Rudolf Borchardt: Krippenspiel

  Bibliophil und hinreißend illustriert

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts unterhielten die verwitwete Julie von Degenfeld und ihre Schwägerin und Gesellschaftsdame Ottonie Gräfin von Degenfeld-Schonburg auf Schloss Neubeuern im bayerischen Inntal einen Freundeskreis aus Künstlern verschiedener Richtungen, zu dem unter anderem Hugo von Hofmannsthal, Rudolf Borchardt, Eugen Roth, Franz von Lenbach und Henry van de Velde gehörten. Vom Schriftsteller und Lyriker Rudolf Borchardt (1877 – 1945) erbat sich die Gräfin 1920 ein Krippenspiel, das von den Kindern bei der Weihnachtsfeier im Schloss aufgeführt werden sollte. In der Nacht vom 18. zum 19. Dezember 1920 verfasste Borchardt deshalb diese Auftragsarbeit, die der Claudius Verlag nun in einer entzückenden bibliophilen Ausgabe mit wunderbaren Scherenschnitten neu aufgelegt hat. Das sehr informative Nachwort über die Entstehungs-, Druck- und Aufführungsgeschichte, den Werkkontext, Figurencharakteristik und regiepraktische Hinweise sowie die Textgestaltung stammt von Gunilla Eschenbach, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Deutschen Literaturarchiv Marbach, das den Nachlass Borchardts beherbergt, und Lehrbeauftragte an der Universität Stuttgart.

Kennt man die Entstehungsgeschichte und die ursprüngliche Bestimmung des Stücks, so verwundert nicht, dass Borchardt das gesamte Spiel der Einfachkeit halber im Stall ansiedelte und mit Maria, Josef, drei Hirten, drei Königen und Engeln in beliebiger Zahl und ohne eigenen Text auch nur wenige Mitspieler vorsah. Das Erlernen der Texte dürfte für die kleinen Darstellerinnen und Darsteller aufgrund der Kürze der Zeit trotzdem eine Herausforderung gewesen sein.

Maria steht im Zentrum
Borchardts Krippenspiel mischt die verschiedenen Evangelienberichte und rückt Maria mit dem größten Redeanteil klar in den Mittelpunkt. Während Josef zu Beginn ängstlich ist und fürchtet, seine Familie nicht angemessen versorgen zu können, strahlt sie Ruhe, Zuversicht, Erhabenheit und Freude aus, der er sich schließlich nicht entziehen kann. Beim Auftritt der Hirten finden sich bereits Hinweise auf das Kreuz und die Nägel, dem dritten König muss Maria die Angst vor ihrem Kind nehmen:

Ach Tor, ach reicher Tor, hör an,
Ach König, armer reicher Mann,
Ich sage dir fürwahr, mein Kind
Sitzt nie, wo deine Kinder sind…

Eine beglückende Weihnachtslektüre
Mir hat diese Bearbeitung des alten Stoffes mit den erstaunlich modern wirkenden Figuren sehr gut gefallen, allen voran Maria, die sowohl die Bedenken von Josef als auch die des dritten Königs zu zerstreuen vermag. Der in Reimpaaren verfasste Text liest sich gut, ob er allerdings mit seiner altertümlichen Sprache für die heutige Aufführung durch Kinder im Grundschulalter geeignet ist, bezweifle ich. Falls man sich doch dafür entscheidet, gibt Gunilla Eschenbach hilfreiche Hinweise zur praktischen Umsetzung. Anderenfalls macht das fadengeheftete kleine Hardcover-Bändchen aber auch bei der Lektüre und beim Betrachten der Scherenschnitte große Freude.

Rudolf Borchardt: Krippenspiel. Herausgegeben von Gunilla Eschenbach. Claudius 2019
www.claudius.de

Miljenko Jergović: Ruth Tannenbaum

  Eine Nation am Abgrund

Lange reizte es mich, die Biografie von Lea Deutsch zu schreiben. Sie war eine gefeierte Schauspielerin und wurde im Alter von sechzehn Jahren ermordet. Bei meinen Recherchen fand ich wenig über ihr Leben, dafür aber viele Gründe, warum man in Zagreb ungern über sie spricht…

So begründet Miljenko Jergović im Anhang zu seinem im kroatischen Original 2006, auf Deutsch 2019 erschienenen Roman Ruth Tannenbaum seine Entscheidung für eine fiktive Titelfigur. Sie steht auch weniger im Mittelpunkt des Buches, als ich es nach Titel und Klappentext vermutet hätte. Vielmehr sind es ihre Eltern, Nachbarn, der Großvater, Theaterleute, die gewöhnlichen Bewohner Zagrebs in den Jahren 1920 bis 1943, Angehörige verschiedener Nationalitäten und Religionen. Leider wusste ich bisher so gut wie nichts über diese finstere Periode und Miljenko Jergović setzt viel Wissen über die politische Situation auf dem Balkan beim Leser voraus, weshalb ich ein erklärendes Vor- oder Nachwort begrüßt hätte. So habe ich mir die Informationen über das Schicksal Kroatiens nach dem Zusammenbruch des Habsburgerreichs aus dem Internet geholt, dabei von der Vereinigung Kroatiens und Sloweniens mit Serbien im Jahr 1918 erfahren, von der Königsdiktatur im Königreich Jugoslawien unter Aleksandar I., der 1921 das Parlament auflöste, und vom aufkommenden Nationalismus, der schließlich im Faschismus mündete.

Einer, der immer zwischen allen Stühlen saß, war der Unglücksrabe Salomon Tannenbaum, genannt Moni, der unbedingt dazugehören und nichts weniger sein wollte als Jude. 1928 heiratete er Ivka, die Tochter des Lebensmittelhändlers Abraham Singer, ohne jedoch von dessen Reputation zu profitieren. Ivkas riesige „Kinderschreck-und-Männerfänger-Augen“ erbte die gemeinsame Tochter Ruth, die damit zum Kinderstar am kroatischen Nationaltheater aufstieg. Die Karriere der Tochter weckte bei Salomon Träume:

Noch hatten sich die Veränderungen im Leben der Familie Tannenbaum nicht herumgesprochen, aber wenn, würde Salomon nicht mehr ängstlich den Bürgersteig räumen, um andere vorbeizulassen, vielmehr würden die anderen zur Seite treten und ihn vorbeilassen. Dann war er kein Waschlappen mehr, Schlappschwanz ade, seht nur, der Herr Papa unserer kroatischen Shirley Temple…

Doch auch wenn Ruth für das Gastspiel im Nationaltheater in Wien den Namen Christine Horvath annahm, das Publikum ihr zujubelte und die Eltern Singers weitsichtiges Angebot von Schiffspassagen nach Amerika blind zurückwiesen, war der Untergang des Judentums in Zagreb nicht mehr aufzuhalten:

Selbst Menschen, die nie hässlich von anderen gedacht hatten, waren nun schon immer davon überzeugt gewesen, dass die Juden Jesum Christum verraten und gekreuzigt haben. Das bekommen sie in der Kirche erzählt, das lernten die Kinder in der Schule, keiner konnte es sich anders vorstellen, keiner zweifelte an dem, was die Pfaffen über die Juden erzählten.

Ruth Tannenbaum war für mich eine fordernde, düster-bedrohliche Lektüre. Bedauert habe ich, dass es keine wirklich sympathische Figur im Roman gab, die verwöhnte, oft boshafte Ruth eingeschlossen. Selbst der nette Weichensteller aus dem Kellergeschoss wird zum mordenden Ustascha und die Tannenbaums gehen verbal und handgreiflich gegen schwächere Juden vor. Die Verbindung zwischen dem Schicksal der Familie Tannenbaum und dem der ganzen Nation ist Miljenko Jergović dagegen hervorragend gelungen und der von Brigitte Döbert in ein wunderbares Deutsch übertragene Roman ist packend bis zur letzten Seite.

Miljenko Jergović: Ruth Tannenbaum.  Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert. Schöffling & Co. 2019
www.schoeffling.de

Madeline Miller: Ich bin Circe

  Die Hexe von Aiaia

Obwohl ich als Jugendliche Gustav Schwabs Sagen des klassischen Altertums mit großer Freude gelesen habe, waren die griechischen Götter seitdem weitgehend aus meinem Blickfeld verschwunden. Mit Ich bin Circe, der fiktiven Autobiografie der Zaubergöttin aus der Hand der US-amerikanischen Altphilologin Madeline Miller, hat sich das glücklicherweise geändert. Die Begegnungen ihrer Circe mit den Figuren der griechischen Mythologie hat mir Zeus & Co., die Welt der Olympier und Titanen, die Geschichten von Prometheus, Glaukos, Skylla, Daidalos, Minotaurus, Ariadne, Ikarus, Achilles, Odysseus, Athene, Hermes und vieler anderer wieder sehr nahe gebracht. Doch so interessant diese Charaktere auch sind, so reichen sie doch nicht an Millers Circe heran, der mit ihrer Entwicklung von der unterdrückten, ängstlichen Tochter zur selbstbestimmten, selbstbewussten Frau eindeutig meine Sympathien gehören.

Verbannung als Chance
Als Tochter des Sonnengottes Helios und der schönen Perse wächst Circe einsam im Schatten ihrer angeseheneren, glanzvolleren Geschwister auf. Früh fühlt sie, die von der eigenen Familie verachtet wird, sich zu Sterblichen hingezogen, zeigt Empathie, wo sie Leid spürt, und experimentiert mit Kräutern, eine von den Göttern gefürchtete Gabe. Ihre Verbannung auf die einsame Insel Aiaia, verhängt von Zeus und ihrem Vater Helios und gedacht als Strafe, wird für sie zum Schritt in die Freiheit. Hier kann Circe endlich leben, singen, wilde Tiere zähmen, den eigenen Garten anlegen und ihre Zauberkräfte ausbilden. Mit ihren wachsenden Fähigkeiten steigt auch ihr Selbstbewusstsein, sie setzt sich gegen ungebetene Besucher mit List, notfalls mit Brutalität, aber nie unreflektiert zur Wehr. Gleichzeitig bleibt sie aber auch eine Frau, die sich in Liebe völlig hingibt oder sich – wie im Fall von Hermes – berechnend nimmt, was sie haben möchte.

Ein Besucher, der alles ändert
Mit der Ankunft von Odysseus auf Aiaia ändert sich Circes Leben noch einmal von Grund auf. Nicht nur, dass sie mit diesem Sterblichen unvergessliche Monate verbringt und den gemeinsamen Sohn Telegonos zur Welt bringt, erschien mir die besorgte, ängstliche alleinerziehende Circe menschlicher denn je.

Ann Vielhaben liest
Mit gut 12 Stunden bietet das Hörbuch mit dem wunderschönen, klassisch gestalteten Cover nur eine gekürzte Version des Romans, und obwohl ich sonst vollständige Lesungen vorziehe, habe ich nichts vermisst. In der ersten Hälfte schien mir die Zahl der Figuren aus der griechischen Mythologie mit ihren Kurzauftritten sogar etwas zu hoch und der Überblick fiel mir nicht immer leicht. Mit der Ankunft von Odysseus wurde das Geschehen dann übersichtlicher und ich habe mich über die erneuten Begegnungen mit nunmehr „alten Bekannten“ gefreut.
Die Hörbuchstimme von Ann Vielhaben war für mich neu. Gut gefallen hat mir ihr weicher Klang und insgesamt habe ich ihr nach kurzer Eingewöhnung gerne zugehört. Allerdings wäre mir weniger Schauspielerei lieber gewesen und die gedehnten Silben am Satzende empfand ich im Laufe der langen Hörzeit als zu gleichförmig. Trotzdem werde ich Ich bin Circe ganz bestimmt noch öfter anhören, denn es steckt viel mehr in diesem Roman, als man beim ersten Hören erfassen kann.

Madeline Miller: Ich bin Circe. Aus dem Amerikanischen von Frauke Brodd. Gelesen von Ann Vielhaben. Random House Audio 2019
www.randomhouse.de

Silke Schlichtmann & Maja Bohn: Mattis – Schnipp, schnapp, Haare ab!

  Haariger Ärger

Was soll man tun, wenn aus der Schule immer nur blöde Briefe kommen, man aber nie die Chance für eine Richtigstellung bekommt, weil niemand einem zuhört? Der Drittklässler Mattis Hansen hat eine Lösung gefunden: Er schreibt die Wahrheit zu den Briefen, die seine Mutter in einem schwarzen Aktenordner sammelt, einfach auf. Welch ein Glück, denn auf diese Weise erfahren wir nun zum dritten Mal von den Streichen, mit denen der erfinderische Achtjährige seine Lehrer und Eltern auf Trab hält. Dabei ist er eigentlich gar kein schlimmer Junge, denn er handelt stets in guter Absicht. Umso unverständlicher für ihn, dass die Lehrer ob seiner Einfälle in Weißglut geraten und die besorgte Mutter ein schreckliches Ende prophezeit. Gut nur, dass wenigstens der Vater gelassen und optimistisch bleibt.

Ein Erstleserbuch voller Wortwitz und Fantasie
Mit ihrem gewohnten Wortwitz, großem Einfallsreichtum und ganz viel Einfühlungsvermögen für den geplagten Ich-Erzähler Mattis erzählt Silke Schlichtmann im dritten Band ihrer Erstleserreihe vom missglückten Haarschnitt in der Schule und den fatalen Folgen für Mattis Kopf:

Vertrauenerweckend sah ich echt nicht aus. Höchstens bemitleidenswert. Als hätte sich eine Schar Außerirdischer über meinen Kopf hergemacht. So Außerirdische, die sich von Haaren ernähren. Und zwar immer nur häppchenweise. Mal hier ein Haarbüschel essen, mal dort eine Haarsträhne mümmeln. Das Schlimmste dabei war: Diese Außerirdischen gab es gar nicht. Niemand anders als ich selbst war schuld an diesem Kraut-und-Rüben-Garten auf meinem Kopf.

Nicht zum ersten Mal muss Mattis sich überlegen, wie er aus dem selbstverschuldeten Chaos wieder herauskommt, denn der Misere auf seinem Kopf folgen an diesem Schultag weitere unbeabsichtigte Pannen. Klar, dass es am Ende einen neuer Brief gibt und die Empörung der Mutter unausweichlich ist:

„Was ist nur mit dir los, Mattis? Ich will dir schon seit Wochen die Haare schneiden. Und du hast nichts Besseres zu tun, als dir heimlich meine Frisierschere zu schnappen. Und dir im Unterricht die Haare abzusäbeln […] Unglaublich! Mir fehlen die Worte.“ – „Merkt man gar nicht“, versuchte ich Mama aufzumuntern. Was leider nicht klappte.

Garantierter (Vor-)Lesespaß
Wie immer stammen die witzigen Illustrationen, die in Mimik und Gestik die Gefühle der Figuren sehr gut wiedergeben und ausgezeichnet zum Text passen, von Maja Bohn. Gute Leserinnen und Leser ab der zweiten Klasse und große Vorleserinnen und Vorleser werden auch an diesem Band der Reihe sicher wieder ihren Spaß haben!

Silke Schlichtmann & Maja Bohn: Mattis – Schnipp, schnapp, Haare ab! Carl Hanser 2019
www.hanser.de

Bd. 1
Bd. 2

 

 

 

Saša Stanišić: Herkunft

  Saša Stanišić liest Herkunft – und wie!

Als ich Herkunft im September las, stand das Buch auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2019. Für mich war es der erste Roman von Saša Stanišić und eine große Entdeckung. Dann hörte ich ihn nach der Preisverleihung auf der Frankfurter Buchmesse bei einer Lesung – er las das Kapitel über den schlesischen Zahnarzt Dr. Heimat – und begriff, dass es hier noch eine Steigerung zur Lektüre gibt: das von ihm selbst gelesene Hörbuch. Zwar beinhalten die fünf CDs mit einer Gesamtlaufzeit von gut fünfeinhalb Stunden nur ausgewählte Texte des Romans, aber ich habe sicher dreimal solange gebraucht, so oft habe ich einzelne Tracks wiederholt und immer wieder Neues entdeckt.

„Jedes Zuhause ist ein zufälliges. Glück hat, wer den Zufall beeinflussen kann.“
Herkunft war für Saša Stanišić kein Thema, bis seine bosnische Großmutter ihn mit in das Heimatdorf seiner Vorfahren und auf den dortigen Friedhof nahm. Und auch dann war ihm das Thema zunächst eher peinlich, denn die „Herkunftsfolklore“ und der „Zugehörigkeitskitsch“ waren Ursache dafür, dass es Jugoslawien, das Land, in dem er geboren wurde, heute nicht mehr gibt. Die Flucht vor dem Balkankrieg nach Heidelberg, das Ankommen in Deutschland, der Erwerb der deutschen Sprache, die Freunde von der Aral-Tankstelle, die Scham über die prekären Lebensumstände, die Angst vor der Abschiebung, die erste Liebe und schließlich das Glück, in Deutschland bleiben zu können, während die Eltern trotz aller Anstrengungen das Land wieder verlassen mussten, bildet den einen Teil des Romans. Den anderen Teil widmet Saša Stanišić der Erinnerung an die Kindheit in Bosnien, dem Ende des Vielvölkerstaats, als Herkunft plötzlich eine immer größere Rolle spielte und selbst die Identifikation mit dem Fußballclub Roter Stern Belgrad die verschiedenen Nationalitäten nicht mehr verband, und der in Višegrad zurückgebliebenen Großmutter, der mit zunehmender Demenz die Erinnerungen abhandenkamen.

Der ganz eigene Charme von Stanišićs Lesung
Verfügt der Roman bereits über eine große emotionale Bandbreite von der Melancholie bis zur blanken Komik, so kamen alle diese Gefühle für mich beim Zuhören noch deutlich stärker zum Tragen. Saša Stanišić liest seine Texte so engagiert und pointiert, mit so viel Dynamik, Betonung, Gefühl und dem passenden Akzent, dass ich ständig zwischen Lachen und Traurigkeit schwankte. Ein ausgebildeter Schauspieler hätte sie zwar mit größerer Perfektion, aber niemals mit vergleichbarer Intensität vortragen können. Hatte mich beim Lesen das Ankommen in Deutschland noch mehr bewegt als die Geschichten aus Bosnien, so waren die beiden Aspekte beim Hören mindestens gleichwertig, die Trauer über die Erkrankung der Großmutter und die spürbare Betroffenheit und Hilflosigkeit des Enkels sogar berührender. Auch das Spiel mit der Sprache, das den Roman neben den inhaltlichen Aspekten für mich so ganz besonders macht, war beim Zuhören eine Quelle der Freude.

Der genau richtige Gewinner des Deutschen Buchpreises 2019
Noch nie war ich mit der Jury des Deutschen Buchpreises so einer Meinung wie in diesem Jahr. Herkunft ist ein berührendes, kluges, hochaktuelles und zugleich unterhaltsames Buch, das ich eigentlich jedem ans Herz legen möchte, am besten zuerst als Lektüre und danach als Lesung.

Saša Stanišić: Herkunft. Gelesen vom Autor. Der Hörverlag 2019
www.randomhouse.de

Hannah O’Brien: Irische Nacht

  Mörderische Geometrie

In ihrem dritten Fall nach Irisches Verhängnis und Irisches Roulette bekommen es die Leiterin des Morddezernats von Galway, Grace O’Malley, und ihr loyaler Kollege Rory Coyne mit einem Mord in der „irischsten aller irischen Nächte“ zu tun. Samhain (gesprochen Saaum), das höchste Fest im keltischen Kalender in der Nacht vom 31. Oktober zum 1. November und Ursprung von Halloween, wird auf den Aran-Inseln bis heute laut, maskiert und mit viel Alkohol gefeiert. Als es im Laufe der wie für ein Verbrechen geschaffenen Nacht tatsächlich zu einem Mord auf Inis Méain, der mittleren der drei Aran-Inseln, kommt, weiß niemand, wer sich hinter der Maskerade als „Green Man“ oder „Lustiger Müllbeutel“ versteckte. Oder hatte doch jemand mehr gesehen, als gut für ihn war? Bald gibt es nach der Leiche des reichen, allseits unbeliebten Farmers Michael Lynch ein weiteres Opfer. Ein Vertuschungsmord? Und wo liegt das Motiv für den Mord an Lynch? Verdächtige gibt es schnell, im privaten wie im geschäftlichen Bereich, und doch will für Grace und Rory lange nichts so recht zusammenpassen. Bis Grace beginnt, die Geometrie der Verbrechen in einem anderen Licht zu sehen…

Irland als Schauplatz von Regionalkrimis
Die Irlandkrimis der Journalistin und Autorin Hannah O’Brien, die selbst lange an der irischen Westküste gelebt hat, lese ich vor allem wegen des regionalen Hintergrunds und wegen der sehr gut eingebundenen Informationen zur irischen Geschichte, Landschaft, Kultur, Tradition und Lebensweise gerne. Ausgesprochen hilfreich sind das Glossar und die Landkarte, die ich immer wieder gern zu Rate ziehe. Bis auf Rorys „zweites Gesicht“, mit dem ich nichts anfangen kann, so irisch es auch sein mag, sind diese Zutaten auch im aktuellen Fall wieder gut gelungen. Allerdings haben mich Teilaspekte der Ermittlung dieses Mal nicht ganz so überzeugt wie bei den beiden vorhergehenden Bänden, beispielsweise der eher zögerliche Beginn, die ebenso durchsichtig wie kitschig geratene „wundersame Familienzusammenführung“ der jungen Gerichtsmedizinerin Aisling und der etwas hölzerne Showdown an den Ashleigh Falls, dessen es so nicht bedurft hätte. Gut gefallen hat mir dagegen wieder das Ermittlerteam um die reflektierte Grace O’Malley, die endlich auch dem hilfsbereiten Privatdetektiv Peter Burke ein Stück näherkam, und die Auflösung der Morde.

Hannah O’Brien: Irische Nacht. dtv 2017
www.dtv.de

Bd. 1
Bd. 2

Åsne Seierstad: Einer von uns

  „Das Böse kann einen Menschen töten, aber es kann niemals ein Volk erobern.“ (Jens Stoltenberg, norwegischer Ministerpräsident)

Thema und Inhalt dieses Buches sind nur sehr schwer erträglich. Die ersten Seiten, die einige Minuten des Massakers vom 22. Juli 2011 auf der Insel Utøya im Sommercamp der norwegischen Arbeiterpartei-Jugendorganisation AUF vorwegnehmen, haben mich an meinem Lese-Vorhaben zweifeln lassen. Und es wird noch schlimmer, denn wenn man knapp 300 Seiten später zum minutiösen Ablauf dieses apokalyptischen Tages gelangt, kennt man Namen und Biografien einiger Opfer. Trotzdem entwickelt das erzählende Sachbuch der norwegischen Journalistin Åsne Seierstad über den rechtsextremen Massenmörder Anders Behring Breivik und einige seiner Opfer einen ungeheuren Sog, dem ich mich nicht entziehen konnte und schnell auch nicht mehr entziehen wollte.

Eine Entdeckung auf der Frankfurter Buchmesse
2002 habe ich durch Åsne Seierstads Bestseller Der Buchhändler aus Kabul Einblicke in eine für mich fremde Welt bekommen. Erst bei einem Bloggertreffen anlässlich der Frankfurter Buchmesse 2019 im Norwegen-Pavillon bin ich ihr wieder begegnet, als sie sehr engagiert über ihr im Original bereits 2013, auf Deutsch 2016 erschienenes, 2018 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung ausgezeichnetes Buch Einer von uns berichtet hat. Interessant fand ich vor allem ihren Ansatz, neben die Biografie des Täters auch die einiger seiner Opfer zu stellen. Außerdem ich habe ich sofort die Parallele zum ebenfalls anwesenden Simon Stranger gesehen, dessen auf Fakten basierenden Roman Vergesst unsere Namen nicht ich gerade mit großer Begeisterung gelesen hatte. Auch darin geht es um Opfer und einen Täter, den norwegischen Kriegsverbrecher Henry Oliver Rinnan, mit der Fragestellung, wie ein Mensch zum Monster wird.

Viel mehr als eine Dokumentation über Breiviks Terroranschlag
Sowohl nach dem Terroranschlag vom 22. Juli 2011 im Regierungsviertel in Oslo und auf der Insel Utøya mit 77 Toten sowie zahlreichen Verletzten als auch während der Gerichtsverhandlung 2012 berichtete die Auslandkorrespondentin und Kriegsreporterin Åsne Seierstad für Newsweek erstmals aus ihrem Heimatland. Im Anschluss daran wollte sie „tiefer graben“, las das 1500-Seiten-Manifest Breiviks, seine Blog-Einträge, Akten des Jugendamts, Vernehmungsprotokolle und Briefe und führte Interviews mit seinen Eltern, Freunden, Klassenkameraden, Kollegen und früheren Parteigenossen. All dies wurde zur Grundlage ihrer detaillierten Biografie über den 1979 geborenen Rechtsterroristen, der sich aus der Mitte der Gesellschaft heraus selbst radikalisierte und zum kalt kalkulierenden, seine Opfer sorgsam auswählenden Massenmörder wurde. Sie schildert Breiviks Weg vom Kind aus desolaten Familienstrukturen zum Außenseiter und Verlierer, der stets um Anerkennung bemüht war, diese aber weder zuhause noch außerhalb erfuhr. Seierstads objektive Beobachterrolle ohne Sensationshascherei hat mir sehr gut gefallen, sie wertet und rechtfertigt vor allem nicht. Sehr empathisch sind dagegen die Biografien ausgewählter Opfer, alle politisch in der Arbeiterpartei engagierte Jugendliche, die aufgrund von Gesprächen mit Hinterbliebenen und Überlebenden entstanden. Wichtig war dabei für mich ein Hinweis im lesenswerten Nachwort: „Keine der Eltern hatten Einwände dagegen, dass ich den Tod des Kindes beschrieb.“ Knapp 300 Seiten handeln von der Zeit vor dem Attentat, 150 Seiten vom Tag des Attentats mit der schier unfassbaren Verkettung von Pannen, Koordinationsfehlern und Fehleinschätzungen auf Seiten der Polizei, 70 Seiten vom Prozess und der Hauptfrage nach der Zurechnungsfähigkeit Breiviks und 30 Seiten vom Leben der Hinterbliebenen und Überlebenden danach sowie vom Häftling Breivik. Daneben ist das Buch aber auch ein Kompendium der norwegischen Politik und Gesellschaft ab den 1970er-Jahren.

Ein Appell
Åsne Seierstad stellt ihrem Buch einen Auszug aus Hjalmar Söderbergs schwedischem Klassiker Doktor Glas von 1905 voraus, der genauso zu Einer von uns wie zu Vergesst unsere Namen nicht passt:

Man will geliebt werden, mangels dessen bewundert, mangels dessen gefürchtet, mangels dessen gehasst und verachtet. Man will irgendein Gefühl in den Menschen wecken. Die Seele schreckt vor der Leere zurück und sucht um jeden Preis Kontakt.

Ich habe Åsne Seierstads hervorragendes Buch als Appell an uns alle gelesen, zu verhindern, dass die Kontaktaufnahme wie bei Breivik und Rinnan mittels Terrors erfolgt.

Åsne Seierstad: Einer von uns. Aus dem Norwegischen und Englischen von Frank Zuber und Nora Pröfrock. Kein & Aber 2016
keinundaber.ch

Die Lese-Haltestelle in Stegen bei Freiburg

Eine ganz besondere Bushaltestelle mit liebevoll eingerichtetem und gepflegtem öffentlichem Bücherregal habe ich während meines Schwarzwaldurlaubs in Stegen entdeckt:

© M. Busch

Hier kann man nur hoffen, dass der Bus später kommt…

Natürlich habe ich auch gleich ein Buch gefunden, das ich schon länger auf meiner Wunschliste hatte: Robert Menasses Die Hauptstadt. Dank an den Spender!

Laura Freudenthaler: Die Königin schweigt

  Vergangenheitsfahrerin wider Willen

Fanny ist alt, einsam und fühlt die Müdigkeit aus all den vielen Jahren ihres Lebens. Sie lebt alleine in einer Kleinstadt in dem Häuschen, das sie nach dem Tod ihres Mannes einst für sich und ihren Sohn gebaut hat. Nur zwei Menschen besuchen sie noch: Hanna, ihre ehemalige  Ziehtochter auf Zeit, und ihre Enkelin. Der Wunsch der beiden jüngeren Frauen, Fanny möge sich zurückerinnern, bleibt allerdings unerfüllt, das Notizbuch, das die Enkelin ihr schenkt, leer, denn Fanny möchte auf keinen Fall eine „Vergangenheitsfahrerin“ sein. Du kannst doch nicht nie über irgendetwas reden“, argumentiert die Enkelin, aber vergeblich. Was Fanny jedoch nicht verhindern kann, sind die Erinnerungsschnipsel, die Tag und Nacht auftauchen: „Seit sie die Zeiten nicht mehr im Griff hatte, war sie ihrem Körper auch in dieser Hinsicht ausgeliefert. Heimlich, ohne Fannys Zutun, hatte der Körper über die Jahre alles bewahrt. Und jetzt, da er so schwach war, da Fanny nur noch wenig Nahrung zu sich nahm und der Körper nichts mehr zu tun hatte, waren die Erinnerungen wie organische Prozesse, die eigenständig und ohne willentliche Steuerung vor sich gingen.

Schon Fannys Vater, Bauer in fünfter Generation auf dem Hof in der Senke, war ein Schweiger. Als ihr Bruder Toni nicht aus dem Krieg heimkehrte, verstummte er fast vollständig. Da es nun keinen Hoferben mehr gab und Fannys Mann, der Schulmeister des Dorfes, sich mehr bei Parteisitzungen der Roten und im Wirtshaus als auf dem Hof engagierte, zudem Spielschulden machte, ging der Hof und damit jeglicher Lebensmut der Eltern verloren. Fannys Glück im Schulhaus auf dem Hügel, wo sie sich vorübergehend als Königin fühlte, war von kurzer Dauer. Sie schien das Unglück zeitlebens anzuziehen: „Das Unglück war ein Wesen, das manchmal verschwunden zu sein schien, weit weg und nicht zu sehen, aber es verlor nie die Spur.“ Dabei gab es immer wieder auch glückliche Fügungen in ihrem Leben, Männer, die sie über Jahre begleiteten, Reisen, Freundinnen, eine glimpflich verlaufene Erkrankung, Hanna, die Enkelin – doch die Angst vor dem nächsten Unheil und alte Schuldgefühle dominierten. Anders als der Sohn, der das Trauma der Mutter übernahm, sucht die Enkelin nach einem Weg der Bewältigung.

Als der Debütroman der 1984 geborenen Österreicherin Laura Freudenthaler 2017 im Literaturverlag Droschl erschien, habe ich ihn leider nicht wahrgenommen, obwohl sie dafür den Förderpreis zum Bremer Literaturpreis 2018 und die Auszeichnung als bestes deutschsprachiges Debüt beim Festival du Premier Roman 2018 in Chambéry erhielt. Nun, mit der Taschenbuchausgabe im Verlag btb, habe ich ihn glücklicherweise entdeckt. Der schmale Band erinnert mich stark an Robert Seethalers Ein ganzes Leben und doch ist die Form der Erinnerungsfetzen, die nur höchstens zwei Seiten umfassen und nahtlos ineinander überzugleiten scheinen, ganz eigen. Mich hat die Geschichte, hinter der ich niemals eine so junge Autorin vermutet hätte, von der ersten Seite an in Bann geschlagen und ich konnte das Buch nicht mehr aus der Hand legen, nicht nur wegen der aufwühlenden Lebensgeschichte, sondern auch wegen der ruhig fließenden Erzählweise und der Musikalität der Sprache.

Laura Freudenthaler: Die Königin schweigt. btb 2019
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Daniel Mason: Der Wintersoldat

  Wunden, die nicht heilen

Der begabte 22-jährige Medizinstudent Lucius Krzelewski ist weder mental noch fachlich auf seine Tätigkeit als Sanitätsoffizier im Ersten Weltkrieg vorbereitet, als er im Februar 1915 während der großen Karpatenschlacht zwischen Russland und der Donaumonarchie in Galizien eintrifft. Anstatt wie erwartet in einem Stab von Ärzten zu arbeiten, findet sich der gänzlich Unerfahrene alleine in einer zum Behelfslazarett umfunktionierten Holzkirche wieder, in die immer wieder neue Verwundete gebracht werden. Eine ungeheizte Erste-Hilfe-Station, ein aus Holzbänken gezimmerter OP-Tisch und eine bewaffnete, operierende Krankenschwester und Nonne namens Margarete, vor der sich Lucius zu Beginn mehr fürchtet, als vor der gesamten Professorenschaft in Wien, sind alles, was er vorfindet. Sein theoretisches Wissen nützt ihm wenig, es gibt weder Röntgengerät noch Labor, und es dauert einen Monat, ehe er Margarete wenigstens bei den einfachsten Fällen zu assistieren vermag.

Ein Jahr arbeiten Lucius und Margarete Hand in Hand, richten sich in einem primitiven Klinikalltag ein, tauschen sich mit ihrem theoretischen und praktischen Wissen aus und verlieben sich ineinander, als im Februar 1916 ein Soldat mit rätselhaften Symptomen eingeliefert wird. Er ist einer der „Nervenschock-Patienten“, jenes geheimnisvolle Krankheitsbild, das vor dem Krieg unbekannt war. Lucius verbeißt sich in den Fall, stellt die eigene Eitelkeit gegen Margaretes dringenden Rat über das Wohl des Patienten und begeht damit eine medizinische Todsünde, die ihrer aller Leben verändert. Als er Margarete in den Wirren des Krieges verliert, beginnt für ihn eine schwere Zeit des Suchens und der Alpträume.

Der US-amerikanische Arzt und Psychiater Daniel Mason hat vor dem Hintergrund des Ersten Weltkriegs einen Roman über das viel zu schnelle Erwachsenwerden eines jungen Mannes geschrieben, der kein Held sein möchte, und dem zu früh zu viel Verantwortung aufgebürdet wird.  Besonders deutlich wird das bei Lucius‘ Erschrecken über die Kriegsversehrten in Wien – eben solchen Männern, denen er durch seine am Fließband durchgeführten Amputationen das Leben gerettet, über die Konsequenzen aber nie nachgedacht hat. Dabei spart Mason nicht mit medizinischen Details, mit Gerüchen und mit den Schmerzenslauten der Verwundeten und Sterbenden. Manche Passagen des Romans, der sich für mich wie das Drehbuch zu einem wunderbaren Kinofilm liest, hätte ich mir straffer gewünscht und die strenge Einteilung der Figuren in Gute und Böse war mir ein wenig zu glatt. Dagegen habe ich die nahezu kitschfreie Liebesgeschichte sehr gerne gelesen und der ausgesprochen gelungene Schluss hat mich positiv überrascht.

Der Wintersoldat ist daher ein empfehlenswerter, gut geschriebener, flüssig zu lesender Unterhaltungsroman über die Rolle der Medizin und die Liebe vor dem Hintergrund der Kriegsgräuel.

Daniel Mason: Der Wintersoldat. Aus dem Englischen von Sky Nonhoff und Judith Schwab. C.H. Beck 2019
www.chbeck.de