Edgar Selge: Hast du uns endlich gefunden

  Und schreiben kann er auch

Eine Familie ist eine Wiege, ein Gefängnis, ein Giftschrank, ein Hafen. (aus: „Eine gewöhnliche Familie“ von Sylvie Schenk)

Edgar Selge ist als großartiger Film- und Theaterschauspieler bestens bekannt. Nun hat er sich – wie seine Kollegen Robert Seethaler, Joachim Meyerhoff, Matthias Brandt, Christian Berkel oder Andrea Sawatzki – als Schriftsteller betätigt. Ein langgehegtes Vorhaben, wie er selbst sagt, das er aber erst in den letzten vier bis fünf Jahren tatsächlich begonnen und nun, während der Pandemie, vollendet hat. Es ist ein autofiktionales Romandebüt, keine Autobiografie, in dem der Protagonist und Ich-Erzähler nicht zufällig Edgar heißt. In kurzen Episoden mischen sich Erlebtes und Erfundenes, wobei es mich überhaupt nicht störte, das eine nicht vom anderen unterscheiden zu können. Meist ist der 1948 geborene Edgar zwölf Jahre alt, manchmal wird aber in nicht-chronologischer Abfolge vor- und zurückgeblendet und die Stimme des Kindes wird immer wieder von der des 73-jährige Autors überlagert. Dass es trotzdem jederzeit passt, ist dem meisterhaften Erzähler Edgar Selge zu verdanken, der berichtet, reflektiert, fragt, oft keine Antwort findet und spürbar schwer an seiner Kindheit trägt.

Bildungsbürgertum im Nachkriegsdeutschland
Im Hause von Dr. Edgar Selge, Gefängnisdirektor der Jugendstrafanstalt Herford und leidenschaftlicher Hobbypianist, lebt die Familie „praktisch zwischen zwei Hauskonzerten“ (S. 9). Geladen sind auch Gefangene, die bei dieser Gelegenheit die von ihnen hergestellten Möbel im Hause ihres Chefs bewundern. Auch der nur mittelmäßige Klavierschüler Edgar junior sitzt im Publikum und beobachtet hellwach das Geschehen.

© B. Busch

Seinen Eltern dienen Musik, Literatur und Kunst zur Verdrängung der Vergangenheit und als Beweis für Kontinuität:

Der Krieg ist verloren, der Nationalstolz im Eimer, die Nachkriegszeit haben sie überstanden, mit Ach und Krach, aber die Kultur ist übrig geblieben. Davon sind sie überzeugt. Auch wenn kein jüdischer Künstler mehr im Land ist. (S. 18)

Edgar junior bedauert, dass er den Krieg im Gegensatz zu seinen beiden älteren Brüder verpasst hat:

Der Krieg ist die Zeit, wo alles passiert ist. Alle zehren vom Krieg. Alle beziehen ihre Kraft aus dieser Zeit. Auch wenn sie sich davon abstoßen. Nur ich habe keine Erinnerungen. (S. 89)

Ein Vorgeschmack auf die 68er-Generation
Umso heftiger befeuert er die politischen Diskussionen bei Tischgesprächen zwischen den im Nationalsozialismus sozialisierten Eltern und den kompromisslos-progressiven Brüdern. Lieber sterben will der Vater, als von den Sozis regiert werden, und rastet wegen einer Bundestagdebatte zur Aufhebung der Verjährungsfrist von Nazimorden aus. Als Leiter des Zuchthauses Werl fraternisierte er so offen mit den dort einsitzenden Ex-Wehrmachtsoffizieren wie Kesselring, von Falkenhorst oder von Manstein, dass die Briten ihn entließen. Ein persönlicher Dank dieser Kriegsverbrecher steht im familieneigenen Bücherschrank.

Warum! Er! Mich! Schlägt!
Mehr noch als unter gelegentlichen sexuellen Übergriffen leidet der sensible Edgar unter den väterlichen Prügelattacken, die ihm mit Gewalt Moral einbläuen sollen. Trotzdem schützt er den Vater:

Ich will nicht zugeben, von jemandem geschlagen zu werden, den ich liebe. Und noch weniger will ich zugeben, dass seine Schläge meine Liebe nicht ausgelöscht haben.
Ich will nicht einer sein, der den liebt, der ihn schlägt. (S. 131)

Eine unbedingt lesenswerte deutsche Familiengeschichte der Nachkriegszeit, bravourös geschriebene, lakonisch und bisweilen witzig, unaufdringlich, mitreißend, unter die Haut gehend und mit einem Epilog, der garantiert niemand unberührt lässt.

Edgar Selge: Hast du uns endlich gefunden. Rowohlt 2021
www.rowohlt.de

Tove Ditlevsen: Abhängigkeit

  Fulminanter Abschluss der Kopenhagen-Trilogie

 Die beiden ersten schmalen Bände ihrer autofiktionalen, inzwischen als Kopenhagen-Trilogie betittelten Romane verfasste die dänische Schriftstellerin Tove Ditlevsen (1917 – 1976) 1967 in einer Entzugsklinik. Im Frühjahr 2021 erschienen sie unter den Titeln Kindheit und Jugend im Aufbau Verlag erstmals auf Deutsch, hervorragend übersetzt von Ursel Allenstein. Den dritten Teil, Abhängigkeit, aus dem Jahr 1971 veröffentlichte der Suhrkamp Verlag 1980 unter dem nicht ganz so gut passenden Titel Sucht, denn der dänische Originaltitel Gift ist zweideutig und kann sowohl mit „Sucht“ als auch mit „verheiratet“ übersetzt werden – ein Hinweis auf Tove Ditlevsens vier problematische Ehen.

© B. Busch

Kindheit erzählt von Tove Ditlevsens ersten düsteren 14 Jahren in einem Kopenhagener Arbeiterstadtteil ohne Aussicht auf eine höhere Schulbildung, aber mit dem unstillbaren Wunsch, Dichterin zu werden. Jugend umfasst die Jahre in wechselnden Anstellungen bis zu ihrer ersten Gedichtveröffentlichung in einer literarischen Zeitschrift und der ersten Gedichtsammlung 1939. Der 30 Jahre ältere Herausgeber der Zeitung, Viggo F. Møller, wurde ihr erster Mann.

Toves Unglück mit den Männern
Während ihrer zweiten Ehe mit dem Studenten Ebbe konnte sie mit ihren Einkünften aus der Schriftstellerei bereits ihn und die Tochter Helle unterhalten. Nichts war für sie wichtiger als das Schreiben:

Aber für mich ist das Leben nur ein Genuss, wenn ich schreiben kann. (S. 64)

Das änderte sich schlagartig, als der Medizinstudent Carl Ryberg ihr anlässlich einer Abtreibung das opioide Schmerzmittel Pethidin spritzte. Fortan konnte sie an nichts anderes mehr denken:

Ich bin einzig und allein von dem Gedanken besessen, es noch einmal zu erleben, und Ebbe ist mir vollkommen gleichgültig geworden; wie alle Menschen außer Carl. (S. 104)

Während der fünf „Schreckensjahre“ mit dem geisteskranken Carl gebar sie ein weiteres Kind, fälschte Methadonrezepte, konnte nur noch mit Chloralhydrat schlafen und schließlich nicht mehr schreiben:

Dann hört die Zeit auf zu existieren. Eine Stunde kann wie ein Jahr sein und ein Jahr wie eine Stunde. Es hängt davon ab, wie viel oder wenig in der Spritze ist. (S. 140)

© B. Busch

Hilfe in letzter Minute
Abgemagert auf 30 Kilogramm rettete sie sich in eine Klinik, durchlitt unvorstellbare Entzugsqualen, begann wieder zu schreiben, wurde rückfällig, lernte einen neuen Mann kennen und musste akzeptieren, nie mehr ganz gesund zu werden:

Ich war von meiner jahrelangen Abhängigkeit geheilt, aber noch heute erwacht die alte Sehnsucht manchmal ganz leise in mir, wenn ich mir Blut abnehmen lasse oder an einer Apotheke vorbeigehe. Sie stirbt nie ganz, solange ich lebe. (S. 176)

#tovelesen
Nach der Düsternis von Kindheit und der eher hoffnungsvollen Stimmung in Jugend erwischte mich die Beklemmung in Abhängigkeit mit voller Wucht. Nie habe ich Vergleichbares gelesen über eine Sucht, so knapp, präzise und schonungslos offen. Zwar nahm meine Sympathie für Tove Ditlevsen im Laufe der Bände kontinuierlich ab, aber das Porträt einer ambivalenten Frau, die so gerne normal und gewöhnlich sein wollte und es doch nicht war, die unter ihrer fehlenden Bildung litt und nur beim Schreiben Erfüllung fand, ist ein ganz außergewöhnliches Leseerlebnis. Der derzeitige Hype in vielen Ländern ist daher absolut berechtigt.

Ich freue mich sehr, dass der Aufbau Verlag im Frühjahr 2022 mit Gesichter einen weiteren Schlüsselroman der Autorin zugänglich macht.

Tove Ditlevsen: Abhängigkeit. Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein. Aufbau 2021
www.aufbau-verlage.de

 

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Tove Ditlevsen: Jugend

  Nützliche Männer

Die ersten 14 Jahre ihres Lebens bis 1932 waren Thema in Kindheit, Teil eins der autofiktionalen Kopenhagen-Trilogie von Tove Ditlevsen (1917 – 1976), die im Frühjahr 2021 in moderner Ausstattung im Aufbau Verlag erschien. Nur Teil drei, Abhängigkeit, gab es bereits 1980 unter dem Titel Sucht im Suhrkamp Verlag auf Deutsch, allerdings ohne nur annähernd den derzeitigen Hype auszulösen.

Nahtlos schließt der zweite Band Jugend an Kindheit an. Beide Romane verfasste Tove Ditlevsen 1967 in einer Entzugsklinik. Der Ich-Erzählerin Tove, deren biografische Eckdaten bis auf das um ein Jahr verlegte Geburtsjahr exakt mit denen der Autorin übereinstimmen, bleibt als Kind aus prekärem Arbeitermilieu trotz Begabung das Gymnasium verschlossen. Es beginnt eine wilde Abfolge von Anstellungen, zunächst in der Hauswirtschaft, dann in Büros, wo sie immerhin Maschineschreiben und Stenografie lernen darf. Ihr Traum vom Erfolg als Lyrikerin lebt im Geheimen weiter, obwohl ihr Vater diese Möglichkeit für ein Mädchen ausschließt:

Ich kann mir selbst nicht erklären, warum ich mir so sehr wünsche, dass meine Gedichte gedruckt werden und sich Menschen, die ein Gespür dafür haben, daran erfreuen können. (S. 79)

Der Zipfel der Welt
Als Tove vom Tod des Redakteurs Brochmann erfährt, der ihr Hoffnung auf eine Veröffentlichung ihrer Gedichte zu einem späteren Zeitpunkt gemacht hatte, ist es „der schwerste Tag ihres Lebens“ (S. 15). Sie weiß, dass der Weg zur Schriftstellerin über Männer mit Verbindungen führt. Doch auch der Antiquar Krogh, von dem sie sich Unterstürzung verspricht, verschwindet plötzlich:

Für die Welt bin ich nicht von Bedeutung, und immer, wenn ich einen Zipfel von ihr erhasche, entgleitet sie mir wieder. Menschen sterben, ihre Häuser werden abgerissen. Die Welt verändert sich unaufhaltsam, und nur die Welt meiner Kindheit bleibt bestehen. (S. 33) 

Mit ihrer neuen Freundin Nina wirft sich Tove ins Kopenhagener Nachtleben und macht Männerbekanntschaften, hauptsächlich, um die für ihre Lyrik entscheidenden Erfahrungen zu sammeln. Mit 18 löst sie sich aus den Fesseln ihrer Familie und bezieht samt einer gemieteten Schreibmaschine ein ärmliches Zimmer.

© B. Busch

Erste Veröffentlichungen
Ihr Gespür dafür, den richtigen Männern von ihren Gedichten zu erzählen, beschert ihr den ersehnten „Zipfel von jener Welt […], nach der ich mich sehne“ (S. 116) in Form der Adresse des Herausgebers der Literaturzeitschrift Wilder Weizen: Viggo F. Møller. Der über 30 Jahre ältere Mann druckt nicht nur ihr erstes Gedicht, Til mit døde barn (An mein totes Kind), sondern unterstützt 1939 auch die Veröffentlichung ihres ersten Gedichtbands Mädchenseele, eröffnet ihr die Welt der Literaten und wird ihr erster Ehemann:

Er ist der Mensch, auf den ich mein ganzes Leben gewartet habe. (S. 121)

Schonungslos offen
Jugend erschien mir im Ton trotz der Schilderungen sexueller Übergriffe, prekärer Lebens- und Arbeitsverhältnisse und weiblicher Diskriminierung optimistischer als der düstere Band Kindheit, der mir noch eine Nuance besser gefiel. Fast ausgeblendet werden die politischen Wirren der 1930er-Jahre in Dänemark und weltweit. Gleich sind beiden Teilen der lineare, umwerfend nüchterne, schonungslos offene und bisweilen humorvolle Erzählstil und die Geschichte eines Mädchens, das zwischen Zielstrebigkeit und Selbstzweifeln aufgrund ihrer Herkunft, Bildung, Sprache und Kultur schwankt.

© B. Busch

Tove Ditlevsen: Jugend. Aus dem Dänischen von Ursel Allenstein. Aufbau 2021
www.aufbau-verlage.de

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Matthias Nawrat: Reise nach Maine

  Altlasten im Reisegepäck

Ein namenloser Ich-Erzähler und Schriftsteller reist im Sommer 2018 mit seiner Mutter Celina nach New York und die Ostküste hinauf gen Norden, den gesamten Ballast der gemeinsamen Familiengeschichte im Gepäck. Geplant war nur eine gemeinsame Woche in New York, anschließend wollte man getrennte Wege gehen, doch kaum waren die Flüge gebucht, informierte die Mutter ihn über ihre geänderten Absichten. Der 41-jährige Sohn mit unübersehbaren biografischen Gemeinsamkeiten zum Autor Matthias Nawrat fühlt sich ausgetrickst, um seine „Allein-Woche“ in den Neuenglandstaaten betrogen. Überhaupt vermutet die Mutter zurecht, der Sohn hätte sie nur aus Mitleid mitgenommen:

Ich hatte die Reise nach New York meiner Mutter zuliebe vorgeschlagen. Sie behauptete seit einigen Jahren immer wieder, dass weder mein Bruder noch ich gern Zeit mit ihr verbrachten, dass niemand von uns sie wirklich möge. Sie sei trotz der Scheidung von meinem Vater immer für alle da gewesen, habe die Familie zusammengehalten, aber für sie interessiere sich keiner. Ich hatte gehofft, dass mein Vorschlag, gemeinsam nach New York zu fliegen, sie endlich vom Gegenteil überzeugen würde. (S. 11)

© B. Busch

Kein gutes Omen
Über der Reise liegen von Beginn an die Schatten der Überrumpelung und der unbewältigten Mutter-Sohn-Probleme. Nur ein Unfall der Mutter unmittelbar nach der Ankunft verhindert eine frühere Eskalation, denn zur unterdrückten Wut des Sohnes kommt nun Sorge über das entstellte Gesicht der Mutter. Doch unaufhaltsam schaukelt der Konflikt sich hoch, altbekannte gegenseitige Vorwürfe werden erst leise, dann immer lauter hörbar bis zur offenen Auseinandersetzung in Camden, Maine, am nördlichsten Punkt der Reise. Während die Mutter sich und ihre Aufopferung für die Familie nach der Migration von Polen nach Deutschland nicht genug gewürdigt sieht, verbittet der Sohn sich ihre übergriffige Einmischung in sein Leben:

Was kann ich denn dafür, dass eure Ehe nicht funktioniert hat?, sagte ich. Was hat das mit mir zu tun?
Ich will, dass du etwas daraus lernst, sagte meine Mutter.
Was soll ich denn daraus lernen?, sagte ich. Ich will das nicht mehr hören. Ich will darüber nicht mehr sprechen. Ich habe mein eigenes Leben und meine eigenen Probleme. (S. 210)

Anderes als erwartet
Positive Rezensionen im Feuilleton, die vielversprechende Kombination aus Roadmovie durch eine mir bekannte Landschaft und ein Mutter-Sohn-Konflikt sowie das gelungene Cover haben mich bewogen, diesen schmalen Roman zu lesen. Am Ende bleibe ich allerdings zwiegespalten zurück, weil mir die Geschichte etwas zu unspektakulär war und die Landschaftsbeschreibungen zu kurz kamen. Ich habe die Lektüre auch nicht als „hochkomischen Roman einer nicht ganz einfachen Beziehung“ empfunden, wie es der Umschlagtext verspricht, sondern als eine traurige, kaum aufzulösende Entfremdung zweier auf ihrer Überzeugung des Nichtverstandenwerdens beharrender Protagonisten. Immer dann allerdings, wenn es um die Migrationsgeschichte der Familie ging, die das Verhalten der Mutter verständlicher macht, wurde es interessant, ebenso bei den Gedanken des Protagonisten zum eigenen Schreiben und den Gesprächen mit erstaunlich offenen Reisebekanntschaften. Nervig trotz ansonsten schöner Sprache ist allerdings die Wiederholung der Wörter „sagte“ und „fragte“ in den Dialogen, so wie beim oben zitierten Abschnitt, teilweise mehr als ein Dutzend Mal pro Seite.

Matthias Nawrat: Reise nach Maine. Rowohlt 2021
www.rowohlt.de

Kent Haruf: Ein Sohn der Stadt

  Holt in Aufruhr

Seit 2017 veröffentlicht der Diogenes Verlag die Bücher von Kent Haruf (1943 – 2014) postum, beginnend mit seinem letzten Werk Unsere Seelen bei Nacht. Alle insgesamt sechs Romane spielen in der fiktiven 3000-Einwohner-Kleinstadt Holt, Colorado im Mittleren Westen der USA. Die Erzählperspektiven wechseln, ebenso die Protagonistinnen und Protagonisten, an denen die großen Themen des Lebens abgehandelt werden, aber gelegentlich kann man bei der Lektüre alten Bekannten wiederbegegnen. Nicht so jedoch bei Ein Sohn der Stadt, ursprünglich Kent Harufs zweitem Roman und nun als fünfter der sechs auf Deutsch erschienen, bei dem ich niemanden wiedererkannt habe.

Jack Burdette, ein Antiheld
Der titelgebende „Sohn der Stadt“ ist Jack Burdette, ein ausgemachter Bösewicht und Unsympath, der zeitlebens für Unfrieden in Holt und darüber hinaus gesorgt hat, ein Egozentriker, der für den eigenen Vorteil gewissenlos über Leichen geht. Einst erlagen die Holter seinem Charme und vergötterten ihn trotz offensichtlicher Charakterfehler als Held und Star des örtlichen Footballteams. So geblendet waren sie, dass sie ihn gegen alle Vernunft zum Manager der Getreide-Kooperative machten – mit fatalen Folgen. Als sie ihren Irrtum erkannten, hatte Jack sich längst abgesetzt. Ihr unkontrollierter Hass richtete sich daraufhin in abscheulicher Weise gegen seine schuldlose junge Frau Jessie, aber auch gegen Jacks unglücklichen Mittäter. Die ohnmächtige Wut nach dem Betrug, die nach einem Ventil schrie, brachte die dunkelste Seite der Holter Seelen ans Licht und machte aus den eigentlich harmlosen Bewohnerinnen und Bewohner einen rasenden Mob.

© Hintergrund: M. Busch, Gesamtbild: B. Busch

Als Jack zu Beginn des Romans im Herbst 1985 nach acht Jahren überraschend zurückkehrt, heruntergekommen zwar, aber provozierend wie eh und je, reißen kaum vernarbte Wunden wieder auf:

Das lokale Phänomen war wieder da. (S. 245)

Kurze Zeit hoffen die betrogenen Holter auf Genugtuung. Aber warum ist Jack Burdette überhaupt nach Holt zurückgekehrt? Und können sie gegen einen gewissenlosen Siegertypen wie ihn tatsächlich gewinnen?

Kein unbeteiligter Erzähler
Der Holter Journalist Pat Arbuckle ist der Chronist des bedrückenden Geschehens, ein ehemaliger Schulkamerad von Jack, der ihn – wie alle – lange nicht durchschaut hat. Pat ist Herausgeber des wöchentlich erscheinenden Kleinstadtanzeigers Holt Mercury und hat eine familiäre Tragödie hinter sich. Seine scheinbar neutrale Perspektive erweist sich als geschickte Täuschung Kent Harufs, denn Pat ist persönlich viel mehr involviert, als es zunächst den Anschein hat…

Verbrannte Erde
Zwar sind mir die erzkonservativen Bewohnerinnen und Bewohner Holts trotz ihrer drolligen Kauzigkeit, ihrer Klatschsucht und Verstocktheit in den letzten Jahren überaus ans Herz gewachsen und ich freue mich über jede neue Begegnung mit ihnen, aber in Ein Sohn der Stadt wird diese Sympathie auf eine harte Probe gestellt. Kent Haruf beschreibt melancholisch, unaufgeregt, prägnant und äußerst spannend, wie ein einzelner Blender Macht über eine ganze Kleinstadt erlangen und wohin hilflose Wut führen kann. Bei aller Kritik am Verhalten der Holter galt ihnen doch nach dem furiosen Ende mein Mitgefühl. Traurig, dass es nur noch einen weiteren Band aus Holt geben wird!

Kent Haruf: Ein Sohn der Stadt. Aus dem Amerikanischen von pociao und Roberto de Hollanda. Diogenes 2021
www.diogenes.ch

 

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Marco Balzano: Wenn ich wiederkomme

  Italienkrankheit und Eurowaisen

Wenn alte Menschen Hilfe benötigen, nicht ins Heim möchten und die Angehörigen sie nicht pflegen können oder wollen, kommen osteuropäische Pflegekräfte als tragende Säule der Altenpflege ins Spiel. Genaue Zahlen gibt es nicht, doch gehen Fachleute von einigen Hunderttausend Pflegemigrantinnen aus, vor allem aus Polen, Rumänien, Bulgarien oder der Ukraine. Ihre persönlichen Schicksale und die ihrer zurückgelassenen Familien bleiben meist im Dunkeln.

Der italienische Autor Marco Balzano greift solche verborgenen Themen gerne auf, zuletzt das Schicksal der Südtirolerinnen und Südtiroler in Ich bleibe hier. Für seinen Roman Wenn ich wiederkomme hat er über Rumäninnen in italienischen Haushalten und ihre sogenannte „Italienkrankheit“ recherchiert, hat mit vielen von ihnen gesprochen, in Rumänien Einrichtungen für zurückgelassene Kinder und Jugendliche, die „Eurowaisen“, besucht und sich ein hohes Ziel gesetzt:

Es zu schreiben, war für mich ein Versuch der Wiedergutmachung. (Nachwort S. 311)

© B. Busch

Eine Familie von vielen
Aus drei Perspektiven schildert Marco Balzano das Leben der Familie Matei aus einem ostrumänischen Dorf an der moldawischen Grenze. Im ersten Teil erfahren wir durch Manuel, wie die Mutter Daniela die Familie ohne Ankündigung verließ, als er zwölf Jahre alt war, seine Schwester Angelica zwanzig. Mit einer illegalen Beschäftigung als Altenpflegerin in Mailand möchte Daniela die finanzielle Notlage durch die Arbeitslosigkeit des antriebsschwachen Ehemanns lindern. Manuel verliert nacheinander die Mutter, den Vater, der Arbeit in Russland findet, die Schwester, als sie ein Architekturstudium beginnt, und den geliebten Großvater. Unausweichlich kommt es zur Tragödie, als die exklusive Privatschule sich als Qual entpuppt, die Einsamkeit immer unerträglicher und der sporadische Kontakt zur Mutter von zunehmender Entfremdung und Befangenheit überschattet wird:

Ein unbekanntes Schweigen drückte uns nieder, und ich wusste weder ein noch aus. (S. 33)

Im zweiten Teil, dem umfangreichsten, erfahren wir Danielas Sicht: die Alternativlosigkeit ihres Weggehens, die Schuldgefühle, die unerfüllten Träume und ihr von Abhängigkeit und Rassismus geprägtes Leben in Italien:

„Ihr habt echt ein Händchen im Umgang mit unseren Alten und Kinder…“
„Wen meinen Sie mit >ihr<, Signora?“
„Na, ihr aus dem Osten. Ihr könnt das besser als Philippinas, dafür können die besser putzen, stimmt’s?“ (S. 185)

Erzählerin im dritten Teil ist Angelica. Ihre Promotion beweist Daniela, dass ihr Opfer nicht vergebens war. Zwar ist Angelica ihrer Mutter dankbar, andererseits prangert sie deren ausschließliche Fixierung auf das Geld an, möchte selbst einen anderen Weg gehen und fühlt sich um ihre Jugend gebracht:

Mein Vater mag alle möglichen Mängel dieser Welt haben, aber er ist der Einzige in der Familie, der mich nie ausgenutzt hat.“ (S. 270)

Melancholisch und relevant
Mein anfängliches Verständnis für Daniela und ihre Notlage und meine Bewunderung für ihren Ehrgeiz bezüglich der Ausbildung ihrer Kinder schwanden leider im Laufe des Romans. Wie sie Manuel und Angelica immer fremder wird, so erging es auch mir, und ich konnte zunehmend weniger Mitgefühl für ihre Sturheit aufbringen. Marco Balzano hat angesichts seines großen Materialvorrats viel in diese Figur gepackt, unter anderem auch eine unkommentierte Ceaușescu-Nostalgie, die mich angesichts von dessen unzweifelhaften Verbrechen stört. Fast keine Rolle spielt dagegen der Vater. Trotzdem ist der melancholische, einfach geschriebene Roman unbedingt zu empfehlen, denn er rückt Menschen ins Licht, mit denen wir – direkt oder indirekt – in Berührung kommen, von denen wir aber nichts wissen.

Marco Balzano: Wenn ich wiederkomme. Aus dem Italienischen von Peter Klöss. Diogenes 2021                      
www.diogenes.ch

 

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Sylvie Schenk: Roman d’amour

  Katz-und-Maus-Spiel um Wahrheit und Fiktion

Die Frage nach autobiografischen Bezügen ihrer Romane gehört zu den am häufigsten gestellten und von vielen Autorinnen und Autoren meistgehassten. In Roman d’amour der deutsch-französischen Romanschriftstellerin und Lyrikerin Sylvie Schenk, die 1944 in Frankreich geboren wurde, seit 1992 auf Deutsch schreibt und in beiden Ländern lebt, geht es genau darum.

Roman im Roman
Die gut 70-jährige Schriftstellerin Charlotte soll für ihr neuestes Buch Roman d’amour einen erstmals verliehenen, schlecht dotierten Literaturpreis auf einer Nordseeinsel erhalten. Zuvor soll sie der Journalistin Frau Sittich ein ausführliches Radiointerview geben. Doch was auch immer Charlotte von diesem Interview erwartet hatte, es läuft anders und sonderbar. Frau Sittich scheint sich weniger für den Roman als für dessen autobiografische Hintergründe zu interessieren und eröffnet das Gespräch sogleich mit einem Affront:

„Ich heiße Charlotte“, sagte ich. „Sie haben mich gerade Klara genannt.“ Sie schlug dreimal ihre künstlichen Wimpern nieder und die Hände über den Mund: „Oh Pardon! Sie merken, liebe Charlotte, wie die Persönlichkeit Ihrer Protagonistin in mir nachwirkt, eine tolle Figur, Ihre Klara, so lebendig, so real.“ (S. 13) 

Damit hat Frau Sittich, die Charlotte mit ihren zunehmend hintergründigen Fragen immer mehr herausfordert, von dieser jedoch mit Provokationen gekonnt gekontert wird, recht. Der Dreiecksgeschichte im Roman zwischen der Schuldirektorin Klara, dem jüngeren Kollegen und Familienvater Lew und dessen französischstämmiger Frau Marie liegen eigene Erfahrungen zugrunde. Vor gut 25 Jahren hatte auch die nach ihrer Scheidung vereinsamte Charlotte eine leidenschaftliche Affäre mit einem ebenfalls verheirateten, etwas jüngeren Mann namens Ludo:

Mit Lew habe ich meinen verflüchtigten Liebhaber festgeschrieben. (S. 31)

Sowohl die Romanfigur Klara wie ihre Erfinderin Charlotte führten ein Geheimleben, beide verloren – allerdings auf unterschiedliche Weise – während einer Radtour durch Irland gegen die Ehefrauen.

© B. Busch

Besondere Erzählstruktur
Sylvie Schenk verwebt drei Ebenen so gekonnt, dass es beim Lesen höchster Aufmerksamkeit bedarf: kursiv gedruckte Bruchstücke des Romans mit der Geschichte von Klara, Lew und Marie, stille Erinnerungen Charlottes an ihre reale Affäre mit Ludo sowie das sich stetig zum Duell steigernde Interview. Je mehr die übergriffige Journalistin insistiert, desto unwillig abwehrender reagiert Charlotte:

„Ich bleibe bei meiner Meinung, liebe Charlotte“, fuhr sie fort, „ich denke, dass Klara Ihr wirkliches Alter Ego ist und dass Sie Marie nur das Französischsein mit auf den Weg gegeben haben. Würden Sie Ihre Romane als ein Stück Therapieliteratur sehen oder eher als eine künstlerische Form des Beichtstuhls?“ […]
„Weder noch“, sagte ich, „weder therapeutische Literatur noch Beichtstuhl.“ (S. 85/86)

„Charlotte, springen Sie über Ihren Schatten! Ein letztes Mal!“
„Eben“, sagte ich, „ich brauchte einen Schatten. Wer keinen Schatten wirft, existiert nicht.“ (S. 110)

Intelligent und leise-humorig
Es sind nicht die beiden gänzlich unspektakulären Dreiecksgeschichten, die den schmalen Band mit dem Interview in Echtzeit besonders machen, eher schon die gänzlich kitschfreien Gedanken über Ehebruch, Schuldbewusstsein, Moral und das Wesen der Liebe. Außergewöhnlich jedoch ist die raffinierte Verschachtelung der Romanebenen und die Frage nach den Beweggründen der im Schlagabtausch zunehmend emotional agierenden Journalistin, die nicht nur Charlotte, sondern auch mich beschäftigt hat. Auch der leise Humor hat mir gut gefallen und der Spiegel, den mir die Autorin vorhält, denn unwillkürlich habe ich mich beim Lesen immer stärker für die Parallelen zwischen ihr und Charlotte interessiert…

Sylvie Schenk: Roman d’amour. Carl Hanser 2021
www.hanser-literaturverlage.de

Sabine Bohlmann & Kerstin Schoene: Der kleine Siebenschläfer – Gleich ist alles wieder gut

  Wie schön, wenn man getröstet wird!

Meine charmanteste Entdeckung auf der Frankfurter Buchmesse 2021 war ein Nagetier am Thienemann-Esslinger-Stand: der kleine Siebenschläfer mit seiner Schnuffeldecke. Es gibt ihn bereits seit 2015 in verschiedenen Bilderbüchern und Pappbilderbüchern, nur kannte ich ihn leider bisher nicht.


Tapsiger Helfer in der Not
Bauchweh kennen auch schon die Allerkleinsten und so können Bilderbuchneulinge ab etwa zwei Jahren von Herzen mit dem geplagten Siebenschläfer mitfühlen, den nicht einmal seine geliebte Schnuffeldecke trösten kann. Zum Glück kommt die freundliche Haselmaus vorbei und schleppt umgehend eine Wärmflasche für den geplagten Freund an. Doch dann entpuppt sie sich als tapsige Helferin, denn anstatt auf den Bauch legt sie sie dem kleinen Patienten erst auf den Kopf, dann auf den Rücken, die Füße und den Popo. Bis die Wärmflasche endlich richtig liegt, ist sie bereits kalt. Aber da fällt der Haselmaus etwas viel Besseres ein, denn Bauchweh ist ja schließlich auch der Wunsch nach Zuwendung, und schon bald tut dem kleinen Siebenschläfer schon fast gar nichts mehr weh…

© B. Busch

Ein Feuerwerk von Gefühlen
Das Duo Sabine Bohlmann (Text) und Kerstin Schoene (Illustration) erzählt in diesem quadratischen, 16 mal 16 Zentimeter großen Pappbilderbuch mit abgerundeten Ecken auf nur acht farbigen Doppelseiten viel mehr als nur eine ausgesprochen niedliche Geschichte. Die Themen Kranksein, Freundschaft, Zuwendung und Trost sind auch für die Altersgruppe ab zwei Jahren schon klar zu erfassen. Die Emotionen der Tiere zeichnen sich auf den Gesichtern und in der Körpersprache von Siebenschläfer und Haselmaus deutlich erkennbar ab: Verwunderung, Anteilnahme, Traurigkeit, Hoffnung, Skepsis, Genervtsein, Fröhlichkeit, Freude, Stolz, Glück und Zufriedenheit, von allem ist etwas dabei. Die Tapsigkeit der Haselmaus sorgt für Heiterkeit beim Betrachten und ermuntert die Kinder zum Mitmachen, denn selbstverständlich wissen sie viel besser, wo die Wärmflasche hingehört. Die sich wiederholenden Textzeilen des Siebenschläfers „Das ist nicht mein Bauch! Das ist …“ können auch Zweijährige bereits begeistert mitsprechen.

Der kleine Siebenschläfer – Gleich ist alles wieder gut ist eine herzerwärmende, völlig kitschfreie Geschichte zum Verlieben, für die Allerkleinsten ab etwa zwei Jahren genauso wie für Erwachsene. Besser kann der Einstieg in die Bilderbuchwelt nicht sein.

Sabine Bohlmann & Kerstin Schoene: Der kleine Siebenschläfer – Gleich ist alles wieder gut. Thienemann 2019
www.thienemann-esslinger.de

Karma Brown: Todsichere Rezepte für die moderne Hausfrau

  Ein Haus, zwei Bewohnerinnen, zwei Zeitebenen

 

Karma Brown war als kanadische Journalistin und Buchautorin Teil des Gastlandauftritts Kanadas bei der Frankfurter Buchmesse 2021. Mit Todsichere Rezepte für die moderne Hausfrau landete sie in ihrem Heimatland einen Bestseller.

 

Nellie und Alice
Nellie bezieht das große Haus in Greenville vor den Toren von New York Mitte der 1950er-Jahre hoffnungsfroh. Sie ist Mitte 20 und frisch verheiratet mit dem wohlhabenden Kaugummifabrikanten Richard Murdoch. Während ihrer Kindheit mit einer alleinerziehenden, depressiven Mutter musste sie früh Verantwortung übernehmen, nun hofft sie auf Familienglück und eine starke Schulter. Ausgerüstet mit dem von ihrer Mutter handschriftlich kommentierten „Kochbuch für die moderne Hausfrau“ und ihrer Liebe zur Gartenarbeit möchte sie den zeitgenössischen Anforderungen an die perfekte Ehefrau genügen. Doch schnell sind ihre Hoffnungen dahin:

[…] Nellie hatte mittlerweile akzeptiert, dass ihre Ehe bestenfalls unerträglich, schlimmstenfalls lebensgefährlich war. Den Richard, den sie damals im Restaurant kennengelernt hatte – den charmanten Mann, der sie mit Aufmerksamkeiten und Geschenken überschüttete und sie glauben machte, sie müsse das Glück nur ergreifen -, gab es nicht mehr. In Wahrheit war dieser Mensch schon in ihrer Hochzeitsnacht verschwunden […]. (S. 197) 

Pech für Richard, dass er Nellies Entschlossenheit unterschätzt…

2018 zieht Alice mit ihrem Mann Nate Hale in das mittlerweile vernachlässigte Haus, auch sie keine 30 und frisch verheiratet. Lieber wäre sie in Manhattan geblieben, aber durch den Verlust ihres PR-Jobs und mit nichts als vagen Plänen für einen Roman hat sie dem Wunsch ihres Mannes wenig entgegenzusetzen – zumal sie ihn über den Grund ihrer Arbeitslosigkeit belogen hat. Widerwillig übernimmt sie die Haus- und Gartenarbeit, bis sie im Keller Nellies Kochbuch findet und deren nie abgeschickte Briefe an ihre Mutter in die Hand bekommt…

Viele Klischees und ein unglücklicher Fokus
Das Cover mit der typischen Hausfrau aus der Werbung der 1950er-Jahre, der doppeldeutige Titel und das Versprechen schwarzen Humors haben mich zu einem meiner seltenen Ausflüge ins Genre „Leichter Frauenroman“ bewogen. Zwar gefällt mir die Idee mit dem verbindenden Haus und den beiden Zeitebenen, Themen wie weibliche Rollenbilder, Selbstbestimmung, Mutterschaft und häusliche Gewalt sind zweifellos relevant und mit zwei Nachbarinnen gibt es zwei starke Nebencharaktere, doch liegt der Schwerpunkt leider mit 28 von 44 Kapiteln bei Alice, für die ich weder Anteilnahme noch gar Sympathie aufbringen konnte. Sie belügt wiederholt ihren Mann und unterstellt ihm Unehrlichkeit, agiert beruflich unprofessionell, naiv und dumm, behandelt ihre einzige Freundin mies und scheint nicht zu wissen, was sie will. Auch das Ende dieses Handlungsstrangs hat mir nicht gefallen. Nellie und ihre Geschichte sind dagegen ungleich interessanter und ihre Kapitel haben mehr Pfiff, allerdings habe ich sie früh durchschaut. Parallelen zwischen den beiden Frauenschicksalen vermag ich aufgrund der sehr verschiedenen Charaktere und Zeitumstände nicht zu ziehen.

Die hübsch gestalteten Kapitel beginnen mit leider ernst gemeinten Ratschlägen für perfekte Ehefrauen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Kapiteln über Alice beziehungsweise Rezepten der amerikanischen Küche aus den 1950er-Jahren bei Nellie. Gestört haben mich die Häufung von Druckfehlern, einige zu wörtliche Übersetzungen und der mehrfach verschmierte Druck auf dem einfachen Papier.

Schade, aber mich konnte dieser hochgelobte Unterhaltungsroman leider nicht begeistern.

Karma Brown: Todsichere Rezepte für die moderne Hausfrau. Aus dem Englischen von Hans M. Herzog. Penguin 2021
www.penguinrandomhouse.de

 

Weitere Rezensionen zu Büchern auf diesem Blog, die anlässlich des  Gastlandauftritts von Kanada auf den Frankfurter Buchmessen 2020/2021 erschienen:


       

Alina Bronsky: Barbara stirbt nicht

  Niemand ist zu alt, um sich zu ändern

Herr Schmidt, Hausgerätetechniker im Ruhestand und seit 52 Jahren verheiratet, kann weder eine Kaffeemaschine bedienen noch eine Kartoffel kochen. Bisher war das auch nie nötig, hat doch Barbara, seine Frau, ihn vorbildlich umsorgt in der neuen Küche, seinem Geschenk zur Goldenen Hochzeit und allein „Barbaras Reich“. Doch eines Tages fehlt der gewohnte morgendliche Kaffeeduft, Barbara ist im Badezimmer zusammengebrochen und steht, als er sie mühsam ins Bett verfrachtet hat, nicht mehr auf. Herrn Schmidts Glaube an Barbaras unerschütterliche Gesundheit erweist sich als tragischer Irrtum.

© B. Busch

 

Ende der Alltagsroutine
Es war keine Liebesheirat, eher eine Verpflichtung, als sich ein Kind ankündigte. Viel Arbeit musste Herr Schmidt in Barbara investieren, den russischen Akzent abtrainieren, sie aufpäppeln, monatelange Küchenmissgeschicke ertragen, den Widerstand seiner Mutter überwinden und verhindern, dass man in dem Dorf bei Frankfurt, in das er und seine Mutter als Flüchtlinge gekommen waren, mehr als nötig auffiel. Und doch scheint sich das Ehepaar Schmidt eingerichtet zu haben, jeder in seinem eng begrenzten Zuständigkeitsbereich, Herr Schmidt in der Erwerbsarbeit, Barbara zuhause. Nun wird die gewohnte Routine unterbrochen und Herr Schmidt durch die Vertreibung aus seiner Komfortzone aus der Bahn geworfen. Oder sorgt er sich doch um Barbara?

Küche statt Krankenpflege
Alina Bronsky erzählt die Geschichte konsequent in personaler Erzählweise aus der Sicht von Herrn Schmidt, der als einziger nie mit seinem Vornamen, Walter, genannt wird. Da er Barbaras Krankheit nicht beim Namen nennt, erfahren wir weder, worunter sie leidet, noch direkt, wie es ihr geht. Für die medizinische Behandlung, später den Pflegedienst, sind die beiden Kinder Sebastian und Karin zuständig, zu denen Herr Schmidt schon lange einen wenig herzlichen Kontakt pflegt. Wie Barbaras Krankheit verdrängt Herr Schmidt auch hier, womit er nicht umgehen kann: Sebastians schwarze (Ex-)Frau mit dem Enkel sowie Karins lesbische Beziehung zu Mai, für ihn lediglich ihre „beste Freundin“.  Nur die sich häufenden Besuche und besorgte Nachfragen aus Barbaras erstaunlich großem, Herrn Schmidts überschaubarem Bekanntenkreis lassen die tatsächliche Dramatik erahnen.

Herr Schmidt dagegen wirft sich in die Küchenarbeit, unterstützt von der Bäckereiverkäuferin, dem Fernsehkoch Medinski und dessen Internet-Fangemeinde. Dass Barbara von seinen immer komplizierteren Koch- und Backversuchen immer weniger essen kann, ist ein weiterer Hinweis auf ihren sich verschlechternden Gesundheitszustand. Dabei ist Herr Schmidt sicher:

 Wenn sie gut isst, wird sie gesund. (S. 129) 

Barbara geht es gut. […] Das Wichtigste ist, dass sie nicht verhungert. Dafür sorge ich. […]“ (S.211)

 Die offenbare Ignoranz ihres Vaters irritiert auch Karin:

 „Papa. Ich verstehe, es ist schwer.“
„Nichts ist schwer. Lass mich.“
„Papa. Deine Reaktionen sind verstörend. Das muss aufhören. Wir können doch nicht die ganze Zeit vor Ort sein.“
„Das hoffe ich.“ (S. 164/165)

Humorvoll, aber nicht belanglos
Barbara stirbt nicht ist weniger skurril als vorherige Romane von Alina Bronsky wie Baba Dunjas letzte Liebe oder Der Zopf meiner Großmutter, obwohl Herr Schmidt mit seiner aberwitzigen Lebensuntüchtigkeit durchaus solche Züge aufweist. Seine Wandlung vom unsensiblen, politisch unkorrekten Kotzbrocken zum einigermaßen empathiefähigen Zeitgenossen, der mir wider Willen sympathischer wurde, ist humorvoll-leicht, bisweilen schräg und immer kurzweilig beschrieben, wobei mir seine Facebook-Karriere oder das alte Familiengeheimnis zu übertrieben waren. Sehr gelungen sind dagegen die lebenserhaltenden Verdrängungsmechanismen, ein literarisches Thema, das mich immer wieder zu fesseln vermag. Barbara stirbt nicht ist deshalb nur vordergründig ein leichtes Wohlfühlbuch. Auf den zweiten Blick entdeckt man mehr.

Alina Bronsky: Barbara stirbt nicht. Kiepenheuer & Witsch 2021
www.kiwi-verlag.de

 

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