Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals

  Operation Olivenöl

Wie in seinem 2015 erschienenen Roman Sophia oder der Anfang aller Geschichten blickt Rafik Schami auch in seinem neuen Buch Die geheime Mission des Kardinals ins Syrien des Jahres 2010 zurück. Wieder ist es eine Vorgeschichte des syrischen Bürgerkriegs, dieses Mal allerdings verpackt in einen Kriminalroman. Obwohl alle Merkmale dieses Genres vorhanden sind, ein Verbrechen, ermittelnde Kommissare, mehrere Verdächtige, verschiedene Motive und schließlich eine Auflösung, bezeichnet der Verlag Carl Hanser das Buch zurecht als Roman, dient doch auch in meinen Augen die Kriminalhandlung vor allem als Gerüst für einen Gesellschaftsroman und steht für mich daher nicht im Vordergrund.

Der Paukenschlag zu Beginn ist die Anlieferung eines anonym versandten Ölfasses an die italienische Botschaft in Damaskus, in dem sich die verstümmelte, seltsam „codierte“ Leiche des auf geheimer Mission in Syrien weilenden Kardinals Angelo Cornaro befindet. Für Kommissar Zakaria Barudi, Mitte 60 und auf der Zielgeraden zur ersehnten Pensionierung, ist die „Operation Olivenöl“ der letzte Fall. Als Polizist alter Schule hat er wegen seines fehlenden Parteiausweises keine große Karriere gemacht, nun möchte er seine Laufbahn mit einem Erfolg beenden. Da der Mord politisch heikel ist und Missstimmungen zu Italien mit Gefahren für die Entwicklungshilfe befürchtet werden, nimmt ein arabischsprechender italienischer Polizist an den Untersuchungen teil. Commissario Marco Mancini und sein syrischer Kollege verstehen sich auf Anhieb, teilen dieselben kulinarischen Vorlieben und sind – genau wie der dritte im Bunde, der Spurensicherer Hauptmann Schukri – einsam, wenngleich mit ganz unterschiedlicher Vorgeschichte.

Auch wenn das Motiv für die Reise des Kardinals lange im Dunkeln bleibt und die vatikanische Botschaft sich im Gegensatz zur italienischen zugeknöpft gibt, zeigen sich bald mehr mögliche Motive und Verdächtige, als es den Ermittlern lieb sein kann. Die Mafia, die der Kardinal zuhause vehement bekämpft, kommt genauso in Frage wie radikale Islamisten, nach vatikanischer Anerkennung strebende Wunderheiler samt Anhängern oder ein feindlicher vatikanischer Kardinalskollege, dessen syrische Familie in Drogen- und Waffenhandel verstrickt ist. Größter Hemmschuh bei den Ermittlungen ist der syrische Geheimdienst, der Angst verbreitet, überall präsent ist und über dem Recht steht: „In einer hochmodernen, aber unfreien Gesellschaft ist die Wahrheitsfindung aussichtslos.“

Rafik Schamis neuer Roman mit der wunderschönen Kalligrafie auf dem Cover ist eine Fundgrube für alle, die sich für die Vorgeschichte des syrischen Bürgerkriegs interessieren und mehr über die politischen und religiösen Konflikte Syriens sowie die ausländische Einflussnahme erfahren möchten. Besonders gelungen sind die Tagebucheintragungen Barudis und die Gespräche zwischen den beiden Kommissaren über Politik, Religion und Aberglauben, die sie bei Tee, Mokka, Falafeln und anderen detailliert beschriebenen Köstlichkeiten führen. Kritisieren kann man die Vielzahl der Themen bis hin zur Islam-Politik Papst Benedikts XVI, die nicht sehr originelle Figur des aufrechten Polizisten Barudi und die Liebesgeschichte am Rande. Für mich hat das bei der Bewertung aber schließlich keine große Rolle gespielt, zu souverän und engagiert verfolgt Rafik Schami alle Handlungsstränge, zu gut erzählt er seine Geschichten und zu sympathisch sind Barudi und Mancini.

Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals. Carl Hanser 2019
www.hanser-literaturverlage.de

Gusel Jachina: Wolgakinder

  Überraschend

Wolgakinder, der zweite Roman der 1977 an der Wolga geborenen russischen Autorin Gusel Jachina, war für mich vor allem eines: vollkommen anders als erwartet. Eigentlich wollte ich einen Roman über die Volksgruppe der Wolgadeutschen vor dem Zweiten Weltkrieg lesen, bekommen habe ich stattdessen eine märchenhaft anmutende Geschichte über einen Sonderling. Nachdem ich damit etwa 100 Seiten lang gehadert hatte, beschloss ich, mich ganz darauf einzulassen – und daraufhin wurde die Lektüre des knapp 600 Seiten umfassenden Buches dann doch noch ein Gewinn. Großartig sind die Beschreibungen der Wolga und die Bilder, die Gusel Jachina findet, allerdings stellte sich mit der Zeit aufgrund ihrer Fülle auch ein gewisser Überdruss ein. Nicht einfach zu lesen sind die vier Einschübe über Stalin, genannt „Er“. Die Autorin lässt „Ihn“ beispielsweise an Lenins Sterbebett auftauchen oder im November 1934 ein fiktives Billardspiel gegen Hitler austragen mit den Wolgadeutschen als Spielball. Dieses Hin und Her mit Treffern auf beiden Seiten ist eigentlich eine geniale Idee und inhaltlich sehr interessant, geht aber mit einem extremen Stilbruch einher.

Im Mittelpunkt des 1916 beginnenden Romans steht der Dorflehrer Jakob Iwanowitsch Bach, der im wolgadeutschen Dorf Gnadental die Kinder unterrichtet. Eines Tages zitiert ihn der Besitzer eines Gehöfts am anderen Wolgaufer zu sich, wo er dessen hinter einem Wandschirm verborgene 17-jährige Tochter Klara unterrichten soll. Mit der Liebe zu ihr endet Jakobs beschauliches Dasein als Schulmeister. Im Dorf geächtet, müssen sie wie Einsiedler auf dem mittlerweile verwaisten Gehöft leben, bis ein räuberischer Überfall alles verändert.

Viele Ideen der Autorin haben mir gut gefallen, so zum Beispiel, wie der inzwischen verstummte Jakob seine zu Papier gebrachten Geschichten in Gnadental gegen Milch eintauscht, wie er jedem Jahr einen aussagekräftigen Namen gibt, wie er ein Mädchen alleine großzieht und ihr nicht nur die Sprache, sondern auch jeden Kontakt zur Welt vorenthält, und wie die Welt dann doch noch auf den abgeschiedenen Hof kommt, zuerst in Person eines Straßenjungen, dann der Staatsgewalt. Allerdings waren mir manche Entwicklungen auch zu skurril und mit Bildern überfrachtet. Richtig geärgert habe ich mich, als es über eine soeben vergewaltigte Frau hieß: „Die Augen waren geschlossen, die Gesichtszüge ruhig – sie schlief. Um ihre Lippen spielte ein Lächeln.“ Diese Sätze sind extrem geschmacklos angesichts des Leids aller Betroffenen.

Ein sprachlich überbordender, enorm bildreicher Roman mit einem sehr stimmigen Cover, den ich mehr als Märchen denn als Zeugnis über die Wolgadeutschen gelesen habe.

Gusel Jachina: Wolgakinder. Aufbau 2019
www.aufbau-verlag.de

Juli Zeh & Wolfgang Nocke: Das Land der Menschen

  Winterträume

Der dritte Advent ist bereits vorbei und weit und breit ist kein Schnee in Sicht. Missmutig blättert Robs in seinem Lieblingsbuch über den Nordpol und studiert Eisberge, Eskimos und Eisbären. Von der Geschichte über ein Eskimo-Mädchen und ihren Schlittenhund kann er gar nicht genug bekommen. Sogar in seine Träume schafft es Grönland, „das Land der Menschen“: Eben jenes Eskimo-Mädchen begegnet ihm weinend im Schlaf. Kurz entschlossen packt Robs seine Wollhandschuhe, die Mütze und den Schal in seinen Schulranzen, versteckt seinen Stoffhund Purzel unter seinem Anorak und macht sich am nächsten Tag – anstatt zur Schule zu gehen – auf die Suche nach dem Mädchen und dem Schnee.

Juli Zehs erstes Kinderbuch aus dem Jahr 2008, das inzwischen leider nur noch antiquarisch erhältlich ist, erzählt mit viel Empathie von der Sehnsucht eines kleinen Jungen nach der Kälte und dem Schnee und von der wechselvollen Geschichte der Inuit. Geschickt lässt Juli Zeh die Grenzen zwischen Traum und Realität verschwimmen und lüftet das Geheimnis von der Entstehung des Schnees.  Die 15 doppelseitigen Illustrationen von Wolfgang Nocke sind überaus farbenprächtig, märchenhaft fantasievoll und laden zum Entdecken ein, allerdings verspüre ich beim Betrachten kein Wintergefühl.

Das Land der Menschen kann man Kindern ab sechs Jahren vorlesen, ab etwa der dritten Klasse können es Jungen und Mädchen selbst lesen und für Erwachsene ist es eine Einladung zu Winterträumen.

Juli Zeh & Wolfgang Nocke: Das Land der Menschen. Schöffling & Co. 2008
www.schoeffling.de

Louise Erdrich: Der Gott am Ende der Straße

  Evolution rückwärts

Ein Roman von Louise Erdrich steht schon lange auf meiner Wunschliste ziemlich weit oben. Dass ich nun mit ihrem neuesten Buch ausgerechnet zuerst eine Dystopie erwischt habe, ein Genre, mit dem ich eher wenig anfangen kann, ist ausgemachtes Pech. Die Leseprobe mit der indigenen Ich-Erzählerin, aufgewachsenen bei weißen Adoptiveltern, die nun, im fünften Monat schwanger, ihre biologische Familie im Reservat kennenlernt, fand ich sehr interessant. Die 26-jährige Cedar Hawk Songmaker war mir von Beginn an sympathisch und blieb es während des ganzen Romans. Die punktgenaue Chrakterisierung der beiden grundverschiedenen Familien, vereint in der Sorge um die gemeinsame Tochter, ist ausgesprochen gut gelungen, wie überhaupt die Zeichnung aller Figuren. Allerdings hätte ich dieses Mal meine Angst vor Spoilern überwinden und den Verlagstext lesen sollen.

Cedar Hawk Songmaker ist zur denkbar ungünstigsten Zeit schwanger. Es gibt zwar keine gesicherten Erkenntnisse und die Wissenschaftler rätseln noch, aber es scheint zu einer Umkehrung der Evolution zu kommen. Die Weltgeschichte läuft rückwärts, nicht geordnet, sondern in „Sprüngen“, also „vorwärts, seitwärts, in unvorhersehbare Richtungen“. Eine kirchliche Bundesregierung namens „Church of the New Constitution“ hat die Macht an sich gerissen, die freie Berichterstattung ist ausgesetzt, es kommt zu Hamsterkäufen, Denunziationen und Folterungen, Schwangere werden im Rahmen der präpartalen Ingewahrsamnahme“ in Gebärkliniken eingesperrt und potentiell Gebärfähige zum Austragen eingefrorener Embryonen interniert. Über die genaue Art der Bedrohung bleibt jedoch nicht nur Cedar im Unklaren, zumal ihr der Blick auf den Bildschirm beim Ultraschall stets verwehrt wird, auch ich konnte mir bis zum Schluss nichts unter dieser rückläufigen Entwicklung vorstellen. Fehlende Fantasie? Mangelnde Affinität zum Genre? Auf mich wollte sich die Weltuntergangsstimmung deshalb nicht so recht übertragen.

Die Ereignisse selbst erfahren wir aus Cedars Tagebuchchronik, die sie für ihr ungeborenes Kind führt. Beeindruckend ist ihre trotz aller Katastrophen nie endende Zuversicht sowie die Verbundenheit mit dem Kind, das doch die Ursache für ihre Unfreiheit und Lebensgefahr ist.

Während ich im ersten Teil mit dem Aufbau des Bedrohungsszenarios fast aufgegeben hätte, hat mir der zweite Teil in einer Gebärklinik unerwartet Spaß gemacht. Hier wird der Text für mich viel konkreter und bekommt sogar Thrillerqualitäten. Teil drei und das Ende haben mich dann wieder enttäuscht, Wiederholungen und ein viel zu offener Ausgang waren mir zu wenig.

Die Mehrzahl der Themen, um die es in dieser sehr amerikanishen Dystopie geht, sind trotzdem sehr interessant und hätten mich – anders verpackt – sicher angesprochen: die Auseinandersetzung mit Evolutionsleugnern, die Dogmatik evangelikaler Kirchen, der Umgang mit der indigenen Bevölkerung, die Frage nach dem Wert biologischer und Adoptiveltern, das Zurückschlagen der Natur, das Verhalten von Menschen in Diktaturen und vieles – wahrscheinlich zu vieles – mehr. Wenig angesprochen haben mich dagegen die langen religionsphilosophischen Einschübe, über deren Qualität ich mir kein Urteil erlauben möchte. Eines weiß ich aber nach dieser Lektüre gewiss: ein Roman von Louise Erdrich bleibt oben auf meiner Wunschliste, nur eben keine Dystopie.

Louise Erdrich: Der Gott am Ende der Straße. Aufbau 2019
www.aufbau-verlag.de

Jurek Becker: Jakob der Lügner

  Held wider Willen

Um die Geschichte des Juden und Ghettobewohners Jakob Heym nicht dem Vergessen anheimfallen zu lassen, erzählt sie ein anonymer Überlebender des Holocaust. Er wählt dafür meist die auktoriale Erzählform, streut aber auch Passagen aus der Ich-Perspektive ein. „Das meiste“ weiß er aus erster Hand vom toten Jakob selbst, manches von Zeitzeugen, und wo sich diese nicht finden ließen, füllt er die Lücken. Jakob ist für ihn ein Held, einer der zwar immer Angst hatte, der jedoch unglaublich mutig war. Angeregt zu diesem Roman hat den Autor Jurek Becker, der selbst, wie er sagte, keine Erinnerung an seine Kindheit im Ghetto von Łódź und in verschiedenen KZs hatte, eine wahre Geschichte.

Jakob Heym, ehemaliger Besitzer einer bescheidenen Restauration, lebt in einem namenlosen Ghetto im Osten. Der Zweite Weltkrieg neigt sich bereits dem Ende zu, doch sind die Bewohner des Ghettos von jeglichem Kontakt zur Außenwelt abgeschnitten und ohne Information über das Kriegsgeschehen. Die Lage ist verzweifelt, Hungertote und Selbstmorde bestimmen den Alltag. Da hört Jakob zufällig im Radio der Polizeistation, dass die Russen bereits fast bis Besanika vorgerückt sind. Seine Quelle kann er unmöglich nennen, hat doch vor ihm noch niemand die Polizeistation lebend wieder verlassen, doch gibt er die Meldung seinem Arbeitskollegen Mischa weiter, um ihn vom lebensgefährlichen Kartoffelraub abzulenken. Damit ist die Nachricht in der Welt und Jakob kann sie nicht mehr zurückholen. Da er als Quelle ein eigenes, verstecktes Radio angibt, werden er und das Gerät zum Mittelpunkt allen Denkens im Ghetto. Die allgemeine Verzweiflung schlägt in Hoffnung um, plötzlich scheint das Überleben eine reale Option und die Selbstmordrate sinkt auf null. Während die Menschen im Ghetto Pläne für eine nun plötzlich greifbar erscheinende Zukunft schmieden, wird die Situation für Jakob immer schwieriger, denn mit der einmaligen Neuigkeit ist es nicht getan. Gleichzeitig fühlen sich einige von dem verbotenen Gerät bedroht, andere werden zunehmend leichtsinniger. Jakob muss entscheiden, wie es nach der ungewollten Lüge weitergeht.

Jakob der Lügner, der 1969 erschienene Debütroman von Jurek Becker (vermutlich 1937 – 1997) ist eines der Bücher, die schon viel zu lang auf meiner Wunschliste stehen. Nun hat sich mit dieser erstmals ungekürzten Hörfassung als Koproduktion von speak low und der SWR 2 Literaturredaktion eine Alternative geboten, die ich sehr gerne ergriffen habe. Der Sprecher August Diehl liest den Text angenehm zurückhaltend und doch an den entscheidenden Stellen mit großer Wucht. Er interpretiert die tieftraurigen Stellen genauso bewegend wie die tragikomischen und ist für mich in den 515 Hörminuten vollkommen mit der Figur des Ich-Erzählers verschmolzen.

Sehr gut gefallen haben mir auch die Box, die mit Zitaten bedruckten Hüllen der sieben CDs und das informative Booklet mit einem Text des Autors über seine fehlenden Erinnerungen und einem Aufsatz von Christine Becker zur Entstehungsgeschichte des Romans.

Jurek Becker: Jakob der Lügner / Gelesen von August Diehl. Speak low 2016
www.speaklow.de

Gianrico Carofiglio: Kalter Sommer

  Grauzonen

1992 erschütterten zwei schwere Attentate Italien, die bis heute Spuren hinterlassen haben: Am 23.05. wurde der ehemalige Mafia-Richter und Direktor im Justizministerium Giovanni Falcone mitsamt seinen Begleitern bei Palermo mit Hilfe einer halben Tonne Sprengstoff unter der Autobahn zerrissen, am 19.07. starben auf ähnlich spektakuläre Weise mitten in Palermo sein Richter-Kollege Paolo Borsellino und dessen Leibwächter. Beide Anschläge gingen auf das Konto der sizilianischen Cosa Nostra, die damit vom Verbrechersyndikat zur Terrororganisation wurde. Langfristig führten diese Terroraktionen jedoch zu einem Niedergang der sizilianischen Mafia.

Genau zum Zeitpunkt dieser spektakulären Attentate spielt der Krimi – oder der Roman, wie der Verlag ihn bezeichnet – des ehemaligen Antimafia-Staatsanwalts und gebürtigen Barinesers Gianrico Carofiglio. In der eher kleinen Mafiagruppierung „La Società Nostra“ in der apulischen Hauptstadt ist im April 1992 ein interner Krieg zwischen dem Anführer Nicola Grimaldi alias „der Blonde“ oder „Dreizylinder“ und seinem Stellvertreter Vito Lopez ausgebrochen. Kurz darauf wird Grimaldis Sohn auf dem Schulweg entführt, es geht eine Lösegeldforderung ein und kurz darauf wird das Kind tot aufgefunden. Niemand zweifelt an der Täterschaft von Lopez und seinen Anhängern.

Maresciallo Fenoglio, 41-jähriger Turiner und seit zehn Jahren der Liebe wegen in Bari, übernimmt die Ermittlungen der Operation Kalter Sommer. Geschockt und traurig, weil seine Frau Serena ihn vor zwei Monaten vorläufig verlassen hat, taucht er in ein Milieu ein, das er mittlerweile allzu gut kennt. Als sich Lopez der Polizei stellt, weil er als Hauptverdächtiger Grimaldi mehr fürchtet als die Carabinieri und als „wandelnder Toter“ die Kooperation mit der Justiz als „einzige Hoffnung“ sieht, führt Fenoglio die tagelangen Vernehmungen mit dem mehrfachen Mörder. Während der jedoch eine Vielzahl von Verbrechen gesteht, detailliert die Gründung der Gruppe und ihre Struktur darlegt und über die Beziehungen zur Lokalverwaltung und zu einzelnen Politikern berichtet, bestreitet er vehement jegliche Verwicklung in die Entführung. Trotz aller offensichtlicher Indizien kommen auch Fenoglio immer mehr Zweifel und es zeigt sich immer deutlicher, dass Schwarz und Weiß keineswegs immer scharf zu trennen sind und es für die Ermittler jede Menge Grauzonen gibt.

Gianrico Carofiglios Bari-Reihe um den Strafverteidiger Guido Guerrieri gehören zu meinen absoluten Lieblingskrimis, vor allem wegen des sympathischen Protagonisten und der ausführlichen Gerichtsszenen. Ob Kalter Sommer aus dem Jahr 2016, auf Deutsch 2018, im Untertitel „Ein Fall für Maresciallo Fenoglio“, ebenfalls als Reihe geplant ist, kann ich dem Band leider nicht entnehmen. Mit Sicherheit hat der Protagonist viel Potential für eine Fortsetzung und ich würde gerne mehr über sein Privatleben, seine Arbeit und seine Kollegen erfahren. Auch wenn mir die wörtlichen Vernehmungsprotokolle Vito Lopez‘ im Mittelteil etwas zu lang waren, hat mir auch dieser Krimi gut gefallen. Die gelungene Einbettung der beiden eingangs beschriebenen, realen Mafiamorde in die Geschichte, der Einblick in Mafiastrukturen, die Carofiglio-typischen Erläuterungen zum italienischen Recht und die überraschende Auflösung lohnen die Lektüre allemal.

Gianrico Carofiglio: Kalter Sommer. Goldmann 2019
www.randomhouse.de

Maja Lunde: Battle

  Wie ein Goldfisch ohne Glas

Amelie ist 17, als ihre Welt plötzlich aus den Fugen gerät. Nach der Insolvenz des Vaters muss sie mit ihm aus dem noblen Haus mit Pool im vornehmen Osloer Stadtteil Holmenkollen an den „Arsch der Welt“ in den heruntergekommenen Vorort Stovner ziehen. Ihren Freunden aus der Tanzklasse der angesagten Schule Valkyrie kann sie das nicht erzählen, selbst ihrem Freund Axel nicht, mit dem sich das Küssen so falsch für sie anfühlt. Nur ihre Freundin Ida wurde zufällig Zeugin, als Gerichtsvollzieherin und Polizei vor der Tür standen. Wenn es nach ihr ginge, würde Amelie allen die Wahrheit sagen: „Du brauchst nicht perfekt zu sein, damit die Leute dich mögen.“ Aber genau das will Amelie immer sein: beim Tanzen genauso wie vor ihrer Clique. So verstrickt sie sich immer tiefer in ein Netz aus Lügen, voller Sorge über Idas Verschwiegenheit.

Die Geschichte, aus der Sicht von Amelie erzählt, ist ein Jugendroman für Mädchen ab etwa 13 Jahren über Selbstfindung, erste Liebe, Dazugehören und Außenseitertum, Wahrheit und Lüge und vor allem über die Leidenschaft für das Tanzen. Denn Amelie möchte Tänzerin werden wie einst ihre Mutter. Sie träumt von der Balletthochschule und von einer Tanzkarriere, dafür trainiert sie unerbittlich und steckt die harte Kritik ihrer strengen Tanzlehrerin ein, die abseits der perfekten Technik die persönliche Note vermisst. Dass Amelie ausgerechnet in Stovner auf den jungen Hip-Hopper Mikael Tehrani stößt, der genau wie sie mit Leib und Seele Tänzer werden möchte, macht das abendliche Heimkehren in die schmuddelige Zweizimmerwohnung erträglicher. Doch Mikael, den dunkelhäutigen Sohn iranischer Einwanderer, kann sie unmöglich ihrer Clique aus der Valkyrie vorstellen – oder etwa doch? Mit ihm kann sie jedenfalls über ihre abwesende Mutter sprechen und vorübergehend den Schmerz über ihren Vater vergessen, der sich nach dem Bankrott völlig gehen lässt.

Die Norwegerin Maja Lunde, die in Deutschland 2017 mit ihrem Bestseller Die Geschichte der Bienen schlagartig bekannt wurde, hat mich mit ihrem im Original 2014 erschienenen Jugendbuch Battle noch mehr überzeugt, trotz einiger genretypischer Klischees und Schwarzweißmalerei. Besonders gut gelungen ist die Darstellung der inneren Konflikte der Ich-Erzählerin: „Ich war ein Goldfisch, und irgendjemand hatte mein Glas zerbrochen.“ Obwohl ich mich selbst weder aktiv noch passiv für Tanz interessiere, konnte ich mich nicht der Dramatik des Battle, eines Tanzwettbewerbs in Stovner, entziehen, bei dem zuletzt fast alle Figuren des Romans aufeinandertreffen.

Die wunderschön gestaltete Ausgabe aus dem Verlag Urachhaus wurde zurecht von der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur im September 2018 als „Buch des Monats“ prämiert.

Maja Lunde: Battle. Aus dem Norwegischen von Antje Subey-Cramer. Urachhaus 2018
www.urachhaus.de

Christina Braun: Wale und Delfine

  Anspruchsvolle Lektüre für Erstleser und Erstleserinnen

Die bewährte Kinder-Sachbuchreihe Was ist was, die seit 2013 in einer inhaltlich und gestalterisch komplett neu konzipierten Fassung erscheint und damit bereits für Kinder ab etwa acht Jahren empfohlen wird, gibt es seit Juni 2018 auch für wissbegierige Erstleser und Erstleserinnen. Nicht jedes Kind findet Zugang zum Lesen über Geschichten, deshalb ist es sehr zu begrüßen, dass einige Verlage auch Sachbücher für Lesestarter anbieten. Das Niveau ist dabei oft höher als bei Geschichten, begründet in der Hoffnung, dass die Kinder aufgrund ihres Wissensdrangs beim Lesen über sich hinauswachsen. Aus der Reihe Was ist was – Erstes Lesen gibt es inzwischen zehn Bände, den ersten, Wale und Delfine, möchte ich hier exemplarisch vorstellen.

In fünf Kapitel ist der Band unterteilt:

  • Was sind Wale?
  • Welche Wale gibt es?
  • Was fressen Wale?
  • Die Sinne der Wale
  • Wale und ihr Verhalten

Jedes Kapitel beginnt mit einem großen Foto, dann folgen Texte in großer Fibelschrift mit farbigen Überschriften, Fotos und Zeichnungen mit informativer Beschriftung und farblich abgesetzte Infokästen. Die bis zu 15 verkürzte Zeilen langen Fließtexte sind für die bessere Lesbarkeit in kurze Blöcke unterteilt. Das Layout ist ebenso abwechslungsreich wie übersichtlich, die Texte sind gut verständlich, wobei durchaus anspruchsvolle Begriffe wie „Buckelwalmännchen“, „Nordpolarmeer“, „Wasseroberfläche“ oder „Geschmacksknospen“ zu bewältigen sind. Durch das Buch begleitet der Delfin Fini, der immer wieder interessante Informationen beisteuert und nach jedem Kapitel drei Quizfragen stellt. Ein Interview mit Fini sowie ein großes Abschlussquiz beschließen den 63 Seiten umfassenden Band. Zu allen Quizfragen gibt es Lösungen, so dass der Erfolg sofort überprüft werden kann.

Der Verlag Tessloff empfiehlt die Sachbuchreihe ab dem Ende der ersten bis in die dritte Klasse, eine realistische Einschätzung, wenn man bedenkt, dass die Kinder je nach Lesefähigkeit mit kleinen Textmengen und Bildunterschriften beginnen können.

Mir gefällt sowohl das Konzept dieser Reihe als auch die Auswahl der bisher erschienenen Themen Planeten, Vulkane, Natur entdecken, Bienen, Wald, Pferde und Ponys, Wetter, Polargebiete und Unsere Erde sehr gut. Ich hoffe, dass man damit Kinder für Sachbücher begeistern und den ein oder anderen Lesemuffel bekehren kann.

Christina Braun: Wale und Delfine. Tessloff 2018 (Was ist was – Erstes Lesen. 1) www.tessloff.com

Fernando Aramburu: Langsame Jahre

  Baskische Kindheitserinnerungen mit zwei Erzählebenen

2018 gehörte der gut 750 Seiten starke Roman Patria von Fernando Aramburu zu meinen Lieblingsbüchern. Nun ist sein im Original bereits 2012 veröffentlichtes, nur 200 Seiten umfassendes Buch Langsame Jahre auf Deutsch erschienen. Obwohl beide Titel sich mit dem Baskenland und der ETA befassen, sind sie doch inhaltlich und erzähltechnisch ganz verschieden. In Patria geht es um zwei Familien, Opfer und Täter. In den kurzen, nicht chronologisch geordneten Kapiteln steht je einer der neun Protagonisten im Mittelpunkt und einzelne Sätze werden aus der Ich-Perspektive erzählt. Langsame Jahre dagegen ist die Erinnerung eines Mannes an seine Kindheit in den Jahren 1968 bis 1971, als er Pflegekind im Haushalt seiner Tante in San Sebastián war. Er erzählt seine Geschichte dem Schriftsteller Fernando Aramburu und mahnt diesen immer wieder zur literarischen Verfremdung und zum Persönlichkeitsschutz. Beide, Erzähler und Romanautor, haben ihre Kindheit vor 40 Jahren im Stadtviertel Ibaeta verbracht. Der erzähltechnische Clou besteht darin, dass Aramburu 39 Einschübe mit Anmerkungen für einen zu schreibenden Roman in die im Original wiedergegebene Ich-Erzählung einfügt. In diesen nummerierten „Notaten“ ergänzt Aramburu eigene Erinnerungen, berichtigt Fehler des Erzählers, spielt mit möglichen Erzählvarianten und entwirft probeweise Dialoge. Durch diesen Blick in die Schreibstube gaukelt er dem Leser Authentizität vor.

Der namenlose Ich-Erzähler, von seinem Cousin Txiki genannt, kommt Anfang 1968 als Achtjähriger aus einem Dorf in Navarra nach San Sebastián. Seine Mutter kann die drei Söhne nach dem Weggang des Vaters nicht ernähren, und so kommt er als jüngster in den Haushalt seiner Tante, die beiden älteren ins Armenhaus nach Pamplona. Onkel, Tante, Cousine und Cousin nehmen ihn einigermaßen liebevoll auf, er verlebt hier insgesamt neun Jahre „ohne all jene Grausamkeiten und Kümmernisse, die sich für die Romanliteratur gewöhnlich als so nutzbringend erweisen“. Der intelligente Junge teilt sein Zimmer mit seinem zehn Jahre älteren Cousin Julen und wird, ohne es richtig zu verstehen, als einziger in der Familie Zeuge von dessen Radikalisierung unter dem Einfluss des örtlichen Priesters. Julen träumt davon, ein Held der baskischen Befreiung zu werden, und muss dafür teuer bezahlen. Die Cousine Mari Nieves führt zum Entsetzen ihrer Mutter ein lasterhaftes Leben und wird schwanger, sodass schnellstmöglich ein Ehemann gefunden werden muss – koste es, was wolle.

Anders als in Patria gibt es in diesem Roman nicht nur Verlierer. Zwar ist die Geschichte nicht ganz so intensiv und einiges bleibt der Interpretation des Lesers überlassen, doch hat mir die Perspektive des Kindes auf den Alltag „einfacher Leute mit wenig Bildung“ im franquistischen Baskenland und die Rekrutierung durch die ETA gefallen. Zusammen mit der originellen Erzählweise, der wertigen Aufmachung und dem sehr gut ausgewählten Cover ist auch dieser ältere Roman des in Deutschland lebenden Basken Fernando Aramburu auf jeden Fall empfehlenswert.

Fernando Aramburu: Langsame Jahre. Rowohlt 2019
www.rowohlt.de

Jerome K. Jerome: Drei Mann in einem Boot. Ganz zu schweigen vom Hund!

  Mäßig amüsant, aber in einer wunderschönen Ausgabe

Zwei Dinge haben mir an diesem Klassiker aus dem Jahr 1889 ausgesprochen gut gefallen: das wunderschöne Manesse-Bändchen, das sich in die Hand einschmeichelt und mit der Fadenheftung, dem farbenfrohen Cover, dem Lesebändchen und dem bestechenden Druck und Papier ein haptischer Hochgenuss ist, und die Sprache. Wenig anfangen konnte ich dagegen mit dem Humor, den Harald Martenstein in seinem ansonsten sehr guten Nachwort für mich völlig unverständlicherweise mit jenem von Loriot vergleicht. Ich kann hier nur entschieden widersprechen, ist doch der von mir überaus geschätzte Loriot einmalig, wird nie platt und spielt somit in einer anderen Liga. Jerome K. Jeromes Drei Mann in einem Boot. Ganz zu schweigen vom Hund! ist mir dagegen zu absurd übertrieben, der Ich-Erzähler und seine Freunde zu unsympathisch und rüpelhaft und die viel zu langatmigen Pointen verpuffen. Wenn die Protagonisten in ihrer Unfähigkeit beispielsweise 25 Minuten lang vier Kartoffeln schälen, bleibt der Witz auf der Strecke. Nur bei den Passagen über den Foxterrier Montmorency konnte ich tatsächlich schmunzeln.

Der Ich-Erzähler und seine beiden Freunde George und Harris, Hypochonder und gelangweilte junge Männer ohne Ehrgeiz und Biss, planen zur Entspannung – es bleibt unklar, wovon – eine Tour auf der Themse von Kingston nach Oxford und zurück. Vorbereitung und Durchführung sind eine stete Folge von Pleiten, Pech und Pannen und es grenzt an ein Wunder, dass sie tatsächlich rudernd und treidelnd bis Oxford gelangen. Als es auf dem Rückweg regnet, brechen sie ab, verlassen klammheimlich ihr Boot und beenden die Unternehmung wesensgerecht mit der Bahn.

Interessant sind die eingestreuten Anekdoten aus der britischen Geschichte. Wer die Tour auf der Themse selbst unternimmt oder wenigstens die Gegend kennt, profitiert sicher von den detaillierten Ortsbeschreibungen. Für mich als Ortsunkundige wäre eine kleine Landkarte hilfreich gewesen.

Dieses Buch ist wieder einmal ein Beweis dafür, dass man über Humor nicht streiten kann. Drei Mann in einem Boot. Ganz zu schweigen vom Hund! machte Jerome K. Jerome (1859 – 1927) schlagartig nicht nur in Großbritannien berühmt, der Roman wurde auch diverse Male verfilmt, ist Schullektüre und gilt bis heute als Klassiker des englischen Humors. Nur meins ist er eben leider nicht und ich bin dankbar, dass ich ihn nicht im Englischunterricht lesen musste.

Jerome K. Jerome: Drei Mann in einem Boot. Ganz zu schweigen vom Hund! Manesse 2017
www.randomhouse.de