Ein herausragendes Debüt
In der vorpommerschen Kleinstadt Demmin kam es beim Einzug der Roten Armee im Frühjahr 1945 zu einem beispiellosen Massensuizid mit geschätzten 500 bis 1000 oder mehr Ziviltoten. Hier hat die 1988 in Hamburg geborene Autorin Verena Keßler ihren bereits 2020 erschienenen Debütroman angesiedelt, nicht als historischen Roman, sondern in der Gegenwart spielend, in der die Tragödie noch immer nachwirkt.
Zeitzeugen und Nachgeborene
In Nachbarhäusern leben die 90-jährige Lore Dohlberg und die 15-jährige Neuntklässlerin Larry mit ihrer alleinerziehenden Mutter. Kontakt gibt es kaum, doch beobachtet Frau Dohlberg das Mädchen bei waghalsigen Überlebensübungen in Vorbereitung auf eine Karriere als Kriegsreporterin und Larry sieht die alte Frau abends allein am Küchentisch.
Jung…
Die Mehrzahl der Abschnitte wird aus Larrys Ich-Perspektive erzählt. Wie für ausnahmslos alle im Roman spielt der Tod eine große Rolle in ihrem Leben. Sie und ihre Eltern sind gleich doppelt belastet: einerseits durch das generationenvererbte Kriegstrauma, andererseits durch den Tod ihres Bruders unmittelbar vor ihrer Geburt, an dem die Familie zerbrach. In ihrer Freizeit jobbt Larry ausgerechnet auf dem Friedhof, säubert Gräber und Wege, auch das Massengrab:
Es ist nicht so, dass ich das Massengrab gruselig finde. Und Angst hab ich schon gar nicht. Sind schließlich alle tot. Aber ich stell mir immer vor, dass die da unten kreuz und quer liegen, die Füße des einen im Gesicht des anderen, und dann bekomme ich so ein enges Gefühl und würde am liebsten ein Stück rennen, einfach nur, weil ich’s kann. (S. 21/22)
Über all das wird meist geschwiegen, und so braucht Larry ein Ventil in Form eines vorbereitenden Überlebenstrainings für die Kriegsreporterkarriere. Dazu schaut sie sich gruselige Dokus an, hängt kopfüber vom Baum, hält die Hand ins Eiswasser, sperrt sich ein oder liegt Probe in einem ausgehobenen Grab, immer gegen die Stoppuhr und mit dem Ziel der Schmerzunempfindlichkeit.
… und Alt
Während Larry von einer Zukunft außerhalb der verschlafenen Kleinstadt träumt, muss Frau Dohlberg, deren Abschnitte personal erzählt werden, für den Umzug ins Seniorenheim ihr Elternhaus ausräumen:
Das Haus klingt anders mit jedem Stück, das aus ihm verschwindet. (S. 166)
Umso heftiger kehren die Erinnerungen zurück:
Als sie die Augen schließt, sind sie wieder da, die Bilder. Jahrelang waren sie weg, jetzt kommen sie wieder, immer häufiger, rauschen vorbei, die Leichen im Fluss. (S. 15)
Trotzdem keine niederdrückende Lektüre
Überall in diesem Roman wird gestorben und getrauert, dennoch habe ich ihn nicht als niederdrückende Lektüre empfunden, nicht nur wegen der Hoffnungszeichen am Ende. Das liegt an Verena Keßlers sparsamer Erzählweise, die mit viel Empathie für jede Figur einerseits den tiefen Schmerz aufnimmt und das Grauen klug strukturiert häppchenweise enthüllt, andererseits an Larrys lässig-cool, oft zynisch und humorvoll erzählter Teenagerrebellion. Im Gegensatz zu Als Großmutter im Regen tanzte von Trude Teige, das ebenfalls vom Demmin-Trauma handelt, fehlt hier jeder Kitsch, sitzt jeder Satz, sind die Dialoge gelungen und wird nicht alles auserzählt und gedeutet, weshalb mich Die Gespenster von Demmin ungleich mehr berührt hat.
Ein höchst empfehlenswerter Debütroman über verdrängte Erinnerung, Sprachlosigkeit, Trauer, Tod und Einsamkeit, für Erwachsene und ältere Jugendliche gleichermaßen geeignet.
Verena Keßler: Die Gespenster von Demmin. dtv 2023
www.dtv.de
Weitere Rezension zu einem Roman über Demmin auf diesem Blog: