Markus Thiele: Echo des Schweigens

  Lebenskreise mit Schnittmengen

Angelehnt an den Fall des 2005 in einer Gefängniszelle in Dessau verbrannten Sierra-Leoners Oury Jalloh ist der Roman Echo des Schweigens von Markus Thiele. Dass der Autor selbst Rechtsanwalt ist, macht das Buch für mich besonders wertvoll, denn im Mittelpunkt steht der Interessenskonflikt des Anwalts Dr. Hannes Jansen, der sich zwischen Recht und Gewissen entscheiden muss. Das Dilemma tut sich bereits auf den ersten Seiten auf: Während seines Abschlussplädoyers im Schwurgerichtssaal des Landgerichts Magdeburg erhält Jansen den Beweis für die Schuld seines Mandanten zugespielt, doch ist ihm als Strafverteidiger der „Parteiverrat“ gesetzlich untersagt.

Ein neues Gutachten sorgt für ein Wiederaufnahmeverfahren
Nur einer Ausnahmeregelung ist es zu verdanken, dass das Verfahren gegen den Vorzeigekommissar mit tadellosem Führungszeugnis und liebevollen Familienvater Maik Winkler nach dem ursprüngichen Freispruch überhaupt wiederaufgenommen werden kann, denn eigentlich gilt „Ne bis in idem“, der Grundsatz aus Artikel 103 des Grundgesetzes, nach dem dieselbe Tat nicht zweimal angeklagt werden darf. Ein neues Gutachten aus der Rechtsmedizin der Charité beweist jedoch zweifelsfrei, dass das Opfer, der in seiner Zelle verbrannte, offenbar zuvor misshandelte und an Armen und Beinen gefesselte Senegalese Abba Okeke, sich nicht wie zuvor angenommen selbst angezündet haben kann. Als einziger Tatverdächtiger gilt trotz des angeblichen Alibis Kriminaloberkommissar Winkler.

Für Hannes Jansen, den ehrgeizigen Anwalt mit Geldsorgen und Aufstiegsambitionen, ist der Prozess die große Chance, auf die er lange gewartet hat. Bei einem Sieg in diesem von den Medien und der Politik gleichermaßen beachteten Verfahren winkt die lukrative und prestigeträchtige Teilhaberschaft in der Kanzlei. Erst spät erfährt er, dass die Gutachterin ausgerechnet Dr. Sophie Tauber ist, die Frau, in die er sich soeben erst verliebt hat. Sie wird nun zu seiner schäfsten Gegnerin im Prozess.

Mehrere Handlungsstränge
Nach einem kurzen Blick in den Gerichtssaal am letzten Prozesstag, der gerade so viel verrät, wie die Spannung erfordert, wird das Geschehen um das Verfahren, die Liebesgeschichte von Sophie und Hannes und Sophies Recherchen bezüglich ihrer eigenen Familiengeschichte, ausgelöst durch den Tod ihrer Mutter, vom September 2017 bis September 2018 chronologisch erzählt.

Unterbrochen wird die chronologische Abfolge der mit einer Zeitangabe überschriebenen Kapitel von Abschnitten aus den Jahren 1938 bis 1942 sowie 1948 und 1979. Eine jüdische Großmutter, die in Auschwitz ums Leben kam, ein Verrat unter Brüdern, der erzwungene „Parteiverrat“ eines Anwalts vor einem NS-Gericht und eine späte Rache haben mehr mit Sophie Tauber und Hannes Jansen zu tun, als die beiden sich in ihren kühnsten Träumen vorstellen konnten…

Ein Roman mit Thrillerqualitäten
Die Frage nach der Postition des Verteidigers im Strafprozess war für mich als juristischem Laien mit einer Vorliebe für Gerichtskrimis von besonderem Interesse, doch habe ich die Rückblicke in das Leben von Sophies Großmutter und Mutter fast genauso gerne gelesen. Einzig die allzu großen Zufälle haben mich an der ein oder anderen Stelle gestört. Davon abgesehen kann ich den flüssig geschriebenen Roman mit dem angenehm großzügigen Layout als ausgesprochen spannende und informative Lektüre empfehlen.

Markus Thiele: Echo des Schweigens. Benevento 2020
www.beneventopublishing.com

Lesung mit der LesekünstlerIn des Jahres 2019: Silke Schlichtmann bei den Kinder- und Jugendbuchwochen in Stuttgart

© Börsenverein Baden-Württemberg

Im Rahmen der derzeit stattfindenden Kinder- und Jugendbuchwochen in Stuttgart gibt es unter anderem sieben Lesungen der Kinderbuchautorin Silke Schlichtmann. Als erwachsener Fan ihrer Kinderbücher und Lesungen hatte ich das große Glück, eine davon am 18.02. in der Stadtteilbibliothek Untertürkheim zu erleben, zusammen mit aufmerksamen, engagierten und begeisterten Drittklässlern.

© B. Busch

Silke Schlichtmann, 2019 auf der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet als LesekünstlerIn des Jahres und 2018 mit Bluma und das Gummischlangengeheimis nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis, las aus Mattis und das klebende Klassenzimmer, dem ersten Band einer Reihe für fortgeschrittene Leseanfänger aus dem Carl Hanser Verlag.

© B. Busch

Es wurde aber nicht nur vorgelesen, auch wenn die kleinen Zuhörerinnen und Zuhörer davon gar nicht genug bekommen konnten, es wurde wie immer bei Silke Schlichtmanns Lesungen auch gemeinsam gesungen. Mit Hilfe der an die Wand projezierten Illustrationen von Maja Bohn konnten die Kinder den gehörten Text anschließend reflektieren. Eine sehr lebhafte Fragerunde schloss die Veranstaltung ab.

 

Danke an den Börsenverein Baden-Württemberg, an die Stadtteilbibliothek Untertürkheim und natürlich an Silke Schlichtmann für den rundum gelungenen Nachmittag!

Silke Schlichtmann: Mattis und das klebende Klassenzimmer. Carl Hanser 2019

Matthias Brandt: Blackbird

  Freundschaft, Liebe und Verlust

Ich schätze Matthias Brandt als hervorragenden Schauspieler und bedauere sehr, dass ich seinen 2016 erschienenen Erzählband Raumpatrouille noch immer nicht gelesen habe. Vielleicht waren meine Erwartungen an seinen ersten Roman Blackbird deshalb einfach zu hoch, denn das Buch hat mich leider nicht in dem Maße erreicht, wie ich es bei diesem Thema, dem Zeithintergrund und dem Autor gehofft hatte.

Einer, der es schwer hat
In einer namenlosen Kleinstadt irgendwo in der Bundesrepublik der Jahre 1977/78 erlebt der anfangs 15-, später 16-jährige Morton Schumacher, genannt Motte, seine Pubertät. Als hätte er nicht schon genug mit sich selbst und seinen Hormonen zu kämpfen, löst sich gerade seine „Firma“, die Familie Schumacher, auf, der Vater zieht zu seiner Freundin und die Mutter ist nur noch traurig. Parallel dazu endet Mottes erstes Date im Desaster und sein bester Freund Bogi erkrankt lebensbedrohlich an Lymphdrüsenkrebs:

Wie hört sich das denn an, Non-Hodgkin-Lymphom? Doch so, als ob es keine Krankheit sei, oder? Bestimmt wäre es besser gewesen, es hätte Hodgkin-Non-Lymphom geheißen. Besonders für Bogi.
Aber eigentlich war ich sauer auf ihn, weil ich mein altes Leben wiederhaben wollte, inklusive ihm, Bogi. Ich fand einfach, dass ich auch ohne den Mist schon genug um die Ohren hatte, keine Ahnung, hatte ich mir ja nicht ausgesucht, dass ich das jetzt dachte.

Schwächen…
Als Leser bzw. Leserin erfahren wir von all diesen Vorgängen aus der Ich-Perspektive und inneren Monologen Mottes in einer slanghaften, auf mich etwas bemüht wirkenden und unnötig derben Jugendsprache, die ich als anstrengend empfand. Zu meinen eigenen Erinnerungen wollte die Ausdrucksweise eher nicht passen, mag aber sein, dass dies aus männlicher Perspektive anders wahrgenommen wird, genauso wie das Rauchen, Kiffen und der Alkohol. Immer wieder hatte ich Mühe, die zwischen kindlicher Unbedarftheit und messerscharf analysierendem Denken pendelnde Persönlichkeit mit einem 16-Jährigen in Einklang zu bringen, manche Szenen waren mir zu sehr in die Länge gezogen. Kann es sein, dass Motte und seine Kameraden sich beim Besuch des schwer erkrankten Freundes Gedanken über das Flachlegen von Krankenschwestern machen? Muss jeder Lehrer ein Stereotyp erfüllen, sei es der Altnazi-Sporttyrann oder der kumpelhafte Sozialkundelehrer, der mit Schülerinnen ins Bett geht? Und manches ist bei Morton beeindruckend moderner, als ich es erlebt habe: Hufeisenform im Klassenzimmer und Kiwi waren mir zu dieser Zeit jedenfalls unbekannt.

… und Stärken
Andere Aspekte des Romans, dessen Stärken für mich vor allem im letzten Drittel liegen, haben dagegen dafür gesorgt, dass ich ihn trotz dieser Kritikpunkte gerne gelesen habe. Die spürbare Unwilligkeit Mottes, Gefühle zuzulassen, seine merklich zunehmende Hilflosigkeit, die sich beim Lesen gut überträgt, die trotz allen Zerfalls um ihn herum immer spürbare Komik und die vielen gut gewählten Metaphern, allen voran der Sprung vom Zehnmeterturm, zeigen die schriftstellerischen Qualitäten von Matthias Brandt. Dass ein Roman, der mit einer Beerdigung endet, so viel Hoffnung ausstrahlen kann, war eine positive Überraschung für mich. Ganz allein, wie die leere Bank auf dem Cover suggeriert, ist Motte nämlich glücklicherweise nicht.

Matthias Brandt: Blackbird. Kiepenheuer & Witsch 2019
www.kiwi-verlag.de

George Saunders: Lincoln im Bardo

  Ein unbeschreibliches Leseerlebnis

Als der elfjährige Sohn des amerikanischen Präsidenten Lincoln im Februar 1862 an Typhus stirbt, tobt der Sezessionskrieg. Die tiefe Trauer des gramgebeugten Vaters ist der Anknüpfungspunkt für den 2017 mit dem Man Booker Prize ausgezeichneten Debütroman des 1958 geborenen US-Amerikaners und Kurzgeschichtenautors George Saunders. Es ist inhaltlich wie formal das ungewöhnlichste, irrwitzigste, innovativste und skurrilste Buch, das ich jemals gelesen habe.

Ein äußerst lebendiger Friedhof
Der Haupterzählstrang spielt in der Nacht nach Willies Begräbnis auf dem Washingtoner Friedhof, wo der Sarg in einer Gruft beigesetzt worden war. Noch befindet sich der Junge in einer Zwischenwelt zum Totenreich, im tibetanischen Buddhismus Bardo genannt. Die Geister der Verstorbenen, die sich dort eingerichtet haben, weil sie nicht loslassen können und ihre Angst vor dem Jenseits übermächtig ist, verursachen ein aberwitziges Stimmengewirr. Kuriose Sterbeanekdoten werden wieder und wieder erzählt, es herrscht Langeweile. Ein Abbild der Gesellschaft hat sich dort versammelt, in prunkvollen Grüften oder Massengräbern, Sklavenhalter, Sklaven, Fabrikanten, Verbrecher, Arme, Reiche, Soldaten, und jedem verleihen Saunders und sein Übersetzer Frank Heibert eine eigene charakteristische Stimme. Nur das Thema Tod ist tabu, denn in allen glimmt Hoffnung auf Rückkehr ins Leben und der Sarg ist eine „Kranken-Kiste“, der Leichenwagen „Kranken-Wagen“, die Gruft „Heimstätte“. Die Vorgänge in dieser ungewöhnlichen Nacht befeuern ihre Sehnsüchte und ihren Selbstbetrug, denn Lincoln kehrt auf den Friedhof zurück, um Willie noch einmal zu liebkosen und zu versprechen, dass er wiederkommen wird – ein Umstand, der den Sohn daran hindert, wie alle Kinder umgehend ins Jenseits überzutreten:

Vater hat mir sein Versprechen gegeben, sagte der Junge. Wie wäre das denn, wenn er zurückkäme und mich nicht mehr anträfe?

Die Katastrophe verhindern
Drei Geister von etwa 15 „unstofflichen Wesen“ stehen im Mittelpunkt des Geschehens: Roger Bevins III, der sich als junger Homosexueller aus Liebeskummer die Pulsadern aufschnitt und dies zu spät bereute, Hans Vollmann, Drucker im fortgeschrittenen Alter, der kurz vor dem lange aufgeschobenen Vollzug seiner Ehe von einem Balken erschlagen wurde und deshalb mit einer Dauererektion im Bardo weilt, und der hochbetagt verstorbene Referend Everly Thomas, der vom Jenseits mehr weiß, als ihm lieb ist. Sie alle möchten Willie zum Verlassen des Bardos überreden, da dessen gegen alle Vorschriften verzögerter Aufenthalt zur Katastrophe führen muss – gespenstische Tragödie wie Komödie zugleich.

Unzuverlässige Quellen
Auch der zweite, weitaus kürzere Handlungsstrang ist kein Fließtext, aber anstatt Geisterstimmen reiht Saunders hier kurze Texte aus historischen Quellen, manche wohl auch fiktiv, aneinander. Sie berichten über die Geschehnisse rund um Willies Tod, das Bankett, während er bereits todkrank war, die Beerdigung, Lincolns Reputation, den Krieg, oft mit widersprüchlichen Aussagen und so genial montiert, dass ich mühelos von einer zur anderen gesprungen bin, fast als wäre es ein fortlaufender Text.

Lincoln im Bardo zu lesen, war Herausforderung und Abenteuer für mich. Ich habe mich an Vokabeln wie „gehschweben“, „trabschweben“, „flitzschweben“ oder dem Übertritt ins Jenseits mit einem „Feuerknall und dem Phänomen der Materienlichtblüte“ erfreut, bin in die Vater-Sohn-Geschichte genauso eingetaucht wie in die politischen Geschehnisse und habe mit Lincoln gelitten.

Was für ein Leseerlebnis!

George Saunders: Lincoln im Bardo. Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert. btb 2019
www.randomhouse.de

Isabelle Autissier: Klara vergessen

  Nur ein Sandkorn

Isabelle Autissiers Klara vergessen ist neben Pascal Merciers Das Gewicht der Worte die Neuerscheinung, auf die ich mich in diesem Frühjahr besonders gefreut habe. Nach Herz auf Eis, einem absoluten Lieblingsbuch, waren meine Erwartungen hoch und wurden erfüllt. Zwar ist der Roman ganz anders ist als sein Vorgänger, doch geht es wieder um existentielle Bedrohungen und darum, wozu Menschen angesichts solcher fähig sind.

Eine Rückkehr wider Willen
Der Roman nimmt uns mit in den Norden Russlands von der Stalinzeit bis zu Gorbatschows Perestroika und spannt einen Bogen über drei Generationen der Familie Bondarew: die Großmutter Klara, ihren 1945 geborenen Sohn Rubin sowie den Enkel Juri, der zu Beginn 46 Jahre alt. Vor 23 Jahren ist er vor der Familie in die USA geflohen und hat sich ein Leben als renommierter Professor für Ornithologie in Ithaka, N.Y. aufgebaut. Auf den dringenden Wunsch seines verhassten Vaters kehrt er nun an dessen Sterbebett nach Murmansk zurück. Juri soll vollbringen, was Rubin aus Feigheit nie gewagt hat: die Wahrheit über das Verschwinden von Klara ans Licht bringen, die als Abteilungsleiterin des Labors für angewandte Geologie und Mineralogie in Murmansk vor den Augen von Mann und Sohn 1950 im Zuge der Massendeportationen von Stalins Schergen verhaftet wurde und wie so viele andere verschwand.

Nur kurz ist Juri versucht, den Wunsch des Vaters zurückzuweisen:

Rubin hatte ihn ein letztes Mal in eine Falle gelockt. Obwohl er unausstehlich und gewalttätig war, war er nun das Opfer, dem man helfen musste. Juri wappnete sich innerlich, um den Vorschlag abzulehnen, den er kommen sah. Doch da war Klara, seine Großmutter, und diese Geschichte, die er nie wieder aus dem Kopf bekommen würde, ein winziges Steinchen im großen historischen Zusammenhang, aber der Grundstein seiner eigenen Familiengeschichte, ein Name in der Liste der Opfer, aber der Name, den er selbst trug. (S. 34/35)

Wege in die Freiheit
Es ist eine emotional aufgeladene Erzählung. Klaras Verhaftung war das „Sandkorn“, welches das Leben mehrerer Generationen außer Kontrolle geraten ließ und aus Rubin nicht nur den Sohn einer Volksverräterin, sondern auch einen brutalen Mann und Vater machte. Kompromisslos konsequent verfolgen alle drei Protagonisten unterschiedliche Wege in die Freiheit: Juri als Ornithologe, Rubin als Kapitän eines sowjetischen Fischtrawlers auf dem Meer und Klara mit der Wissenschaft, der sie allerdings auch die Gefangenschaft verdankt.

Das Besondere dieses Romans
Neben der überaus spannenden Handlung, den dichten Charakteren, dem Blick in die russische Geschichte des 20. Jahrhunderts und auf die Umweltfrevel in Nordrussland ist es noch etwas anderes, was die Weltumseglerin und Vorsitzende des französischen WWF Isabelle Autissier für mich zu einer so herausragenden Autorin macht. Ihre Beschreibungen des Meeres, der Tundra oder der Lebensweise der Nenzen, indigener Rentiernomaden, sind einzigartig und wunderbar übersetzt von Kirsten Gleinig. Aber auch ihre Fähigkeit, einerseits von unvorstellbarer Brutalität auf dem Fischtrawler, bei den Verhören oder in Juris Familie, andererseits mit großer Zartheit vom Erwachen der Liebe Juris zu einem Ferienbetreuer zu erzählen, ist großartig.

Nicht nur für mich als begeisterte Leserin, auch für Juri hat sich der schmerzliche Ausflug in die Vergangenheit gelohnt:

Am Ende der Suche nach seiner Großmutter stand die Rückkehr zu ihm selbst. (S. 302)

Isabelle Autissier: Klara vergessen. Aus dem Französischen von Kirsten Gleinig. mare 2020
www.mare.de

Patrik Svensson: Das Evangelium der Aale

Ein sonderbares Tier

Bis zum Blick in die aktuelle Frühjahrsvorschau des Carl Hanser Verlags hatte ich mich nie für Aale interessiert. Weder bin ich Anglerin, noch habe ich jemals Aal gegessen, aber das auffallend schöne Cover und die originelle Idee, die Natur- und Kulturgeschichte dieses Fisches mit der eigenen Sohn-Vater-Geschichte zu verbinden, hat mich sofort fasziniert.

So viele „Aalfragen“…
Aale gibt es seit mindestens 40 Millionen Jahren und bis heute sind trotz hartnäckigster Bemühungen zahlloser Meeresforscher nicht alle seine Geheimnisse gelüftet. Drei Metamorphosen durchläuft der Aal, bevor aus dem kleinen, durchsichtigen Weidenblattlarven zunächst der durchsichtige kleine Glasaal, dann der braun-gelb-graue Gelbaal und zuletzt der Blankaal wird. Unterschiedlich lang können die einzelnen Stadien dauern und erst im letzten bilden sich Geschlechtsorgane aus, was Naturforscher wie Aristoteles oder den jungen Sigmund Freud zu Fehlannahmen bzw. zur Verzweiflung brachte. Erst im 19. Jahrhundert fand man weibliche und männliche Tiere und zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnte der Däne Johannes Schmidt nach 20-jährigen Forschungsreisen die Sargassosee im nordwestlichen Teil des Atlantiks nahe den Bahamas als Geburtsstätte der europäischen Aale ausmachen, wobei bis heute weder ein lebender noch ein toter ausgewachsener Aal dort beobachtet wurde. Ungeklärt blieb bisher auch, was die Aale zu ihren langen Wanderungen bewegt und wie sie den Weg zurück zu ihrem eigenen Ursprung finden.

Das Ende der Aale?
War es jahrhundertelang nur die Neugier, die Forscher der „Aalfrage“ nachgehen ließ, so scheint es heute zur Überlebensfrage für diese durch Krankheiten, Umweltverschmutzung, Gewässerverbauung, Fischerei und die sich durch den Klimawandel verändernden großen Meeresströmungen bedrohte Gattung zu gehen:

Alle seriösen Berechnungen sprechen dafür, dass die Anzahl neu ankommender Glasaale in Europa heute nur noch ein bis fünf Prozent dessen beträgt, was aus den 1970er-Jahren bekannt ist. Wo in meiner Kindheit jedes Jahr einhundert kleine, durchsichtige Glasrütchen den Fluss hinaufschwammen, tritt heute nur noch eine knappe Handvoll diese Reise an.

Wie lange werden also Väter mit ihren Söhnen noch an schwedischen Flüssen oder anderswo Aale angeln, wie es Patrik Svensson in seiner Kindheit erlebt hat, ein Erlebnis, ohne das er und sein Vater „zusammen nicht dieselben“ gewesen wären? Werden, wie diese beiden, mit Langleinen, mit der alten Fangtechnik des „Plödderns“ oder mit Reusen experimentieren und Aale fangen, die zuvor über Tausende von Kilometern gewandert sind?

Überall Aale
Biologie und Familiengeschichte, aber auch die Bedeutung des Fischens als Kulturerbe in verschiedenen Regionen Europas, die EU-Fischereipolitik oder die Auftritte des Aals in Günter Grass‘ Die Blechtrommel, Boris Vians Die Gischt der Tage oder Graham Swifts Wasserland sind längst nicht alle Themen in diesem außergewöhnlichen Sachbuch. Nur ab und zu schießt Svensson über das Ziel hinaus, wenn er dem Aal zu sehr vermenschlicht – und sich dann meist selbst bremst -, das Rätselhafte des Aals zum Echo der Fragen nach dem eigenen Sein erklärt oder wenn ihn, den Atheisten, ein fälschlich für tot gehaltener Aal an das Wunder der christlichen Auferstehung denken lässt.

Davon abgesehen ist dieses kenntnisreiche Buch aus dem Bereich Nature Writing rundum empfehlenswert, eine gleichermaßen informative wie unterhaltsame Lektüre, die mich mit der jahrtausendealten Neugier auf dieses geheimnisvolle Tier angesteckt hat.

Patrik Svensson: Das Evangelium der Aale. Aus dem Schwedischen von Hanna Granz. Carl Hanser 2020
www.hanser-literaturverlage.de

Milena Agus: Eine fast perfekte Welt

  Jeder ist seines Glückes Schmied

Aus drei Personenporträts setzt Milena Agus ihren Generationenroman Eine fast perfekte Welt zusammen. Die erste im Reigen ist Ester, eine Frau, die sich ihr Leben lang sehnt und nie den perfekten Ort findet, an dem sie leben und glücklich sein kann. Weder auf ihrer Heimatinsel Sardinien noch auf dem Festland findet sie ihr gelobtes Land.

Eine Lebenskünstlerin ist dagegen ihre gutmütige, aber keineswegs naive Tochter Felicita, die, obwohl vom Schicksal nicht verwöhnt, überall und in jeder Lebenslage das Positive erkennt. Viel mehr als Ester hätte sie Grund zur Klage, und doch ist sie als alleinerziehende Mutter ihres sonderlichen, verträumten Sohnes Gregorio in einer ärmlichen Wohnung im Hafenviertel von Cagliari so zufrieden, dass sie auch für die Menschen in ihrer Umgebung zur „Glücksbereiterin“ wird. Ihre Lebensphilosophie fasst sie in Sätzen über den italienischen Dichter und Philologen Giacomo Leopardi zusammen:

Das ist auch mein Lieblingsdichter, ich mag ihn wirklich sehr, ich kenne viele seiner Gedichte auswendig, finde aber, dass er nicht immer recht hat. Zum Beispiel in seinem „Dialog zwischen der Natur und einem Isländer“: Es gibt keinen Ort auf der Welt, wo sich dieser arme Isländer wohlfühlt. Er ist genau wie meine Mutter. Bei allem Respekt gegenüber Leopardi finde ich, dass genau das Gegenteil der Fall ist, nämlich dass es keinen Ort auf der Welt gibt, wo man sich nicht wohlfühlen kann.

Gregorio ist der erste in der Familie, der radikal seinen Träumen folgt. Weder sein Vater noch sein Großvater haben sich getraut, ihrer Liebe zur Musik nachzugeben, doch unterstützt von seiner Mutter macht Gregorio sich auf nach New York, um als Jazzpianist sein Glück zu finden.

Das gelobte Land
Terre promesse heißt der nur gut 200 Seiten umfassende Roman im italienischen Original und nach diesem versprochenen gelobten Land und dem Glück suchen alle Figuren der Geschichte mit unterschiedlichem Erfolg, nicht nur Ester, Felicita und Gregorio. Die drei Teile sind mit „Das Festland“, „Amerika“ und „Sardinien“ überschrieben, doch wie Felicita richtig erkannt hat, sind es nicht die Orte, die über Glück und Unglück entscheiden, es ist die Einstellung zum Leben, der Wille, Schicksalsschläge zu überwinden, und der Mut, den eigenen Weg zu gehen.

Starke Figuren
Obwohl die Grundstimmung des Buches so melancholisch ist wie die Frau auf dem Schwarz-Weiß-Cover und die Schicksalsschläge gegen Ende etwas zu zahlreich werden, hat sich die Tristesse beim Lesen nicht auf mich übertragen, ein Umstand, den ich vor allem Felicitas feinem Humor und ihrem Pragmatismus verdanke. Bedauert habe ich, dass Milena Agus‘ Heimat Sardinien nicht eine größere Rolle spielt; gerne hätte ich mehr über die Landschaft, die Geschichte und die Menschen erfahren. Dafür werden mir die eigenwilligen Romanfiguren und ihre Sehnsucht nach Glück im Gedächtnis bleiben.

Milena Agus: Eine fast perfekte Welt. Aus dem Italienischen von Monika Köpfer. dtv 2020
www.dtv.de

#frauenzählen, #vorschauenzählen und meine persönliche Bilanz 2019

#frauenzählen
2018 habe ich die Diskussion über den von männlichen Autoren und Kritikern dominierten literarischen Rezensionsbetrieb mit Interesse verfolgt. Die Pilotstudie „Sichtbarkeit von Frauen in Medien und im Literaturbetrieb“ des Buchbranchenprojekts #frauenzählen wertete im März 2018 2036 Rezensionen und Literaturkritiken in 69 deutschen Medienformaten (Print, Hörfunk und TV) aus. Die auf der Frankfurter Buchmesse 2018 präsentierten Ergebnisse zeigten unter anderem:

  • dass zwei Drittel der besprochenen Bücher von Männern verfasst wurden
  • dass drei Viertel der Kritiken von Männern stammen und die wiederum zu drei Vierteln Werke männlicher Autoren rezensierten
  • dass die Bilanz für Autorinnen in den Genres Sachbuch und Krimi am ungünstigsten ausfiel
  • dass nur im Bereich Kinder- und Jugendbuch ein Gleichgewicht bestand.

#vorschauenzählen
Unter dem Hashtag #vorschauenzählen auf Twitter haben die Literaturwissenschaftlerinnen Berit Glanz und Nicole Seifert zum Auszählen von Vorschauen aufgerufen und untersucht, ob das Ungleichgewicht bereits in den Verlagsprogrammen besteht. Grundlage waren die Frühjahrsvorschauen 2020 der literarischen Verlage, die in den letzten drei Jahren einen Titel auf der Longlist des Deutschen Buchpreises oder im Laufe des Jahres 2019 einen Titel auf der SWR-Bestenliste hatten. Dabei ergab sich ein Verhältnis von 60 : 40 zwischen Autoren und Autorinnen, wobei von größeren Verlagen Klett-Cotta mit 12,5 Prozent Autorinnen-Anteil, Hanser mit 22 Prozent, Hoffmann & Campe sowie Diogenes mit 25 Prozent, S. Fischer mit 27 Prozent und Rowohlt mit 29 Prozent am schlechtesten abschnitten. Ausgeglichen war das Verhältnis unter anderem bei Dumont, der Frankfurter Verlagsanstalt und Luchterhand, überdurchschnittlich schnitten Hanser Berlin mit 60 Prozent sowie Hanser Blau und Kein & Aber mit je 67 Prozent ab. Im Sachbuch Hardcover reichte das Spektrum von 20 bis 55 Prozent, im Kinder- und Jugendbuch von 46 bis 94 Prozent. Das detaillierte Ergebnis ist hier nachzulesen.

Meine persönliche Bilanz 2019
Nach all der Zählerei war ich sehr gespannt auf meine persönliche Bilanz 2019. Ich suche meine Bücher nicht bewusst unter dem Gesichtspunkt Autor/Autorin aus und hatte auch kein Gefühl dafür, wie das Ergebnis ausfallen würde.

82 Bücher habe ich 2019 auf meinem Blog rezensiert, drei davon hatten zwei Autoren bzw. Autorinnen und wurden deshalb doppelt gezählt. Damit ergab sich folgendes Ergebnis:

  • In der Erwachsenenliteratur, schwerpunktmäßig Romane, dazu 11 Krimis und drei Sachbücher bzw. Biografien, stehen 37 Autorinnen 31 Autoren gegenüber.
  • Bei den Kinder- und Jugendbüchern finden sich 12 Autorinnen und nur 5 Autoren.
  • Alle drei Sachbücher bzw. Biografien wurden von Autorinnen verfasst.
  • Bei den Krimis ist das Verhältnis dank eines Autorinnenduos mit 6 : 6 ausgeglichen.
  • Bei meinen persönlichen Lese-Highlights 2019 liegt das Verhältnissen Autorinnen zu Autoren bei 5 : 2.

Interessant ist, dass gerade auch Verlage mit einem ungünstigen Geschlechterverhältnis zu meinen Lieblingsverlagen gehören, darunter Hanser, Diogenes, Klett-Cotta und C.H. Beck, während ich keine Bücher aus den 100-Prozent-Autorinnenverlagen wie Diana oder Goldmann Wundertraum lese. Es ist also durchaus möglich, gegen den Kritiker- oder Verlagstrend auszuwählen, selbst wenn man sich, wie ich, hauptsächlich in Presse und Verlagsvorschauen über neue Bücher informiert.

Jostein Gaarder: Genau richtig

  Wenn der Horizont plötzlich begrenzt ist

Albert hat sich zufrieden in seinem erfüllten Leben als Ehemann, Vater eines erwachsenen Sohnes, Schwiegervater, stolzer Großvater einer elfjährigen Enkelin, Lehrer und Hobbyastronom eingerichtet. Die Diagnose einer unheilbaren Krankheit, die innerhalb kurzer Zeit zuerst zur Pflegebedürftigkeit, dann zum Tod führen wird, trifft ihn völlig unvorbereitet, während seine Frau Eirin auf einem Kongress in Melbourne weilt. Hals über Kopf verlässt er die Arztpraxis und begibt sich in die einsam gelegene Ferienhütte der Familie an einem Waldsee, dem zauberhaften Glitretjern, die so viele schöne Erinnerungen birgt. Mit Eirin ist er jungverliebt in diese Hütte eingebrochen. Zehn Jahre später stand die Hütte während ihrer einzigen Ehekrise zum Verkauf und die endgültige Inbesitznahme wurde zum rettenden Wendepunkt in ihrer Beziehung. Nun nutzt Albert das Hüttenbuch, um seine Gedanken zu ordnen und zu Papier zu bringen:

Ich stehe vor dem größten Aufbruch meines Lebens und verspüre kein Bedürfnis mehr, etwas für mich zu behalten.

Eine freie Entscheidung
24 Stunden gibt er sich selbst Zeit, um sich darüber klar zu werden, ob er das Ende abwarten oder seine Freiheit für ein selbstbestimmtes Ende nutzen soll. Er schreibt für seine Familie, aber auch für sich selbst. Je länger die Nacht dauert, desto mehr gehen seine Überlegungen über ihn als Individium hinaus, hin zu den grundlegenden Fragen des Menschseins, des Universums und der Zeit.

Nur knappe drei Stunden umfasst die vollständige Lesung des schmalen Romans auf drei CDs, denn es ist, wie der Untertitel sagt, „Die kurze Geschichte einer langen Nacht“ – oder „Eine kleine Erzählung über fast alles“ im norwegischen Original. Überwiegend ist es der Brief an seine Familie, nur selten wird die Briefform kurzzeitig verlassen. Nicht ganz so märchenhaft ist die Liebesgeschichte zwischen Albert und Eirin wie die in Josteins Gaarders unvergleichlichem Roman Das Orangenmädchen, denn Albert verschweigt auch einen 27 Jahre zurückliegenden Ehebruch nicht. Sein Gedankensturm, sein Ringen um den richtigen Entschluss und die daraus resultierende Spannung haben mich jedoch durchgehend gefesselt.

Eine überraschende Wende
Mit dem Fortschreiten der Nacht verschwimmen die Konturen zwischen Realität und Traum. Als im Morgengrauen der alte, vermeintlich hellsichtige Mann mit dem weißen Bart wie eine biblische Erscheinung auftaucht, hatte ich kurz die Sorge, dass der Roman ins Mystische abgleiten könnte. Doch dann war es genau diese Begegnung, die die Geschichte zu einer ganz außergewöhnlichen für mich machte und mich zu Tränen rührte, ohne den geringsten Anklang von Kitsch.

Thomas Loibl als kongenialer Sprecher
Das sehr intensive Hörerlebnis verdanke ich zu einem nicht unerheblichen Teil dem herausragenden Sprecher Thomas Loibl, der den Text mit seiner warmen, klaren Stimme genau richtig liest. Vom ersten Satz an war er für mich Albert, mit seiner Verzweiflung, seiner Wut, seiner Wehmut, seiner Angst vor dem Verlust der Würde, seinem Schwanken, seinen philosophischen Exkursen und schließlich seiner wohlüberlegten Entscheidung nach einer langen, intensiv erlebten Nacht.

Jostein Gaarder: Genau richtig. Übersetzung: Gabriele Haefs. Gelesen von Thomas Loibl. Der Hörverlag 2019
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Paolo Cognetti: Sofia trägt immer Schwarz

  Eine Protagonistin, die mein Interesse nicht wecken konnte

Fast wäre schon Sofia Muratores Einstieg ins Leben missglückt, nachdem ihre Mutter Rossana während der Schwangerschaft verbotene Medikamente geschluckt hatte. Kurz nach der Geburt sinnt ihr Vater darüber nach, wer wohl für das Leid der jeweils anderen verantwortlich ist – die Mutter für das Leid der Tochter oder doch eher umgekehrt? Denn ohne die Schwangerschaft wäre es nicht zur Ehe der Eltern gekommen und die Mutter Rossana vielleicht nicht immer tiefer in Depressionen versunken. Vor den häuslichen Auseinandersetzungen flieht der Vater Roberto in die Arme einer jungen Kollegen. Für Sofia bedeutet das eine Kindheit in einem zerrütteten Elternhaus mit einer psychisch kranken Mutter und einem meist abwesenden Vater, Rebellion, Ängste vor dem Alleinsein und eine Essstörung. Nach einem Selbstmordversuch im Alter von 16 und einem Klinikaufenthalt nimmt die Schwester des Vaters sie bei sich auf, Sofia kann ihren Wunsch nach einer Schauspielausbildung verwirklichen, doch sie bleibt auf der Flucht vor sich selbst.

Ein nachträglich übersetzter Debütroman
Nachdem der 1978 in Mailand geborene Paolo Cognetti für seinen sehr lesenswerten Roman Acht Berge 2017 den renommiertesten italienischen Literaturpreis, den Premio Strega, erhielt, und auch in Deutschland einen großen Erfolg erzielte, veröffentlichte der Penguin Verlag 2018 seinen Debütroman Sofia trägt immer Schwarz aus dem Jahr 2012, 2013 ebenfalls auf der Shortlist dieses Preises.

Kein Zugang zur Protagonistin
Leider hat mich Paolo Cognetti mit diesem Roman nicht erreicht. Zwar mochte ich die Sprache und den Aufbau mit den unterschiedlichen Erzählperspektiven vom auktorialen Erzähler über das „Du“ bis zum Ich-Erzähler und die Herausforderung zur Neuorientierung in jedem der zehn, nicht streng chronologisch angeordneten Kapitel. Die Annährung an eine Protagonistin über Umwege und in Puzzleform, wie es beispielsweise auch Minna Rytisalo in ihrem Roman Lempi, das heißt Liebe so großartig macht, lese ich eigentlich gerne. Dass dabei zwangsläufig Unschärfen und Widersprüche entstehen, stört mich nicht. Allerdings hat Paolo Cognetti es zu keiner Zeit verstanden, mich für seine Protagonistin zu interessieren. Nicht nur, dass Sofia mir fremd geblieben ist, ich hatte gar nicht das Bedürfnis, mehr über diese egozentrische Figur zu erfahren. Mag sein, dass die schwere Kindheit ihr Verhalten in Teilen rechtfertigt, ihr Umgang mit Menschen, die es gut mit ihr meinen und sie mögen, hat mich trotzdem abgestoßen.

Interessante Nebenfiguren
Ganz anders wäre meine Beurteilung ausgefallen, hätte Cognetti eine seiner wirklich interessanten Nebenfiguren in den Mittelpunkt gestellt, Sofias Tante Marta, den angehenden Autor und Ich-Erzähler Pietro aus dem letzten Kapitel oder Emma, die Geliebte des Vaters. Ein „feines Gespür für die drängenden Fragen des Lebens“, das der Verlagstext verspricht, habe ich nicht wahrgenommen, viel eher schon das „Sittengemälde der Achtzigerjahre“.

Paolo Cognetti: Sofia trägt immer Schwarz. Aus dem Italienischen von Christiane Burkhardt. Penguin 2018
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