Alex Schulman: Verbrenn all meine Briefe

  Familienpuzzle

Wie viele unserer Gefühle und Verhaltensmuster sind vererbt? Diese Frage war Ausgangspunkt für die Recherchen des 1976 geborenen, in Schweden mittlerweile viel gelesenen Autors Alex Schulman. Seine eigene unkontrollierte Wut, Reizbarkeit und Überreaktion auf Rückschläge gefährdeten seine Familie, an seinen Kindern erkannte er die ihm aus der eigenen Kindheit vertrauten Anzeichen von Angst und vorbeugendem Schutzverhalten. Eine Familienaufstellung ergab Aggressionspotential auf der mütterlichen Seite:

Ich will die Dunkelheit in mir verstehen, die dabei ist, mein Verhältnis zu meiner Familie zu zerstören. Ich bin auf der Jagd nach meiner Wut. (S. 31)

Kindheitserinnerungen an Besuche bei den Großeltern ließen im Großvater Sven Stolpe (1905 – 1996) die Schlüsselfigur vermuten, einem bedeutenden schwedischen Schriftsteller, Übersetzer, Journalisten, Literaturkritiker und tiefgläubigen Christen, verheiratet mit der Übersetzerin Karin Stolpe (1907 – 2003):

Auf unterschiedliche Weise zerstörte Stolpe das Leben seiner Kinder. Und das Gift wirkt über Generationen fort. Wir lernten alle, einander und die Welt zu hassen. (S. 40)

Früh nahm Alex Schulman die große Angst und Unterwürfigkeit der Großmutter vor dem despotischen Großvater wahr, der vernichtende und demütigende Urteile über Familienmitglieder wie Kollegen fällte.

Ein echter Thriller
Was Alex Schulman bei seinen puzzleartigen Recherchen aufdeckte, nimmt es leicht mit einem Thriller auf. Anhand der Bücher und Briefe seines Großvaters, bei Recherchen in Archiven und an Originalschauplätzen, insbesondere jedoch mit dem Tagebuch von Olof Lagercrantz (1911 – 2002), einem ebenfalls bedeutenden Schriftsteller, Kritiker und langjährigen Chefredakteur der Tageszeitung Dagens Nyheter, sowie dessen Korrespondenz mit Karin konnte er aufdecken, was sich hinter Svens Bemerkung verbarg, er wäre im Sommer 1932 „Opfer eines sexuellen Attentats“ (S. 52) geworden, durch das er „den Glauben an die Menschheit verlor“ (S. 50): eine ebenso wahre wie zutiefst bewegende, schließlich lebensgefährliche Liebesgeschichte. Minutiös sind die Tage zwischen dem 20. Juni und dem 9. Juli 1932 rekonstruiert, gebannt bin ich diesem missglückten Ausbruchsversuch aus einer albtraumhaften Ehe mit einem nüchternen Tyrannen und Narzissten gefolgt. Bis an ihr Lebensende träumte Karin vom „Land, das nicht ist“ (S. 261), der Romantiker Olof versteckte seine Sehnsucht nie vor seiner Familie und besang „die Liebe seines Lebens“ (S. 127) bis zuletzt in Büchern und Gedichten.

© B. Busch

Ein wahrer Roman
Aber nicht nur was erzählt wird, auch das Wie ist grandios. Die drei Zeitebenen Sommer 1932, ein Besuch bei den Großeltern 1988 und die Gegenwart sind meisterhaft verwoben, Charaktere stimmig gezeichnet, die Sprache konzentriert und klar. Immer wieder hinterfragt Alex Schulman selbstkritisch seine Motivation und die Auswirkungen auf seine Zukunft. Meine anfängliche Skepsis wegen der Intimität verflog rasch, denn einerseits sind die Geschehnisse so offensichtlich, dass die Literaturwissenschaft sie irgendwann aufgedeckt hätte, andererseits hat die Familie Lagercrantz der Einbindung von Tagebucheinträgen und Briefen zugestimmt und Alex Schulman holt für jedes seiner familienbiografischen Bücher die Zustimmung seiner Brüdern ein. Außerdem ist der Roman, und als solchen bezeichnet ihn Alex Schulman trotz der Quellentreue, kein Vernichtungsbuch, wie es Sven Stolpe beispielsweise über Olof Lagercrantz verfasste; im Gegenteil gibt es zuletzt sogar einen Erklärungsversuch für sein Verhalten.

Habe ich den familienbiografischen Roman Die Überlebenden von Alex Schulman 2021 sehr gern gelesen, so gefiel mir nun das im schwedischen Original schon 2018 erschienene, 2022 verfilmte Verbrenn all meine Briefe sogar noch besser. Ein neuer literarischer Autor, von dem ich mir garantiert kein Buch mehr entgehen lasse!

Alex Schulman bei einem Zoom-Meeting zu Die Überlebenden am 15.08. 2021. © B. Busch

Alex Schulman: Verbrenn all meine Briefe. Aus dem Schwedischen von Hanna Granz. dtv 2022    
www.dtv.de   

 

Weitere Rezension zu einem Roman von Alex Schulman auf diesem Blog:

         

Charles Lewinsky: Sein Sohn

  Unstillbare Sehnsucht

Charles Lewinsky sucht sich nach eigenem Bekunden für seine Romane Stoffe, nicht Epochen. Deswegen ist Sein Sohn mehr noch zeitlose Geschichte vor bunt koloriertem historischem Hintergrund als historischer Roman. Über das real existierende Vorbild für den Protagonisten ist nur bekannt, dass er im Dezember 1794 geboren, in einem Waisenhaus in Mailand abgegeben wurde, wo sich seine Spur verliert, und wer seine Eltern waren. Damit hatte Charles Lewinsky alle Freiheit, Louis Chabos, wie er ihn nennt, ein ganzes Leben zu schenken mit zahlreichen Ortswechseln, vielen Schicksalsschlägen, aber auch unverhofften Höhen und vor allem mit einer übermächtigen Sehnsucht nach der eigenen Identität und Zugehörigkeit.

Dramatischer Beginn
Louis Chabos‘ Start ins Leben hätte kaum schwieriger verlaufen können: Zuerst überlebt er nur knapp eine Fußgeburt, dann brennt die Amme durch. Nur der Platz im Waisenhaus ist ihm wegen des für 18 Jahre im Voraus bezahlten Kostgelds garantiert. Von den anderen Kindern geschlagen und gemobbt, lauscht der kleine, zierliche Junge ungläubig dem Märchen vom Waisenknaben, der sich als Königskind entpuppt und – wichtiges Detail – von seinem Vater per Herold gesucht wird.

Nach zwölfjährigem Martyrium wendet sich Louis Chabos‘ Schicksal, als ihn ein verarmter Marchese aufnimmt und ihm beibringt, was er zum Überleben braucht: Manieren, Wehrhaftigkeit, Selbstbewusstsein und den Umgang mit der Angst.

Auf und Ab
Es folgen Jahre als jugendlicher Landstreicher unter anderen Außenseitern und als 15-jähriger Soldat im Elend von Napoleons Russland-Feldzug, die Rückkehr als Versehrter, Hoffnungslosigkeit, aber immer wieder eine helfende Hand und vor allem ein neues Ziel: die Herkunft klären, die Eltern finden. Was ihm zunächst das Leben rettet, wird zur fixen Idee, die Louis Chabos tragischerweise auch nicht aufgeben kann, als er in Ziziers im Kanton Graubünden sein Glück findet. 1830 folgt er einer Spur nach Paris, in die Stadt der Revolution, der Cholera und des neuen Bürgerkönigs Louis-Philippe:

Wenn man auf einem Zusammensetzspiel plötzlich ein Bild erkennt, müssen die Teile in der richtigen Ordnung liegen. (S. 268)

© B. Busch

Spannend und unterhaltsam erzählt
Charles Lewinsky schildert den historischen Hintergrund und das Schicksal eines Mannes auf der Suche nach seinen Wurzeln so fesselnd, lebendig und absolut rund, dass man sich bei der Lektüre mittendrin im Waisenhaus, im Gefängnis, im Krieg, im Hinterzimmer eines Apothekers, in der Psychiatrie oder bei den Pariser Lumpensammlern fühlt. Ich habe mitgefiebert, obwohl das Einstiegskapitel nichts Gutes verheißt, hätte Louis Chabos gern zugerufen, sein Glück nicht für eine Idee aufs Spiel zu setzen, aber nichts und niemand ihn hätte abhalten können.

Sein Sohn ist ein spannender, routiniert erzählter, tragischer und doch oft komischer Roman mit hohem Unterhaltungswert. Die 106 kurzen Kapitel entfalten einen Sog und fliegen geradezu vorbei, die Handlung schreitet temporeich in großen Schritten vorwärts, Geschichte reiht sich an Geschichte und die bis zum Äußersten verknappten Sätze in moderner Sprache sind leicht lesbar. Auch wenn der Roman für mich nicht an Charles Lewinskys herausragendes Buch Melnitz heranreicht und nicht ganz die Originalität von Der Halbbart aufweist, kann ich ihn doch als vergnügliche, garantiert nie langweilige Lektüre für eine breite Leserschaft sehr empfehlen.

Charles Lewinsky: Sein Sohn. Diogenes 2022
www.diogenes.ch

 

Weitere Rezensionen zu Romanen von Charles Lewinsky auf diesem Blog:

Leïla Slimani: Schaut, wie wir tanzen

  Postkoloniales Marokko

Im ersten Band, Das Land der Anderen, der nach Motiven der eigenen Familiengeschichte von Leїla Slimani verfassten Trilogie steht der Zitrangenbaum symbolisch für die Familie Belhaj. Die Elsässerin Mathilde ist ihrem Mann Amine 1946 in seine Heimat Marokko gefolgt, wo nicht nur sie, sondern auch Amine und ihre Tochter Aїcha sich fremd fühlen. Sie sind wie der Zitrangenbaum mit den ungenießbaren Früchten, der Orangenbaum mit dem eingesetzten  Zitronenzweig.

Tänzer und Zuschauer
Der zweite Band, Schaut, wie wir tanzen, setzt 1968 gut zehn Jahre nach dem Ende des ersten und nach der Befreiung Marokkos aus französischer Kolonialherrschaft ein. Amine hat die ererbte karge Farm dank eiserner Willenskraft, Klugheit und Fleiß zum modernen, erfolgreichen Agrarbetrieb umgestaltet und wird von der neuen Oberschicht Marokkos umworben, die in Bildung und Auftreten den ehemaligen Kolonialherren gleicht. Wieder tanzen nur wenige, die Mehrheit schaut zu.

© B. Busch

Im April 1968 weicht der Zitrangenbaum einem Pool, sichtbares Zeichen des Aufstiegs, dem Amine jedoch misstraut:

Da begriff Mathilde, dass ihr Mann sein ganzes Leben lang Angst haben würde, man könnte ihm wieder entreißen, was er errungen hatte. Für ihn war jedes Glück unerträglich, da er es den anderen gestohlen hatte. (S. 332)

Und noch etwas bedrückt Amine, der, attraktiver denn je, Mathilde betrügt und sie dennoch auf seine Art liebt: Keines seiner Kinder wird die Farm weiterführen. Aїcha, sein Augenstern, studiert zunächst in Straßburg Medizin, heiratet 1972 den aufstrebenden Wirtschaftswissenschaftler Mehdi Daoud, Spitzname Karl Marx, und lebt als Gynäkologin in Rabat, Selim, Liebling Mathildes, ohne Ehrgeiz und vom Vater verachtet, flieht in die internationale Hippiekolonie nach Essaouira und verlässt schließlich Marokko.

Auch die Schicksale anderer bekannter Familienangehöriger verfolgt der Roman weiter: Amines zwangsverheirateter Schwester Selma, ihrer durch einen missglückten Abtreibungsversuch gezeichneten Tochter Sabah, ihrem traumatisierten Mann Mourad und Amines bei der Geheimpolizei tätigem Bruder Omar.

Alle Figuren erleben mehr Enttäuschungen als Glücksmomente und geben doch nicht auf.

Tänzer und Zuschauer
Während im Band eins die ältere Generation im Mittelpunkt stand, ist es nun die jüngere. Sie verkörpern die Widersprüche des postkolonialen Landes mit seinen enormen Unterschieden zwischen Stadt und Land, Armen und Reichen, Gebildeten und Ungebildeten. Amine verehrt Hassan II und geiselt die Landflucht, die intellektuelle städtische Elite kämpft gegen die Bildungsfeindlichkeit des Königs und dessen Unterdrückung der Opposition.

Eine kongeniale Fortsetzung
Die 1981 in Rabat geborene französisch-marokkanische Gewinnerin des Prix Goncourt Leїla Slimani lebt seit Sommer 2021 für die Fertigstellung ihrer Trilogie in Lissabon, zwischen Frankreich und Marokko, um den Ablenkungen und Versuchungen in Paris entfliehen – wie beispielsweise einer Nacht im Museo Punta della Dogana in Venedig, die zu ihrem exzellenten autobiografischen Büchlein Der Duft der Blumen bei Nacht führte, aber für eine Unterbrechung ihrer Arbeit an Band eins sorgte. Dass sich der Rückzug lohnt, beweist Schaut, wie wir tanzen eindrucksvoll. Auf geniale Weise verbindet Leїla Slimani erneut Einzelschicksale und Familienschicksal mit Marokkos Suche nach einer Vision für die postkoloniale Zeit. Glaubhafte, ambivalente, sich weiterentwickelnde Charaktere, starke Frauenfiguren, eine präzise Sprache, Vielstimmigkeit und Unvoreingenommenheit machen auch diesen zweiten Band so wertvoll. Allerspätestens jetzt gehört Leїla Slimani für mich zu den wichtigsten Autorinnen der Gegenwartsliteratur.

Leïla Slimani: Schaut, wie wir tanzen. Aus dem Französischen von Amelie Thoma. Luchterhand 2022
www.penguinrandomhouse.de

 

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Eeva-Liisa Manner: Das Mädchen auf der Himmelsbrücke

  Zwischen Wasser und Himmel

Das Heben unbekannter Schätze der nord- und osteuropäischen Literatur ist das Markenzeichen von Sebastian Guggolz und seinem Verlag. Nicht nur wegen der räumlichen Nähe und der ebenso außergewöhnlich schönen Einbandgestaltung erinnert Das Mädchen auf der Himmelsbrücke der finnischen Lyrikerin, Prosaautorin und Übersetzerin Eeva-Liisa Manner (1921 – 1996) an die wundervollen Romane des Norwegers Tarjei Vesaas (1897 – 1979), auch inhaltlich, bezüglich der lyrischen Sprache und der magischen Bilder gibt es Parallelen zu Das Eis-Schloss und Die Vögel. Umso erstaunlicher, dass von Eeva-Liisa Manner, die als Pionierin der literarischen Moderne Finnlands gilt, bisher nur einige Gedichte ins Deutsche übersetzt wurden. Nun liegt ihr Romandebüt von 1951 auf Deutsch vor und wie immer würdigt der Guggolz Verlag den Übersetzer Maximilian Murmann auf dem Einband.

Kein Märchen – trotz märchenhafter Anklänge
Die neunjährige Leena wächst bei ihrer Großmutter auf, einer von Schicksalsschlägen gebeutelten, streng protestantischen, schattenartigen Frau, die „ihre Zärtlichkeit längst aufgebraucht“ (S. 29) hat. Elternlos fühlt Leena eine Einsamkeit in sich, für die sie keine Worte findet. Sie sehnt sich nach Liebe und Geborgenheit, doch wenn das Schicksal ihr einen Zipfel vom Glück zuspielt, entgleitet er ihr. Der Nachbarsjunge mit den abenteuerlichen Spielen und Geschichten ist genauso aus ihrem Leben verschwunden wie der Drehorgelmann, der heißgeliebte Onkel Eevertti Anselmi kommt selten und steht unter Beobachtung seiner eifersüchtigen Frau. Nur die strenge, steinharte, ungerechte Lehrerin, die sie fürchtet, „so, wie sie alle Menschen fürchtete, die kein Lächeln besaßen“ (S. 11), bleibt neben der Großmutter eine Konstante in Leenas Leben.

Ihr Zufluchtsort ist eine Brücke über eine Meeresbucht am Stadtrand. Zwischen dem ebenso geliebten wie gefürcheten Wasser und dem Himmel kann sie ihren Sehnsüchten, Gedankenspielen und Träumen freien Lauf lassen:

Unter Wasser ziehen… Aber im Wasser konnte sie nicht leben. Was für ein Gefühl wäre es wohl, im Wasser zu sterben? (S. 22)

Eine Wende scheint greifbar, als Leena bei einem Spaziergang in eine römisch-katholische Kirche kommt und dort nicht nur einer freundlichen Nonne, sondern auch der Orgelmusik von Johann Sebastian Bach begegnet. So wie der Protagonist Mattis in Tarjei Vesaas‘ Die Vögel im Balzflug der Waldschnepfe einen Wendepunkt in seinem Leben zu erkennen glaubt, so eröffnet sich auch für die von der Musik völlig überwältigte Leena eine neue Welt.

Leena – das Mädchen zwischen Wasser und Himmel mit dem Wiesenkerbel und dem violetten Regenschirm. © B. Busch

Eigene Kindheitstraumata
Das Mädchen auf der Himmelsbrücke gilt als stark autobiografischer Roman und spielt in Viipuri (Wyborg), Manners karelischer Kindheitsstadt, die Finnland im Winterkrieg 1939/40 an die Sowjetunion verlor. Im Anfangssatz nimmt sie den Verlust vorweg:

Es war einmal, nicht weit von hier und vor nicht allzu langer Zeit, ein Stück Geometrie, das zu Holz und Stein geworden war, eine Stadt, die es nicht mehr gibt. (S. 7)

Auch wenn das nur 134 Seiten umfassende, für eine Leserschaft abseits des Mainstreams bestens geeignete Büchlein mich bei Leenas Gespräch mit dem blinden Organisten kurzzeitig verlor, fand ich glücklicherweise schnell zurück in diese in luftiger Prosa konsequent aus Leenas Sicht erzählte, auf der Grenze zwischen Realität und Traum balancierende Geschichte eines empfindsamen, sehnsüchtigen Kindes.

Antje Rávic Strubel würdigt in ihrem ebenso hilfreich-informativen wie persönlichen Nachwort Autorin und Werk gleichermaßen.

Eeva-Liisa Manner: Das Mädchen auf der Himmelsbrücke. Aus dem Finnischen von Maximilian Murmann. Mit einem Nachwort von Antje Rávik Strubel. Guggolz 2022
www.guggolz-verlag.de

Tarjei Vesaas: Die Vögel

  Ängste und Gedanken eines „Dussels“

Mattis ist anders, ein 37-Jähriger mit dem Gemüt eines Kindes. Für die Menschen im Dorf ist er der „Dussel“, für seine drei Jahre ältere, pragmatisch-nüchterne Schwester Hege Verpflichtung, Last und Sorge. Er taugt mit seinen Gedanken, die „sich während der Arbeit verirrten, kreuz und quer gingen, ihn lähmten“ (S. 52) nicht zum geregelten Broterwerb, empfindet schmerzlich seine Abhängigkeit von der unermüdlich für Geld strickenden Hege und hat gleichzeitig eine Heidenangst, sie zu verlieren. So fein sein Gespür für erlittene Geringschätzung ist, so unsensibel und ich-bezogen tritt er ihr gegenüber auf:

„Denk auch ein bisschen an andere“, sagte sie. „Das muss man als Erwachsener.“
„Was für andere?“ fragte er hilflos, und sie erschrak. (S. 205)

„Warum ist es so, wie es ist?“ (S. 68)
Mattis leidet unter seiner Einsamkeit, fühlt sich verloren, beobachtet neidvoll fremdes Liebesglück, sehnt sich nach Menschen, die ihm vorurteilsfrei begegnen, und pflegt eine intime, ganz eigene Naturverbundenheit. Als eine Waldschnepfe mehrmals im Balzflug über ihr ärmliches Haus in einer moorigen Senke unweit von Wald und See streift, ist er zutiefst ergriffen und fühlt einen Wendepunkt seines Schicksals. Während sein Umgang mit Menschen kompliziert ist, kommuniziert er federleicht mit der Natur und nimmt Zeichen wahr, die allein er deuten kann.

© B. Busch

Eine veränderte Hege
Früh schleichen sich in die Handlung böse Vorzeichen ein, doch blieb die Art der sich abzeichnenden Katastrophe für mich lange spannend. Ihren Anfang nimmt sie, als ausgerechnet Mattis einen Fremden, den Holzfäller Jørgen, mit nach Hause bringt, und das geschwisterliche Duo zum Trio wird:

Mattis fragte mühsam:
„Seid ihr ein Liebespaar? […]
„Ja, sind wir“, sagte sie zu ihm. Und ob sie es nun vorhatte oder nicht, in ihrem Gesicht leuchtete ein großes Lächeln, größer als jedes, das Mattis je an ihr gesehen hatte. (S. 199/200)

Für Mattis steht fest: Er hat Hege verloren.

Die überfällige Wiederentdeckung eines modernen Klassikers
Die Vögel aus dem Jahr 1957 gehört neben Das Eis-Schloss zu den bekanntesten Romanen des mehrfach für den Literaturnobelpreis nominierten Norwegers Tarjei Vesaas (1897 – 1957). Wie sein von der Westküste stammender Landsmann Edvard Hoem schrieb auch der in der Provinz Telemark geborene Vesaas seine Bücher in der Minderheitensprache Nynorsk, einer auf westnorwegischen Dialekten beruhenden, vor allem von Arbeitern und Bauern benutzten Sprache. Wie Hoem verzichtete auch Vesaas als ältester Sohn auf sein Hoferbe, um zu schreiben. Dass seine beiden wichtigsten Romane inzwischen wieder auf Deutsch vorliegen, verdanken wir dem außergewöhnlichen Guggolz Verlag und dem Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel, der für die Übertragung von Die Vögel 2021 für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung nominiert war.

2020 gehörte Das Eis-Schloss zu meinen absoluten Lieblingsbüchern, nun hat sich Die Vögel dazugesellt, ein berückend schöner, einfühlsamer, schlichter und trotzdem poetischer Roman über die andersartige Gedankenwelt eines geistig einfachen Mannes, der so gern wie alle wäre, und seine tüchtige Schwester, der ein spätes Glück winkt.

Das ausgezeichnete, wertvoll erläuternde Nachwort von Judith Hermann und die Auszeichnung von Karl Ove Knausgård als “bester norwegischer Roman, der je geschrieben wurde“ würdigen den Roman in angemessener Weise.

Tarjei Vesaas: Die Vögel. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Mit einem Nachwort von Judith Hermann. Guggolz 2020
www.guggolz-verlag.de

 

Weitere Rezension zu einem Roman von Tarjei Vesaas auf auf diesem Blog:

 

Weitere Rezensionen zu Romanen mit geistig behinderten Protagonisten auf diesem Blog:

 

Stefanie vor Schulte: Schlangen im Garten

  Gesellschaftskonforme Trauer


Wie das ist, wenn plötzlich die Mutter stirbt, lässt Stefanie Höfler in ihrem Jugendroman Der große schwarze Vogel den 14-jährigen Ben erzählen. Fassungslos müssen er, sein sechsjähriger Bruder Krümel und ihr Pa miterleben, wie Sanitäter die Mutter nicht retten können. Ben erzählt von der Woche danach, von seinen Erinnerungen, beschreibt die unterschiedlichen Verarbeitungsstrategien der Zurückgebliebenen, aber auch die Hilfe von außen, so dass der sehr realistische Roman traurig, aber zugleich hoffnungsvoll ist.

Im zweiten Roman von Stefanie vor Schulte ist die Ausgangslage ähnlich, denn auch die Familie Mohn mit dem zwanzigjährigen Steve, der zwölfjährigen Linne, dem elfjährigen Micha und dem Vater Adam in Schlangen im Garten ist mitten im Trauerprozess um die Mutter Johanne. Allerdings ecken sie mit ihrer Trauer an, gar zu lang, anders, undurchsichtig und heftig wirkt ihre Trauer auf die neugierige, unempathische, ungeduldige Umgebung. Linne mit ihrer Aggressivität und der introvertierte Micha stoßen in der Schule auf Ratlosigkeit, der resignierte, weltfremde Adam kündigt und einzig der nach Hause zurückgekehrte Student Steve hält ein Minimum an Ordnung aufrecht. Darf das sein? Herr B. Ginster, der Mann vom Traueramt, ist anderer Meinung und schickt eine erste Mahnung:

Über einen Zeitraum von drei Wochen finden sich fünf Beschwerden, die beim Traueramt eingegangen sind. […] Die Beschwerden legen den Verdacht nahe, es handele sich hier um verschleppte Trauerarbeit. (S. 58)

Zwei ganz unterschiedliche Romane über den frühen Tod einer Mutter und die verwaiste Restfamilie. © B. Busch


Ungehöriges Trauern
Mit Herrn Ginster kommt die Schlaflosigkeit. Die Mohns begreifen ihre Verfehlung nicht, wollen gar nicht weniger trauern und fürchten mehr als alles den Erinnerungsverlust. Doch das Traueramt stuft verschleppte Trauerarbeit als gefährlich ein:

Wer beim Trauern auffällt, richtet gesellschaftlichen Schaden an. (S. 76)

Unterstützung von überraschender Seite
Glücklicherweise tauchen nach und nach Menschen auf, die dank ihres eigenen Außenseitertums sehr viel mehr Einfühlungsvermögen mitbringen: Brassert, der einsame Schwänefütterer, die obdachlose Bille mit ihrem Einkaufswagen voller lichterfüllter Dinge und die junge Marlene mit dem künstlichen Bein. Sie stellen keine Forderungen, sondern sind einfach nur unverstellt da und während das Zuhause der Mohns langsam untergeht, erzählen sie fantastische Geschichten über Johanne.

Fantastik als Stilmittel
Spätestens mit dem Auftauchen von Herrn Ginster kippt die Romanhandlung ins Fantastische, ein literarischer Kunstgriff für das schwierige Thema Trauer, mit dem ich absolut nicht gerechnet hatte. Als gänzlich ungeübte Leserin in diesem Genre hat mich die Bild-, Symbol und Metaphernfülle zwar oft überfordert, trotzdem hatte ich fast immer das Gefühl, die Absicht dahinter mit dem Bauch zu erfassen. Nicht verstanden habe ich allerdings, warum die erfundenen Geschichten über Johanne der Familie helfen, wo sie doch die realen Erinnerungen gefährden könnten? Gleitet die Handlung anfangs sacht aus der Realität und hält die Grenzen zur Fiktion im Unscharfen, was mir sehr gut gefiel, wurde es mir am Ende doch etwas zu surreal. Besser hätte mir ein Schwenk zurück in die Realität gefallen. Und doch stimmen der innerfamiliäre Zusammenhalt und der Schlusssatz hoffnungsfroh:

Endlich ist der Sommer vorbei. (S. 239)

Ein mutiger, experimenteller, gesellschaftskritischer Roman voller außergewöhnlicher Ideen zum Thema Tod und Trauer, ein lesenswerter Appell für Toleranz und gegen normiertes Verhalten.

Stefanie vor Schulte: Schlangen im Garten. Diogenes 2022
www.diogenes.ch

Antonio Muñoz Molina: Tage ohne Cecilia

  Verloren in Zeit und Raum

Ich habe mich in dieser Stadt niedergelassen, um dort auf das Ende der Welt zu warten. (S. 7)

So beginnt der Ich-Erzähler seinen Bericht über eine Zeit des Wartens auf seine Frau Cecilia. Erst im vorletzten der 52 kurzen, wie Gedankenschnipsel durch Raum und Zeit schwebenden Kapitel erfahren wir seinen Namen: Bruno. Während einer Reise hatte das Paar sich in die Stadt Lissabon verliebt, eine Wohnung gekauft und sich nun zum Umzug entschlossen. Bruno ist vorausgefahren, beaufsichtigt die Renovierungsarbeiten, packt Kisten aus. Denn während er sich nach dem Verlust seines verhassten Jobs als Frührentner nur noch um Cecilias Wohlergehen kümmern will, arbeitet sie als Forscherin im neurologischen Labor eines Nobelpreisträgers in New York und möchte vor ihrem Wechsel in ein entsprechendes europäisches Institut ihre derzeitige Arbeit abschließen. Gerade sie, die an Ratten die Mechanismen von Erinnerung und Angst erforscht, leidet seit den Anschlägen vom 11. September 2001 unter Albträumen, die in Lissabon der Vergangenheit angehören sollen.

Realität oder Wunschtraum?
So plausibel Brunos Erzählung zunächst klingt, so schnell schleicht sich bei der Lektüre Misstrauen ein. Während er zunächst mit den Arbeiten an der Wohnung beschäftigt ist und wenigstens mit dem vielseitigen Handwerker Alexis und der gesprächigen Putzfrau Cándida Umgang pflegt, kapselt er sich zunehmend in seiner mittlerweile fertigen Wohnung ein, einzig in Gesellschaft seiner Hündin Luria und seiner Bücher. Doch warum muss das neue Zuhause dem alten bis ins kleinste Detail gleichen? Wo ist Cecilia, für die er bei den Mahlzeiten ein Gedeck auflegt, wie ist es um ihre Beziehung wirklich bestellt? Warum gibt es keine Telefonate und vor allem: Wann kommt sie? All dies entfachte bei mir ein Kopfkino mit den aberwitzigsten Erklärungsvarianten, was dieses ruhige, fast lethargische Buch zumindest für mich zum psychologischen Spannungsroman machte. Je sicherer ich mir über die Unzuverlässigkeit des einsamen, immer stärker in Zeit und Raum desorientierten Ich-Erzählers wurde, desto drängender wurden meine Fragen.

© B. Busch

Das Ende
Während ich Bruno bei Joggingrunden am Tejo, im Lesesessel bei der Lektüre ähnlich isolierter Protagonisten, auf einer aberwitzigen Party, beim Verfolgen apokalyptischer Weltnachrichten oder beim Zitieren von Cecilias Wissen zur Hirnforschung begleitete, wuchs meine Sorge, ob es überhaupt eine Auflösung geben würde. Umso beglückter war ich, als das Ende meine offenen Fragen zu beantworten schien – jedenfalls so lange, bis sich in meiner Leserunde ganz andere Interpretationsvarianten auftaten… Aber ist es nicht genial, wenn verschiedene, wohlgemerkt begründete Schlüsse möglich sind, über die sich trefflich diskutieren lässt? Ich jedenfalls bleibe bei meiner Auslegung, die ich hier natürlich nicht preisgebe, obwohl mich der spanische Originaltitel Tus pasos en la escalera (Deine Schritte auf der Treppe) erneut ins Grübeln brachte…

Zwei Städte, zwei Flüsse, zwei Kulturen
Der 1956 in Andalusien geborene Antonio Muñoz Molina zählt zu den wichtigsten Gegenwartsautoren seines Landes und macht Lust auf den Gastlandauftritt Spaniens bei der Frankfurter Buchmesse 2022. Sein Roman Tage ohne Cecilia von 2019, zu diesem Anlass nun von Willi Zurbrüggen übersetzt, hat mich durch den intensiven Erzählstil, Besessenheit und Kontrollverlust des Protagonisten, mitreißende Beschreibungen der sich allmählich zu einem Ort verdichtenden Städte Lissabon und New York,  ironische Sicht auf zwei Kulturen, Widersprüche, Rätsel und Deutungsmöglichkeiten, elegante Sprache und einen raffinierten Spannungsbogen überzeugt.

Antonio Muñoz Molina: Tage ohne Cecilia. Aus dem Spanischen von Willi Zurbrüggen. Penguin 2022
www.penguinrandomhouse.de

Silke Schlichtmann: Reißaus mit Krabbenbrötchen

  Ein Riesenschlamassel oder Was ist noch normal?

Wenn alles anders läuft als geplant, dann hat man genau zwei Möglichkeiten:
1. Den Kopf in den Sand stecken.
2. Sich was Neues ausdenken. (S. 99)

Wer die promovierte Literaturwissenschaftlerin und Kinderbuchautorin Silke Schlichtmann kennt, weiß, für welche der beiden Varianten sich die zehnjährige Protagonistin Jonte in ihrem neuen Kinderroman Reißaus mit Krabbenbrötchen entscheidet: natürlich für die Kreativität! Denn die ist gefragt, als Opa Peter immer tüdeliger und rätselhafter wird. Für Jontes Mutter Gitte ist klar: Opa muss schnellstmöglich ins Heim. Aber ist man wirklich schon dement, wenn man 23 Gläser Senf im Vorratsregal hat, nackt durch den Garten läuft und das Handy im Kühlschrank aufbewahrt? Oder gibt es dafür vielleicht sogar logische Erklärungen? Jonte jedenfalls ist fest entschlossen, den Plan ihrer besorgten Mutter zu durchkreuzen. Helfen wollen ihr bester Freund Schippo, ein nachdenklicher Junge, der nichts so fürchtet wie Langeweile, und ihre älteren Geschwister, der sechzehnjährige, schwer pubertäre Tausendfüßlerzüchter Henrik und die verliebte Ditte mit dem „Wenn-man-vom Teufel-spricht-Talent“. Gemeinsam wird ein Diagnose- und Rettungsplan ausgeklügelt, damit Opa in seinem Häuschen mit Tischlerwerkstatt in Grünendeich im Alten Land bleiben kann.

Dass es schließlich so richtig turbulent wird und sogar Schippo sich keine Sekunde mehr langweilt, liegt auch daran, dass Jonte, wie sie selbstkritisch bemerkt, gerne spontanen Einfällen folgt:

Aber wenn man alles zu Ende denkt, hat man irgendwann keine Zeit mehr, um überhaupt anzufangen. (S. 191)

Zum Glück kommt Rettung in letzter Minute, denn wenn nicht jede und jeder nur eine Seite des Problems sieht, findet sich für alles eine Lösung…

Zutaten für Krabbenbrötchen à la Krabbenbrötchenverkäuferin Johanna aus Husum. Das geheime Rezept gibt’s hinten im Buch.  © B. Busch

Mit Jonte, ihrer Familie, Schippo und dem Hund Plato hat Silke Schlichtmann erneut eine Umgebung geschaffen, mit der sich zehnjährige Leserinnen und Leser bestens identifizieren können. Jede Figur ist mit viel Herz und Respekt gezeichnet und die Handlung ist ebenso lebendig wie spannend und oft so komisch, dass ich auch als Erwachsene wieder einen Heidenspaß hatte, besonders an den mit Wortwitz und Situationskomik gespickten Dialogen. Es ist herrlich, den manchmal schrägen, für sie durchaus logischen Gedankengängen der Ich-Erzählerin Jonte zu folgen und keine Sekunde zweifelt man daran, dass hier tatsächlich eine pfiffige Zehnjährige erzählt. Wie immer greift Silke Schlichtmann ein Problemthema aus der Erfahrungswelt der Kinder auf, nimmt ihre Nöte ernst und zeigt, dass man Lösungen am besten im Team findet.

Jens Rassmus, dessen witziges Bilderbuch Juhu, LetzteR! ich sehr liebe, hat Reißaus mit Krabbenbrötchen passend zur Textfarbe in Blau illustriert, punktgenau in den Details und Stimmungen.

Reißaus mit Krabbenbrötchen eignet sich für gute Leserinnen und Leser ab der dritten Klasse, zum Vorlesen auch früher. Besonders empfehlenswert sind Lesungen von Silke Schlichtmann selbst bei einer ihrer fantasievollen Veranstaltungen, für die sie 2019 auf der Leipziger Buchmesse als LesekünstlerIn des Jahres ausgezeichnet wurde.

Jontes Versprechen, uns bei nächster Gelegenheit mehr über Schippos Namen zu erzählen, nehme ich als Zusage für mindestens einen weiteren Band. Eine ausgezeichnete Idee, liebe Frau Schlichtmann!

Ein witziges Video zum Buch gibt es hier.

Silke Schlichtmann: Reißaus mit Krabbenbrötchen. Mit Zeichnungen von Jens Rassmus. Hanser 2022
www.hanser-literaturverlage.de/verlage/hanser-kinderbuch

 

Weitere Rezensionen zu Kinderbüchern von Silke Schlichtmann auf diesem Blog:

         

 

Alain Claude Sulzer: Doppelleben

  Eine doppelte Tragödie

Die Brüder Edmond (1822 – 1896) und Jules (1830 – 1870) Goncourt kannte ich bisher nur dem Namen nach für ihre zahlreichen gemeinsamen Tagebücher, als Mitbegründer des Naturalismus und als Initiatoren des wichtigsten französischen Buchpreises, des Prix Goncourt, der seit 1903 von der Académie Goncourt vergeben wird. Der biografische Roman Doppelleben des Schweizer Autors Alain Claude Sulzer vermittelte mir nun Einblick in ihr Leben und Schaffen, auch wenn es sich ausdrücklich nicht um eine Biografie handelt. Er spielt hauptsächlich während des letzten Lebensjahrzehnts von Jules, angereichert um zahlreiche Rückblenden und einen kurzen Abschnitt über Edmonds 26 Jahre währendes Leben nach dem Tod des jüngeren Bruders. Inhaltliche Schwerpunkte sind die Entstehungsgeschichte ihres gemeinsamen Romans Germinie Lacerteux und der langsamen Syphilistod von Jules.

Brüderliche Symbiose
Das wunderschöne Cover mit einem Ausschnitt aus dem Gemälde „Le Cercle“ von Jean Béraud zeigt einen Salon, wie ihn die Brüder Goncourt hätten bewohnen können, bourgeois, gemütlich und vor allem ruhig, ein entscheidendes Kriterium für diese stets vom Lärm ihrer Umgebung gequälten, überaus empfindsamen und verschrobenen Schöngeister. Für ihre Behaglichkeit sorgte, da sie beide nie verheiratet waren, sich stets selbst genügten und sogar die Geliebte teilten, Personal. Langjährige Haushälterin war Rosalie Malingre, genannt Rose, die mit 17 Jahren 1837 vom Land nach Paris kam. Nach dem Tod ihrer Mutter, der ihnen ein reichliches Erbe und lebenslanges Auskommen bescherte, blieb Rose als Haushälterin bei ihnen und sie ertrugen ihre mangelhaften Kochkünste, ließen sich von ihr umsorgen und bewachen, „knurrend … wie ein alter Kettenhund“ (S. 92), behandelten sie allerdings eher wie einen Gegenstand denn als Lebenswesen:

Sie war so diskret wie ein Tisch oder ein Schrank, sie gehörte so unverrückbar zu ihnen und ihrer Wohnung wie ein Möbelstück oder eine Tür, die man täglich unzählige Male öffnete und schloss, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, warum man es tat und ob es nötig war, es zu tun. (S. 91)

© B. Busch

Stoff für einen Roman
Folglich waren sie, die sich in ihren mehrere Tausend Seiten umfassenden, an die Nachwelt gerichteten Tagebüchern als so überaus genaue Beobachter ihrer Umgebung präsentieren, erstaunt und entsetzt, als sie nach Roses Tod im Jahr 1862 von deren dramatischem Doppelleben erfuhren. Dem schnellen Verzeihen und der Begleichung ihrer Schulden folgte der Entschluss, das Geschehen zum Roman zu verarbeiten: Germinie Lacerteux (1865), ist laut Wikipedia „die Geschichte eines Dienstmädchens, das quasi idealtypisch alles Gute und Böse erlebt, das einem Dienstmädchen widerfahren kann“, Roses angereicherte Lebensgeschichte also, die Sulzer wiederum als die wahre wiedergibt.

Ein Martyrium
Neben dieser Episode thematisiert Doppelleben Jules‘ 20 Jahre währende Syphiliserkrankung, die ihm, dem kultivierten Mann der Worte, allmählich alles für die Brüder Wichtige raubte: Sprache, Geist, Verstand, Handschrift, Erinnerung, Manieren und gesellschaftlichen Umgang. Alain Claude Sulzer spart hier nicht mit Details und schildert ausführlich Jules‘ Siechtum, aber auch Edmonds Mit-Leiden und sein beständiges Negieren und Verdrängen der Diagnose.

Ein empfehlenswerter historischer Roman
Während der zeitpolitische Kontext sehr gut einfließt, hätte ich gerne noch mehr über das gesellschaftliche Umfeld und das Schreiben der Goncourts erfahren. Überzeugend ist der Roman mit der doppelten Tragödie und dem doppeldeutigen Titel trotzdem, auch wegen seiner apart altmodischen Sprache und dem ruhigen Erzählfluss.

Alain Claude Sulzer: Doppelleben. Galiani Berlin 2022
www.galiani.de

Edvard Hoem: Heimatland. Kindheit

  Die Last des Hoferben

Den 1949 an der norwegischen Westküste geborenen Schriftsteller und Theaterregisseur Edvard Hoem habe ich 2021 mit dem biografischen Roman über seine Ururgroßmutter Marta Kristine Anderdatter Nesje, Die Hebamme, entdeckt und unmittelbar danach Die Geschichte von Mutter und Vater gelesen, eine zutiefst berührende Liebesgeschichte über seine Eltern. Beide Bücher sind Familiengeschichte und Zeitdokument über das bäuerliche Leben in West-Norwegen zugleich. Sie haben mich so begeistert, dass ich während einer Norwegen-Reise im August 2022 die aus verstreut liegenden Höfen bestehende Siedlung Hoem und den Hoemschen Hof Bakken, die Kirche von Vågoy und den Friedhof mit dem Grab der Eltern besucht habe.

Der Hof Bakken in Hoem. © B. Busch
Die Kirche von Vågoy am Fjord.  © M. Busch

Außerdem hat mich der Roman Heimatland. Kindheit auf der Reise begleitet, im Original 1985 erschienen und auf Deutsch leider nur noch antiquarisch lieferbar, in dem Edvard Hoem in der Er-Form über seine ersten 14 Jahre bis zu seinem Weggang zur höheren Schule nach Molde erzählt. Es ist die Geschichte des Erstgeborenen von sechs Kindern – die ältere Halbschwester nicht eingerechnet –, der seine Bestimmung zum Hoferben nicht erfüllen konnte und wollte:

Denn weder wollte er Bethauserbauer werden noch Traktorfahrer. Diese Kombination schien die nächstliegende von allen, und er dachte: Wenn ich hierbleibe, werde ich ganz sicher verrückt. (S. 162)

Die Siedlung Hoem mit dem Hof Bakken im Hintergrund. © B. Busch

Große Erwartungen
Schon Edvards Vater Knut Hoem interessierte sich mehr für den Beruf des protestantischen Laienpredigers als für den Hof Bakken in Ytre Hoem nahe Molde. Wie sein Vater Edvard Knutsen Hoem war er Haugianer, Anhänger der Erweckungsbewegung des Wanderpredigers Hans Nielsen Hauge. Als er sich dem Erbe dennoch nicht entziehen konnte, reiste er zwischen der herbstlichen Kartoffelernte und der Frühjahrsaussaat über 40 Jahre zum Zwecke der Erweckung durch Westnorwegens Täler und arbeitete nur in den Sommermonaten als Landwirt. Die Erwartungen des Großvaters in den erstgeborenen Enkel waren daher so enorm wie erdrückend, zumal der bald anders gelagerte Neigungen verspürte:

Es war, als rückte eine lange Reihe toter Verwandter an, die ihn anstarrten und beschuldigten, die Verantwortung nicht übernehmen, die Last nicht tragen, das Erbe nicht annehmen zu wollen. (S. 72) 

Doch bevor Edvard Hoem sich in die Welt der Bücher verlor, erlebte er die Elektrifizierung der rückständigen Höfe, ein Segen, der jedoch viele Bauern zum winterlichen Heringsfang zwang, und den Bau des Betshauses, dem großväterlichen Traum. Seine Berufswünsche Pastor oder Missionar begrub er, nachdem er seinen Kinderglauben verloren hatte, ohne neues Ziel.

Ein Denkmal für die Familie
Ein trotz protestantischer Strenge verständnisvoller Vater, der ihn nicht zur Landarbeit zwingen wollte, und eine bildungsorientierte, unermüdlich bis zur Erschöpfung arbeitende, gütige Mutter ermöglichten Edvard Hoem, der heute wieder auf dem Nachbarhof, dem Bortehof, lebt, den Absprung in ein anderes Leben. Doch wie die Übersetzerin Ebba D. Drolshagen in ihrem vorzüglichen Nachwort darlegt, erfüllt er seine Pflichten heute doch:

Mit seinen Büchern ehrt er seine Vorfahren, er macht seine Familie und den Hof unsterblich. Kurz: Er erfüllt seine Pflichten als Hoferbe. (S. 215)

Edvard Hoem gehört mit seinen familienbiografischen Romanen inzwischen zu meinen Lieblingsschriftstellern. Ich freue mich schon jetzt, dass mit Der Geigenbauer im Herbst 2022 ein weiterer seiner Romane auf Deutsch erscheint, zumal der Protagonist Lars Olsen Hoem bereits in Heimatland. Kindheit Erwähnung findet.

Edvard Hoem: Heimatland. Kindheit. Aus dem Norwegischen und mit einem Nachwort von Ebba D. Drolshagen. Insel 2009
www.suhrkamp.de/verlage/insel-verlag-s-22

 

Weitere Rezensionen zu familienbiografischen Romanen von Edvard Hoem auf diesem Blog: