leidet unter seinen kraftlosen Beinen, unter Schmerzen, seiner Arbeitslosigkeit und allgemeinem Spott. Der Mutter hat er vergeben, aber Hoffnung für die Zukunft hegt er nicht. Im Gegensatz zur geradlinigen, direkten Nene lügt er das Blaue vom Himmel herunter: aus Scham? Angeberei? Als Grenzüberschreitung?
Einsamkeit, alte Wunden und eine nie versiegende Trauer schleppen beide mit sich herum. Trotzdem vertragen sie eines nicht: Mitleid. Doch während Nene nur ihre Eltern hasst, verabscheut Boris die Menschen im Allgemeinen und vertraut niemandem.
Eine Trotzdem-Annäherung Weder Nene noch Boris sind auf der Suche nach der großen Liebe, als sie sich zufällig im Schwimmbad begegnen. Sie arbeitet, er braucht ein Schwimmbrett, das sie ihm gegen die Regeln ausleiht. Sein Hinken und seine großen Puma-Augen bemerkt Nene zuerst. Doch eine Liebe auf den ersten Blick ist es trotzdem nicht. Beide können die Schutzwälle, die sie mühsam aufgebaut habe, nur schwer aufgeben. Vor allem Boris ist eklig an seinen schlechten Tagen, von denen er viele hat.
Kein Wohlfühlbuch Der Debütroman Nordstadtder Lehrerin Annika Büsing wurde 2022 für den Bayerischen Buchpreis nominiert und mit dem Literaturpreis Ruhr ausgezeichnet. In drei Kapiteln, die sich wie ein Kreis schließen, denn der Beginn des ersten ist zugleich das Ende des dritten, erzählt Nene von einer ungewöhnlichen Liebe zwischen zwei Versehrten, denen das Leben übel mitgespielt hat. Wie hypnotisiert bin ich Nenes unsortierten Gedankengängen gefolgt, wechselweise angezogen und abgestoßen von der ruppigen, unverblümt-ehrlichen, rotzigen, mal fast poetischen, mal vulgären Erzählweise mit den kurzen, der gesprochenen Sprache entstammenden Sätzen. Die vorangestellte Warnung wegen der Beschreibungen körperlicher, psychischer und sexualisierter Gewalt ist in diesem Falle sicher berechtigt und nur aufgrund der lakonischen, oft ausgesprochen witzigen Stimme Nenes erträglich:
In der Historie von Pärchen, die miteinander schlafen wollen, sind wir das mit den meisten Fehlversuchen. (S. 24)
Trotz seiner nur 128 Seiten ist Nordstadtkein schnelles Buch und man muss die Drastik und Sprunghaftigkeit auszuhalten können. Überzeugt haben mich die außergewöhnliche Erzählstimme, die respektvolle Zuneigung der Autorin zu ihren beiden Antihelden, das Fehlen jeglichen Kitsches und der Mut zu Leerstellen.
Lange galt das preisgekrönte Werk des Spaniers Javier Marías in Deutschland als schwer vermittelbar. Zum Durchbruch verhalf ihm das Literarische Quartett vom 13.06.1996, in dem Marcel Reich-Ranicki, Hellmuth Karasek, Sigrid Löffler und Hajo Steinert seinen erstmals 1992 in Spanien veröffentlichten, 1996 ins Deutsche übersetzten Roman Mein Herz so weiß euphorisch lobten und ihn über Nacht zum Bestseller machten. 2022 verstarb der 1951 in Madrid geborene Autor kurz vor dem Gastlandauftritt Spaniens bei der Frankfurter Buchmesse, Anlass für mich, nun endlich seinen erfolgreichsten Roman zu lesen.
Ein furioser Auftakt Mein Herz so weiß beginnt mit einem Paukenschlag, einem Ereignis, das sich etwa 40 Jahre vor Beginn der eigentlichen Handlung zutrug. Völlig überraschend erschießt sich die junge Teresa, ihr Mann Ranz, Vater des Ich-Erzählers Juan, wird zum zweiten Mal Witwer. Juan wird erst einige Zeit nach diesem Drama geboren, seine Mutter ist Ranz‘ dritte Ehefrau und Teresas jüngere Schwester. Über der Tragödie liegt der Mantel des Schweigens.
Wer nun eine Krimihandlung erwartet, wird enttäuscht. Erst auf den letzten Seiten und nach vielen Handlungen an wechselnden Orten wird Teresas Motiv eher zufällig enthüllt, ohne Absicht von Juans Seite:
Ich wollte es nicht wissen, aber ich habe erfahren, daß eines der Mädchen, als es kein Mädchen mehr war, kurz nach der Rückkehr von der Hochzeitsreise das Badezimmer betrat, sich vor den Spiegel stellte, die Bluse aufknöpfte, den Büstenhalter auszog und mit der Mündung der Pistole ihres eigenen Vaters, der sich mit einem Teil der Familie und drei Gästen im Eßzimmer befand, ihr Herz suchte. (1. Satz, S. 9)
Zuvor berichtet Juan von seiner Hochzeitsreise mit Luisa, wie er in Havanna das dramatische Gespräch eines Liebespaares belauscht, und von seinen Zweifeln und bösen Vorahnungen nach der Eheschließung.
Viele Variationen verschiedener Themen Mit nur wenigen Dialogen und in langen, bis ins kleinste Detail eingefangenen Szenen variiert Javier Marías universelle Themen wie Liebe, Leidenschaft, Sex, Ehe, Tod, Verbrechen, Schuld und die Sprengkraft von Geheimnissen:
Du siehst, das eigene Leben hängt nicht von den eigenen Handlungen ab, davon, was man tut, sondern davon, was die anderen von einem wissen, was sie wissen, daß man getan hat. (S. 348)
Als Simultandolmetscher bei großen internationalen Organisationen und Sprachfetischist weiß Juan um die Macht des gesprochenen genauso wie des verschwiegenen Wortes. Herausragend und humorvoll ist die Szene, als er den dröge dahindümpelnden Smalltalk zweier Staatschefs durch kreative Übersetzungen belebt, während die ihm noch unbekannte, als Ko-Übersetzerin Luisa in seinem Rücken zuckt, aber nicht eingreift. Andere Szenen, wie die Partnersuche seiner ehemaligen Kommilitonen Berta, waren mir dagegen zu ausufernd und abstoßend.
Bezüge zu Macbeth und Blaubart Ich habe Mein Herz so weiß zwar nicht so begeistert gelesen wie Marcel Reich-Ranicki und seine Kollegen, doch kann ich die Einordnung als literarisch perfekt durchkomponiertes Meisterwerk verstehen. Genial verwoben sind die Bezüge zu Macbeth, nicht nur im Romantitel, sowie zum Märchen Blaubart. Allerdings mochte ich die Bandwurmsätze nicht und Juans völlig emotionslose, maximal distanzierte Schilderung seiner Beziehung zu Luisa und der frisch geschlossenen Ehe hat mich befremdet. Den langen philosophischen Gedankengängen Juans bin ich teils mit Freude gefolgt, manchmal haben sie mich aber auch ermüdet.
Ein nicht einfach zu lesender Roman, doch lohnt die Mühe.
Javier Marías: Mein Herz so weiß. Aus dem Spanischen von Elke Wehr. Mit einem Nachwort von Rainer Traub. Spiegel-Verlag 2006/2007
Die Schriftstellerin und Journalistin Dörte Hansen ist seit März 2022 die 37. Stadtschreiberin zu Mainz. Der Preis wird vergeben von der Stadt Mainz sowie den Sendern ZDF und 3sat.
Am 13.01.2023 war Dörte Hansen zu Gast bei der Buchhandlung Buch, Laden Ruthmann, die die Veranstaltung wegen der großen Nachfrage in den Kirchenraum der Evangelischen Kirchengemeinde Mainz-Hechtsheim verlegte.
Die Journalistin und ZDF-Nachrichtenmoderatorin Barbara Hahlweg moderierte die sehr gelungene Veranstaltung, bestens vorbereitet, unaufdringlich, locker und mit klugen Fragen.
Dörte Hansen berichtete über ihre Aufenthalte in Mainz, über ihr Schreiben und über den „comic relief“ in ihren Büchern, dem Stilmittel der Entlastung schwerer Texte durch Komik. Unterbrochen wurden das Gespräch für drei längere Lesepassagen aus Zur See.
Danke an Dörte Hansen, Barbara Hahlweg und Buch, Laden Ruthmann für eine sehr gelungene, heftig beklatschte Veranstaltung!
Der Perlentaucher oder Selbstporträt mit Altpapiercontainer
Containern oder Mülltauchen (engl. dumpster diving, daher auch Dumpstern) bezeichnet die Mitnahme weggeworfener Waren (meistens Lebensmittel) aus Abfallcontainern. (aus: Wikipedia)
Von ganz anderen Schätzen aus Mülltonnen erzählt der 1968 in Bregenz geborene Arno Geiger in Das glückliche Geheimnis, einem autobiografischen Werk, auch wenn er einschränkt:
Mir ist klar, ein Buch über mich selbst, das ist schwierig, schwieriger als ein Roman. […] Das Erzählte ist nie wahr. (S. 194/195)
Ein Vierteljahrhundert lang, von seiner Studentenzeit in den 1990er-Jahren bis ungefähr zu seinem 50. Geburtstag, drehte Arno Geiger in Wien regelmäßig seine „Runden“, tauchte in Räuberkleidung in Altpapiertonnen, holte sich Schrammen, blaue Flecken, gebrochene Rippen, Bänder- und Muskelverletzungen. Was mit dem Zufallsfund von fünf Bananenkartons voller Bücher begann, sicherte zunächst dem Studenten, später dem zunächst erfolglosen Autor auf Flohmärkten oder bisweilen im Auktionshaus ein Auskommen, befriedigte seine Abenteuerlust, bot einen körperlichen Ausgleich an der frischen Luft zur sitzenden Tätigkeit am Schreibtisch, half beim Frustabbau und wurde in Form von Tagebuch-, Brief- und anderen persönlichen Funden zur unerschöpflichen Quelle für seine Schriftstellerei. Das Individuelle, Zufällige, Authentische in Briefen und Alltagstexten, der unzensierte Sprachgebrauch und Erfahrungen außerhalb seiner Lebenswelt schärften seine Menschenkenntnis und sein Einfühlungsvermögen, für das ihn der Literaturkritiker Denis Scheck ein „Empathiemonster“ nannte. Mit den geretteten Büchern, Briefmarkensammlungen, lithografierten Postkarten, Druckgrafiken, Plakaten, alten Comics, historischen Wertpapieren und anderem ausrangierten Papiergut verband ihn „so etwas wie Zärtlichkeit“ (S. 96), eine Zuneigung, die wohl jeder Papierfan problemlos nachempfinden kann.
Rückschläge und Erfolge
Doch Das glückliche Geheimnis ist mehr als die Enthüllung einer überaus sympathischen Leidenschaft, die erst jetzt ans Licht kommt, wo sie aufgegeben ist, und für die er, das Mittelstandskind, sich anfangs als einer „Grenzüberschreitung nach unten“ (S. 20) schämte. Parallel erzählt Arno Geiger vom mühsamen Werden eines Schriftstellers, von Talent, Training, Sturheit, Fleiß und Frustrationstoleranz, von Konflikten mit dem Hanser Verlag, der nach ersten finanziellen Misserfolgen auf Abstand ging, von seinem treuen Lektor, von Stipendien, vom Durchbruch 2005 mit Es geht uns gut, für das er den erstmals verliehenen Deutschen Buchpreises erhielt, vom darauf folgenden Burnout, von Bestsellern wie beispielsweise 2011 Der alte König in seinem Exil und zuletzt 2018 Unter der Drachenwand, von der Demenzerkrankung seines Vaters, dem Schlaganfall der Mutter und weiteren Tragödien im Familien- und Freundeskreis, von seiner Liebe zu seiner Frau K., aber auch – und nur das für mich zu ehrlich und detailliert – von seinem lange chaotischen Beziehungsleben.
Weiterschreiben! Im letzten Teil des Buches geht Arno Geiger dann über das Private hinaus, sinniert über die Bedeutung des Mülls für die Kulturwissenschaften, über Sammeln und Wegwerfen als Kulturtechnik, die sich verändernde Zusammensetzung des Papiermülls, alles in glasklar formulierten, gut nachvollziehbaren Gedankengängen, denen ich sehr gerne gefolgt bin:
Das ist es, worum es mir in der Literatur geht: das Leben sichtbar und dadurch verständlicher machen. (S. 97)
Immer hatte ich dabei auch meine eigene Papiertonne vor Augen und versuchte, sie mit seinem kritischen Blick zu durchwühlen.
Eine Überlegung allerdings wird für Arno Geiger hoffentlich noch lange nicht aktuell:
Wie mache ich das, mit der Kunst zu enden? (S. 217)
Wer so rundum gelungen, unterhaltsam, anregend, reflektiert, liebenswert, erfrischend offenherzig und selbstironisch zu schreiben versteht, bleibt dem Buchmarkt hoffentlich noch sehr lange erhalten.
1968 gewann Yambo Ouologuem(1940 – 2017) aus Mali den Prix Renaudot für seinen Debütroman Le Devoir de violence und verschwand nach Plagiatsvorwürfen von der Bildfläche. Dieses Ereignis lieferte dem 1990 im Senegal geborenen Mohamed Mbougar Sarr die Anregung für seinen 2021 mit dem Prix Goncourt ausgezeichneten vierten Roman Die geheimste Erinnerung der Menschen.
Ein Kultbuch aus dem Nichts
Elimane Madag Diouf, ein 1935 geborener Senegalese, kommt 1935 zum Studium nach Frankreich. 1938 veröffentlicht er unter dem Namen T.C. ElimaneDas Labyrinth des Unmenschlichen, ein Kultbuch, das jedoch sowohl in den positiven als auch den negativen Pressestimmen auf die Herkunft und Hautfarbe des Autors reduziert wird. Als ein rassistischer Afrika-Ethnologe zudem Lügen verbreitet und ein Kritiker Plagiatsvorwürfe erhebt, verschwindet das Buch komplett vom Markt, der Verlag geht Pleite, Elimane verstummt und wird zur Legende.
Suche nach einem Fantom
2018 spielt der Zufall in Paris ein verbliebenes Exemplar in die Hände eines weiteren literarisch ambitionierten Senegalesen: Diégane Latyr Faye. Von nun an ist er von der Idee besessen, Elimanes weiteren Lebensweg zu rekonstruieren und das Rätsel um sein Schweigen zu lösen. Beharrlich sammelt er Puzzlesteine, zunächst im Pressearchiv, dann hauptsächlich mit Hilfe von Frauen aus Elimanes Umfeld: seiner Verwandten und ebenfalls senegalesischen Schriftstellerin Marème Siga D., seiner ehemaligen Verlegerin ThérèseJacob, der Journalistin Brigitte Bollème und einer namenlosen haitianischen Dichterin.
Keine Nebenbei-Lektüre Mohamed Mbougar Sarr macht es seinem Publikum nicht leicht und verlangt durch die sprunghaften Erzählerwechsel, verschiedene Zeitebenen und Wechsel zwischen Kontinenten ein Höchstmaß an Konzentration. Im ersten Viertel des Romans hätte ich fast aufgegeben, so unübersichtlich schien mir die Polyphonie, so extravagant die Fremdwörter, deren Sinn sich mir manchmal nicht einmal beim Nachschlagen erschloss. Doch Durchhaltevermögen wird hier belohnt und das scheinbare Durcheinander zunehmend beherrschbarer. Die Identifikation der Stimmen und die Vielzahl der Nebenhandlungen und Einzelgeschichten machten mir zunehmend Spaß und die Tatsache, dass man kaum etwas über Das Labyrinth des Unmenschlichen erfährt, stattdessen nur über die ungeheure Wirkung auf die Leserinnen und Leser staunt, hat mich immer weniger gestört. Akzeptieren musste ich jedoch, dass mir garantiert viele Anspielungen und ironische Details verborgen blieben.
Gedanken, die über die Lektüre hinaus wirken
Außergewöhnlich an diesem Roman sind einerseits die deutlich unterscheidbaren Stimmen und das Feuerwerk aus unterschiedlichsten Textsorten wie Berichten, Tagebüchern, Pressemeldungen, Gesprächen, Briefen und mit „Biographem“ überschriebenen Abschnitten, andererseits der teils satirische Blick auf die Literaturwelt, die Darstellung des durch die Kolonisation zerrissenen Senegals und die Gedanken über die ganz besonderen Herausforderungen an Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus dem frankophonen Afrika. Das Dilemma beschreibt ein kongolesischer Kollege Diéganes so:
Er [Elimane] bewies, dass sein kulturelles Wissen alles umfasste, um als Weißer zu gelten; doch man hat ihn nur umso nachdrücklicher daran erinnert, dass er ein Schwarzer war. […] Die Kolonisation sät bei den Kolonisierten Verzweiflung, Tod, Chaos. Doch sie sät in ihnen auch – und das ist ihr teuflischster Erfolg – den Wunsch zu werden, was sie zerstört. Das ist Elimane: die ganze Trostlosigkeit der Entfremdung. (S. 406)
Ein würdiger Preisträger, der das Handwerk des Erzählens ohne Frage beherrscht.
Mohamed Mbougar Sarr: Die geheimste Erinnerung der Menschen. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. Hanser 2022 www.hanser-literaturverlage.de
Weitere Rezensionen zu Siegertiteln des Prix Goncourt auf diesem Blog:
Meine liebsten Bücher 2022 sind nicht alle in diesem Jahr erschienen, sie haben mich aber im Laufe des Jahres am nachhaltigsten beschäftigt und sind zu Freunden geworden. Mein Kriterium ist dabei weder, dass die Bücher sich bereits über lange Zeit als Klassiker bewährt haben, noch die Überzeugung, dass sie auch in hundert Jahren noch gelesen werden. Es ist eine subjektive Auswahl von Titeln, die für mich im genau richtigen Augenblick kamen.
Wie 2022 haben es auch in diesem Jahr wieder 17 Bücher unterschiedlicher Genres auf meine persönliche Hitliste geschafft. Geordnet sind sie nach dem Zeitpunkt meiner Lektüre im Verlauf des Jahres 2022. Ein Schwerpunkt liegt auf der skandinavischen Literatur, nicht zuletzt wegen einer eindrücklichen Norwegenreise im Sommer 2022.