Bernhard Schlink: Olga

Mit Bismarck beginnt und endet es

Viel Stoff hat Bernhard Schlink in diesen Roman gepackt: einen Parforceritt durch die deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis 1971, Reisen in ferne Länder, eine unvollendete Liebesgeschichte und die Lebensgeschichte einer beeindruckenden Frau.

Olga ist von Beginn an anders. Sie steht still und schaut lieber zu, sie lernt begierig und begreift früh Bildung als ihre einzige Chance aus der Armut und weg von der ungeliebten Großmutter, sie träumt von einem Klavier, einem Füllfederhalter von Soennecken und neuen Kleidern. Der Eintritt ins Lehrerinnenseminar in Posen und die erste Stelle als Lehrerin sind die Belohnung für ihre Zielstrebigkeit, ihre Dickköpfigkeit und ihren Fleiß.

Ganz anders Herbert. Als Sohn des örtlichen Guts- und Fabrikbesitzers fehlt es ihm nicht an materiellen Gütern. Seine Passion sind das Rennen, das Schießen, das Reiten und Rudern und nur mit Mühe schafft er sein Abitur und den Eintritt ins Garderegiment. Doch seine Träume sind andere, er will mehr als „Gut, Dorf, Königsberg, Berlin oder die Garde“. Er möchte Deutschland groß machen, fantasiert von der Stärke und Schönheit reiner Rassen, alles Dinge, die für Olga hohl klingen. Und doch sind die beiden Außenseiter befreundet seit Kindertagen, werden sogar trotz aller Widerstände ein heimliches Paar. Olga akzeptiert ein Leben im Wartestand, während Herbert am Krieg gegen die Herero in Deutsch-Südwestafrika teilnimmt, durch die Welt reist und ihr ein Leben im Wartestand zumutet, nicht unähnlich dem der heimlichen Geliebten eines verheirateten Mannes. Seine Suche nach Weite ist ihr fremd, sie steht den Ideen der Sozialdemokraten nahe und lehnt die seit Bismarck grassierenden großen Gedanken der Deutschen ab. Herberts schlecht vorbereitete Arktisexedition kann sie nicht verhindern. Er wird nie zurückkehren.

Bernhard Schlink gliedert seinen Roman in drei völlig unterschiedliche Teile. Der erste erzählt Olgas Leben bis zu ihrer Vertreibung aus Schlesien 1945 und wird in kurzen Kapiteln mit oft großen Zeitsprüngen schlaglichtartig, sehr spannend, aber auch sehr sachlich und distanziert erzählt. Warum dies so ist, erklärt erst der letzte Abschnitt dieses Teils, der die Erzählperspektive offenlegt – ein sehr überraschender Kunstgriff des Autors, der mir gut gefallen hat. Hier hat meine Bewunderung für Olga die Zuneigung zu ihr überwogen.

Im zweiten und in meinen Augen nicht so starken Teil des Romans wird das Leben Olgas ab den Fünfzigerjahren im Westen erzählt, als sie ertaubt als Näherin in einer Pfarrersfamilie arbeitete und dem jüngsten Sohn zur großmütterlichen Vertrauten voller Liebe, Verständnis und Nachsicht wurde. Dieser Ferdinand ist der Gegenpol zu Olga und Herbert und führt ein Leben in Beständigkeit, das außer einem Wechsel des Studienfachs keine Brüche kennt. Bis zu ihrem Tod infolge eines Anschlags Unbekannter auf das Bismarckdenkmal bleibt er an ihrer Seite. In seiner Zuneigung zu ihr konnte ich eine tiefere Beziehung zu Olga aufbauen als im ersten Teil.

Ferdinand haben wir es zu verdanken, dass wir im dritten, unglaublich berührenden Teil Briefe Olgas an den verschollenen Herbert zu lesen bekommen, in denen wir endlich ihre Stimme hören, eine überraschend andere Olga erleben und Unvermutetes erfahren.

Ich halte Bernhard Schlinks Roman Olga für einen absolut lesenswerten Roman über eine starke Frau und ein interessantes Zeitdokument.

Bernhard Schlink: Olga. Diogenes 2018
www.diogenes.ch

Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil

  Das Allgemeinste persönlich darstellen

„Man muss auch das Allgemeinste persönlich darstellen“, ein Zitat des japanischen Malers Katsushika Hokusai (1760 – 1849), stellt Arno Geiger dem Buch über das Leben und die Demenzerkrankung seines Vaters voran. Die Umsetzung dieses Mottos ist dem österreichischen Autor gelungen, die Krankheit erhält durch das Schicksal des Vaters August Geiger ein Gesicht. Aber nicht nur das: Arno Geiger dokumentiert ein über 80 Jahre währendes Leben, würdigt, was er seit der Entfremdung vom Vater während der Pubertät nicht mehr wertschätzte, und beschreibt den Strukturwandel in der Vorarlberger Heimat von der bäuerlichen Dorfwelt zur Wohn- und Industriegemeinde.

August Geiger, geboren 1926, war ein Kleinbauernsohn aus Wolfurt bei Bregenz. Nach der Kriegsmatura im Februar 1944 wurde er eingezogen und im Februar 1945 an die Ostfront versetzt. Seiner Weigerung nach dem Krieg, die Heimat noch einmal zu verlassen, noch nicht einmal für Urlaubsreisen, war auf das Trauma von Krieg, Gefangenschaft und Lazarett zurückzuführen. Eine glückliche Ehe mit seiner so ganz anderen Frau war nicht möglich, sie verließ ihn nach 30 Ehejahren.

Anlass für das Schreiben des Buches war für seinen Sohn Arno die Demenzerkrankung des Vaters, die sehr schleichend begann und deren erste Anfänge wohl bereits spätestens in der Mitte der 1990er-Jahren liegen. Hier spricht der Sohn von einem gemeinschaftlichen Versagen, denn viel zu viel Zeit und Kraft wurde vergeudet: „Wir schimpften mit der Person und meinten die Krankheit“. Vergesslichkeit, Motivationsprobleme, ein Verlust von alltagspraktischen Fähigkeiten und vor allem der quälende Eindruck des Vaters, nicht zu Hause zu sein, wurden von der Familie zunächst fehlinterpretiert, was bei Arno Geiger rückblickend Zorn hervorruft.

Erst mit der Diagnosestellung trat eine gewisse Erleichterung ein, wie übrigens der ganze Krankheitsverlauf immer wieder durch Phasen des Durchatmens und Tiefs geprägt war. Die sich bei der Pflege abwechselnden Kinder, Geschwister, die getrenntlebende Ehefrau und später slowakische Pflegerinnen sahen sich ständig neuen Überraschungen und Herausforderungen gegenüber, bis im März 2009 als letzte Möglichkeit nur noch das Heim blieb, wieder ein Eingeständnis einer Niederlage und doch eine überraschend positive Wende für alle Beteiligten.

Der alte König in seinem Exil könnte wegen der dargestellten Problematik ein sehr dunkles Buch sein, ist es aber nicht, weil Arno Geiger der Krankheit bei aller Verzweiflung und Ausweglosigkeit auch helle Seiten abgewinnen kann. Die Annäherung an den Vater, der nach der Diagnosestellung wieder engere Zusammenhalt der Familie, die lichten Momente und vor allem das neue, überraschend kreative Sprachvermögen des Vaters, das Arno Geiger in Dialogen festgehalten hat, sind solche positiven Aspekte.

Kritiker haben Arno Geiger vorgeworfen, die Krankheit und Defizite des Vaters für seine Zwecke auszuschlachten. Ich kann dem nicht zustimmen, weil der Autor das Thema mit größter Demut, liebevoller Dankbarkeit und höchster Achtung vor dem Vater angeht. Außerdem hat es mir sehr gut gefallen, wie bescheiden Arno Geiger, dessen Durchbruch als Schriftsteller in die beschriebene Zeit fiel, im Hintergrund bleibt. Lediglich bei der Interpretation der Krankheit als Sinnbild für den Zustand der Gesellschaft konnte ich ihm nicht ganz folgen.

Arno Geiger: Der alte König in seinem Exil. dtv 2012
www.dtv.de

Graham Swift: Ein Festtag

Eine, die doch zum Ball geht

Das hätte es unter den strengen Augen von Mr Carson, Butler auf Downton Abbey, nicht gegeben: ein sieben Jahre währendes Verhältnis zwischen einem jungen Dienstmädchen und dem Erben des Nachbarguts. Doch erstens sind wir bei Ein Festtag, dem Roman oder besser der Novelle von Graham Swift, in der Grafschaft Berkshire und nicht in Yorkshire, und zweitens sind nach dem Ende des Ersten Weltkrieges die Regeln der englischen Klassengesellschaft tief erschüttert. Auf drei benachbarten Gütern sind die meisten Söhne im Krieg geblieben und das Personal in Upleigh bzw. Beechwood House ist auf je eine Köchin und ein Dienstmädchen zusammengeschrumpft. So kann das Dienstmädchen Jane Fairchild von Beechwood, wo Mr und Mrs Niven seit dem Tod ihrer Söhne alleine leben, sich jahrelang heimlich mit dem einzig verbliebenen Erben von Upleigh, Paul Sheringham, an verschwiegenen Orten treffen, zunächst für Geld, doch als es „ernst“ wird nur noch als Freundin und Geliebte.

Der 30. März 1924 soll der krönende Höhe- und Schlusspunkt werden. Traditionell haben an diesem Muttertag alle Dienstboten einige Stunden frei, um sie mit ihren Müttern zu verbringen. Ihre Herrschaft trifft sich derweil in der Stadt, um die bevorstehende arrangierte Ehe Pauls zu bereden. Upleigh steht daher leer und Paul kann Jane, die als Findelkind keine familiären Verpflichtungen hat, zu sich einladen, um sich anschließend mit seiner Verlobten zu treffen. Zum ersten Mal kann Jane ihr Rad vor dem Haus abstellen und durch das Hauptportal eintreten, das Paul ihr wie ein Butler öffnet. Und nicht nur das: Als Paul schließlich das Haus nach dem erotischen Spiel verlässt, kann sie nackt durch die Räume streifen und eine Freiheit genießen, die sie nie hatte, nun aber auch nicht so leicht wieder aufgeben wird.

Jane Fairchild, geboren 1901, wird am Ende fast 100 Jahre alt werden, wird 19 Bücher schreiben, darunter unverblümt sexuelle, eine gefeierte Schriftstellerin werden, aber sie wird sich von den fragenden Reportern nie entlocken lassen, was wir Leser erfahren: wann genau sie zur Schriftstellerin wurde. Als Findelkind im Waisenhaus aufgewachsen, hat sie nur eine elementare Schulbildung genossen und mit 14 ihre erste Stelle als Dienstmädchen angetreten. Doch ihr Interesse für Bücher, vor allem Abenteuerromane für Jungen, darf sie dank der Großzügigkeit ihres Dienstherrn in der Bibliothek des Herrenhauses stillen und Bücher werden ihr zur „Grundfeste ihres Lebens“. Der ebenso furiose wie tragische Tag im März 1924 wird zum Wendepunkt ihres Lebens.

Das Aschenputtel-Motiv „Und du sollst doch zum Ball gehen“ hat Graham Swift, einer der großen zeitgenössischen englischen Autoren, seinem kleinen Roman, den ich weniger als Liebes-, denn als Emanzipations- und Bildungsgeschichte gelesen habe, als Motto vorangestellt. Die Episode am Muttertag 1924 ist der Dreh- und Angelpunkt, in Wiederholungen erzählt, darum herum wird in kurzen Sequenzen das komplette Leben Janes und der Wandel der englischen Gesellschaft in den 1920er-Jahren zusammengefasst. Obwohl ich mir letzteres noch etwas ausführlicher gewünscht hätte, kann ich das elegant geschriebene Buch mit der wunderschönen Ausstattung und dem passenden Cover sehr empfehlen.

Graham Swift: Ein Festtag. dtv 2017
www.dtv.de

Volker Weidermann & Kat Menschik: Ma.Lu.Lu.Ka.

Zu einseitiger Kinderkrimi

Wenn bekannte Autoren aus dem Erwachsenenbereich ein Kinderbuch schreiben, ist das ein spannendes Experiment, das grundsätzlich meine Neugier weckt. Im Falle von Ma.Lu.Lu.Ka., einem Kinderratekrimi von Volker Weidermann, konnte mich das Resultat allerdings leider überhaupt nicht überzeugen.

Bei einer Schulexkursion in das Tunnelsystem unter dem ehemaligen Berliner Flughafen Tempelhof findet Karim, Mitglied der Viererbande Ma(rlene).Lu.Lu(dwig).Ka(rim). ein altes Tonband. Darauf sind aufgeregtes Elefantengeschrei und ein panischer, russischsprechender Mann zu hören. Die Kinder beginnen mit ihren Nachforschungen im Berliner Zoo, verfolgen die Spur des ehemaligen russischen Elefantenpflegers Pavel auf einer rasanten Fahrrad-Verfolgungstour durch das Berliner Zentrum und stoßen schließlich auf die missglückte Elefantenbefreiungsaktion eines PETA-Aktivisten.

Die Vorstellung der vier Protagonisten zu Beginn des Buches fällt extrem kurz aus. Über Karim erfährt man beispielsweise nur, dass er gut Fußball spielt und in der Schule verbotenerweise immer mit Dosen kickt. Zusammen mit den Illustrationen im Comicstil, die meinen Geschmack leider überhaupt nicht treffen, reicht das nicht aus, um sich ein Bild zu machen, zumal ohne Altersangabe.

Bereits der Einstieg mit dem Tonband und die Faszination der Kinder dafür klangen für mich nicht besonders überzeugend. Dass die Ermittlung der Umstände der Aufzeichnung dann von einem Zufall in den nächsten stolpert, ist aber relativ typisch für einen Kinderkrimi und soll hier nicht kritisiert werden. Ganz und gar nicht akzeptieren kann ich die dagegen die vollkommen einseitige Darstellung der Haltung von Elefanten in Zoos, die nur die Sichtweise von PETA berücksichtigt. Gerne dürfen auch solch kritische Themen in Kinderbüchern angesprochen werden und in einem Kindersachbuch über Zoos oder Elefanten würde ich das sogar erwarten, aber bitte nicht so pauschal und undifferenziert!

Die Herstellung des Buches ist hochwertig, das sehr stabile Hardcover hat sogar ein Lesebändchen. Sprachlich und in der Schriftgröße ist der Text an die Zielgruppe gut angepasst, die Sätze sind kurz, das Vokabular einfach und die viele wörtliche Rede nicht schwer zu lesen. Die Textmenge ist allerdings groß und die Bilder unterstützen das Textverständnis kaum, sodass ich das Buch frühestens ab Ende der dritten Klasse empfehlen würde. Ein Satz wie „Die anderen so ˂aha˃, …“ hat allerdings für mich nichts in einem (Kinder-)Buch verloren.

Die Rätselfragen an den Kapitelenden tragen nicht zur Lösung des Falls bei, motivieren aber eventuell zum genaueren Lesen des nächsten Abschnitts. Als störend empfand ich die in den Text eingestreuten Bilderrätsel, die den Lesefluss unterbrechen und im Anhang besser aufgehoben wären. Hilfreicher wären textunterstützende Illustrationen, zum Beispiel für alle Nicht-Berliner ein Stadtplan zur detailliert beschriebenen Verfolgungsjagd.

Ein Wort noch zu den Illustrationen von Kat Menschik: Der Comicstil mag Geschmacksache sein, aber dass die mit ihren Fahrrädern durch Berlin brausenden Kinder keine Helme tragen, ist in meinen Augen fahrlässig.

Fazit: Wer seinen Kindern diesen Krimi in die Hand gegen will, sollte ihn vorher unbedingt selbst lesen und für Diskussionen bereitstehen. In die Klassenzimmerbibliothek einer Grundschule, für die das Buch vorgesehen war, werde ich es nicht stellen.

Volker Weidermann & Kat Menschik: Ma.Lu.Lu.Ka. Fischer KJB 2015
www.fischerverlage.de

Matteo Righetto: Das Fell des Bären

Das Wunder einer Blume nach langem Schnee

Was für ein Protagonist! Domenico ist mir sofort ans Herz gewachsen. Der Zwölfjährige aus einem Dolomitendorf ist klein und dünn für sein Alter, sommersprossig und mit wachem, offenem Blick, doch es fehlt ihm an Zuneigung. Seit dem Tod der Mutter vor zwei Jahren hat sich sein Vater, der mittellose Tischler Pietro Sieff, verändert, ist hart geworden, verschlossen und ungesellig. Für seinen Sohn hat er kein aufmunterndes Wort, nur Zornausbrüche und Ohrfeigen. Die schulischen Erfolge des intelligenten Jungen interessieren ihn nicht, auch nicht Domenicos Träume, der weiter zur Schule gehen möchte,  Abenteuer bestehen und Heldentaten vollbringen will.

Doch eines Tages erhalten Vater und Sohn die Chance zum Heldentum: Ein Bär treibt seit einigen Montaten sein Unwesen und versetzt die Menschen in Angst und Schrecken. Kein gewöhnlicher Dolomitenbär, deren letzter 1931 erlegt wurde, soll er sein, sondern eine rotäugige Bestie mit infernalischem Brüllen und pestartigem Gestank, genannt El Diàol, der Teufel. Einen solchen Bären gab es 1882 schon einmal, Vorbote einer katastrophalen Überschwemmung. Keiner traut sich die Jagd zu, bis Pietro, der verachtete Trinker, mit dem Lebensmittelhändler eine Wette eingeht: eine Million Lire für das Fell des Bären. Pietro weiß, dass er damit für immer ausgesorgt hätte, aber nicht nur das Geld, auch der Wunsch nach Anerkennung treibt ihn, den Zugezogenen an. Und so marschieren Vater und Sohn im Oktober 1963 mit zwei alten Gewehren los, Pietro entschlossen und mit neuer Kraft, Domenico mit der Hoffnung auf Ruhm und darauf, die Achtung seines Vaters wiederherzustellen. Die vier Tage, die sie gemeinsam in der Wildnis verbringen, wird ihre Beziehung verändern, denn kaum aufgebrochen, wird der Vater ein anderer Mensch, umgänglich wie noch nie. Er erzählt Domenico von früher und von seiner Trauer um die Mutter, seit deren Tod er das Gefühl hat, „vom Himmel nur noch die Hälfte zu sehen“,  verbindet ihm die wunden Füße, ruft ihn mit seinem Kosenamen Menego und bringt ihm das Schießen bei. „Es war als wären sie beide noch einmal zur Welt gekommen, als habe dieses gemeinsame Abenteuer ein kleines Wunder geschehen lassen. Das Wunder einer Blume nach langem Schnee. Ja, genauso fühlte und sah sich Domenico: wie ein zarter Blütenkelch, der sich nach monatelangen Schneefällen den Sonnenstrahlen öffnet. Und wie wärmten diese väterlichen Strahlen sein Herz.“

Jederzeit jedoch sind Vater und Sohn sich der Gefahr ihrer Unternehmung bewusst: „Sieg oder Untergang, alles oder nichts“, denn El Diàol verzeiht keinen Fehler und das Fell des Bären muss teuer erkauft werden.

Matteo Righetto, geboren 1972 und Dozent für Literatur, war mit seinem Debüt Das Fell des Bären in seiner Heimat Italien sehr erfolgreich. Der kurze, nur 160 Seiten umfassende Roman, ist eine eindringliche, bildreiche, klar und einfach erzählte Vater-Sohn-Geschichte, ein Bergroman mit sehr eindrücklichen Naturschilderungen und darüber hinaus eine ungeheuer spannende, überraschende und bisweilen gruselige Geschichte, die mich bei der Schilderung von Gerüchen und Geräuschen immer wieder hat erschauern lassen. Nach Paolo Cognettis Acht Berge ist es bereits mein  zweiter beeindruckender italienischer Bergroman in diesem Jahr, hat mir aber literarisch noch besser gefallen.

Matteo Righetto: Das Fell des Bären. Blessing 2017
www.randomhouse.de

Mary Basson: Die Malerin

Eine begabte Frau im Schatten großer Künstler

Wer mehr über das Leben, aber auch die Kunst der expressionistischen Malerin Gabriele Münter (1877 – 1962) erfahren möchte, ist mit dem biografischen Roman Die Malerin von Mary Basson gut bedient. Die Autorin, die im Milwaukee Art Museum mit der größte Münter-Sammlung Nordamerikas arbeitet, spürt dem Leben der Künstlerin von 1902 bis 1957 streng chronologisch nach. Dazwischen sind Bildbeschreibungen eingestreut, zwar ohne die Werke abzudrucken, aber diese lassen sich leicht im Internet auf der Homepage des Milwaukee Art Museum oder des Lenbachhauses München finden. Ich habe sie zum besseren Verständnis ausgedruckt und in mein Buch gelegt.

Gabriele Münter, genannt Ella, strebte zu einer Zeit eine Künstlerinnenkarriere an, als Frauen an den etablierten großen Kunstakademien noch nicht akzeptiert wurden. Mit ihrem Erbe ging sie 1901 zum Studium nach München an die Malschule des Künstler-Vereins, später in die neue Malschule „Phalanx“, wo Wassily Kandinsky, damals bereits ein namhafter Künstler, ihr Lehrer wurde. Obwohl Kandinsky verheiratet war, wurden sie ein Paar, ein Skandal vor allem für Gabriele Münter, denn dem bekannten Maler wurde ein Leben jenseits der Konventionen eher verziehen. Gabriele Münter litt unter dem Leben jenseits der Gesellschaft, das sie zunächst auf Reisen, dann in dem von ihr in Murnau gekauften Haus, von den Dorfbewohnern als „Russenhaus“ tituliert, mit ihm führte. Auch nach seiner Scheidung 1911 schob er die Eheschließung immer wieder hinaus. Als er Deutschland 1914 verlassen musste, heiratete er 1917 in Russland eine andere, ein Umstand, von dem Gabriele Münter erst 1921 erfuhr, und der sie in eine jahrelange psychische Krankheit stürzte. 1927 lernte sie ihren zweiten Lebensgefährten, den Gelehrten und Kunstkritiker Johannes Eichner kennen, mit dem sie bis zu dessen Tod 1958 in Murnau zusammenlebte.

Besonders interessant beschreibt Mary Basson die Zeit des Nationalsozialismus, als Gabriele Münter die Bilder der Künstlergruppe „Der Blaue Reiter“, inzwischen als entartete Kunst verboten, aus einem Münchner Depot nach Murnau holte und dort unter Lebensgefahr versteckte, u. a. Bilder von Wassily Kandinsky, Paul Klee, Franz Marc und eigene. Viel Überwindung muss sie das gekostet haben, denn wenn man der Autorin glaubt, kam Gabriele Münter nie über die Demütigung durch Kandinsky hinweg. Die geretteten Bilder stiftete sie 1957 dem Lenbachhaus in München.

Ich muss zugeben, dass ich nach den ersten Seiten eine allzu leichte Lektüre befürchtet habe, doch diese Angst hat sich zum Glück nicht bestätigt. Nach dem für mich etwas holprigen Einstieg hat mich der Roman immer mehr gefesselt und ich bin überzeugt, einen sehr guten Eindruck von der Person Gabriele Münter – als Künstlerin wie als Mensch – erhalten zu haben. Gut gefallen hat mir, dass Mary Basson die Malerin nicht idealisiert, sondern mit ihren durchaus vorhandenen Schwächen porträtiert. Vermisst habe ich dagegen ein Vor- oder Nachwort, in dem die Autorin über ihre Recherchearbeit berichtet und ihre Quellen benennt. Zu gerne hätte ich erfahren, wo sie sich im Rahmen des Romans erlaubte künstlerische Freiheiten genommen hat und ob zum Beispiel die Briefe und Tagebucheinträge authentisch oder erdacht sind. Davon abgesehen kann ich das unterhaltsame Buch aber allen empfehlen, die sich für Kunst oder für bewegende Frauenschicksale interessieren.

Mary Basson: Die Malerin. Aufbau 2017
www.aufbau-verlag.de

Michael Bond & Catherine Rayner: Hier kommt Olga da Polga

Ein Vorlesebuch der Extraklasse

Als der britische Kinderbuchautor Michael Bond am 27. Juni 2017 im Alter von 91 Jahren starb, wurde er in allen Nachrufen als Schöpfer von Paddington Bär gefeiert. In unserer Familie war dagegen immer eine andere Figur Bonds prägend, die er ab 1971 schuf: die Meerschweindame Olga da Polga. Wir waren daher sehr glücklich, als der Verlag Thienemann die Geschichten dieses abenteuerlustigen, fantasievollen, mutigen und liebenswerten Tieres im Jahr 2015 als wunderschön gestalteten, fadengehefteten Hardcover-Band wieder aufgelegt hat, versehen mit herausragenden Illustrationen von Catherine Rayner, die nicht nur das Aussehen, sondern auch die Seele und den Charakter der Tiere wiederzugeben versteht.

Und so stellt Michael Bond seine Protagonistin zu Beginn des Romans vor: „Von Anfang an gab es nicht den geringsten Zweifel daran, dass Olga da Polga ein Meerschweinchen war, das es einmal weit bringen würde. Sie war charmant, trug ihr Barthaar auf eine ganz besondere Art, hatte einen sorglos-unbekümmerten Wirbel in den Rosetten ihres braunweißen Fells und einen Glanz in den Augen, der sie von allen anderen Meerschweinchen unterschied.“

Der Besitzer der Zoohandlung ist nicht gerade traurig, als Olga, die immer für Unruhe im Stall gesorgt hat, verkauft wird. Olga, abenteuerlustig und neugierig, zieht bei Karen, Papa und Mama Sägemehl in einen Stall auf Stelzen ein, der ihrer Meinung nach einem Palast recht nahe kommt, findet im Kater Noel, im Igel Fangio, in der Schildkröte Graham und anderen Tieren gute Freunde, flunkert beim Geschichtenerzählen was das Zeug hält, streut aus Übermut gefährliche Gerüchte, erfährt bei einem Ausflug, dass die große weite Welt unter den Pfoten viel weniger schön ist als ihr Zuhause, frisst gemäß dem Motto „Ein Kleeblatt im Mund ist besser als zwei auf der Wiese“ was das Zeug hält und muss nach einem Sturz von ihrer Familie gesundgepflegt werden.

Lauter spannende Geschichten also, in denen die eigenwillige Olga erwachsenen Vorlesern wie Kindern ab fünf Jahren so ans Herz wächst, dass man anschließend garantiert auch ein Meerschweinchen haben möchte – oder besser gleich zwei, denn im Gegensatz zur Entstehungszeit des Kinderbuchs ist heute eindeutig belegt, dass diese Tiere nur zu zweit oder in Gruppen gehalten werden sollten.

Michael Bond & Catherine Rayner: Hier kommt Olga da Polga. Thienemann 2015
www.thienemann-esslinger.de/thienemann

Franz Hohler: Das Päckchen

Die Odyssee einer mittelalterlichen Handschrift

Wieder einmal lässt Franz Hohler, 1943 geboren und inzwischen einer der bedeutendsten Schweizer Autoren, diesen Roman an einem Bahnhof beginnen, dem Berner Hauptbahnhof. Dort entscheidet sich der Bibliothekar der Züricher Zentralbibliothek, Ernst Stricker, der eigentlich weder zu spontanen Handlungen noch gar zu Abenteuern neigt, den klingelnden öffentlichen Fernsprecher abzunehmen. Auf den Hilferuf einer nahezu blinden alten Frau hin, die ihn mit ihrem Neffen verwechselt, eilt er zu ihr in die Gerechtigkeitsgasse und nimmt ein Päckchen ihres 1980 in den Bergen verschollenen Mannes entgegen, das sie in Sicherheit wissen möchte. Es ist, wie Ernst sofort vermutet hat, ein Buch, aber zu seinem maßlosen Erstaunen nicht irgendeines, sondern eine unschätzbar kostbare mittelalterliche Handschrift aus Pergament, der Abrogans, ein lateinisch-althochdeutsches Wörterbuch, das älteste Buch in deutscher Sprache, von dem sonst nur drei Abschriften in Bibliotheken in Karlsruhe, Paris und St. Gallen existieren. Handelt es sich um eine weitere Abschrift oder gar um das Original?

Das Hören dieses Romans hat mir aus verschiedensten Gründen großes Vergnügen bereitet, auch wenn die immer wieder eingebauten Zufälle fast schon überirdischer Natur zu sein scheinen. Zum einen hat es mich fasziniert, die Veränderung meines Kollegen Ernst zu verfolgen, der von einer Stunde zur anderen vom biederen, grundehrlichen, fast langweiligen Musterbibliothekar zum routinierten Lügner und risikofreudigen Abenteurer wird, indem er das Missverständnis nicht aufklärt, seiner Frau Jacqueline, seinen Kollegen, der Polizei und allen Beteiligten immer neue, spontan erdachte Flunkereien serviert und unkalkulierbare Risiken eingeht. Wie selbstverständlich und nahezu ohne Gewissensbisse verstrickt Ernst sich immer tiefer in das Geschehen. Dieser Teil des Romans gleicht einem Detektivroman, daneben gewährt Hohler Einblicke in eine Ehe und in die moderne Bibliothekswelt, beides oftmals mit einem Augenzwinkern. Zum zweiten hat mir die gekonnte Verstrickung von zwei Haupt- und einer Nebenzeitebene gut gefallen. Erste Haupthandlung ist natürlich die des Ernst Stricker, nahezu gleichberechtigt jedoch ist die des jugendlichen Mönchs und Skriptors Haimo, der das Original zwischen 770 und 780 im Benediktinerkloster Weltenburg nach Vorlagen seines Abts geschrieben hat und dann von diesem über die Klöster Wessobrunn, St. Gallen und Bobbio nach Monte Cassino entsandt wurde, um die Handschrift zur Abschrift anzubieten und gleichzeitig dortige Werke zu kopieren, eine im Mittelalter übliche Form der Verbreitung von Schriften. Seine Geschichte und die seiner ungeheuerlichen Verbindung mit einer Frau, die ihn auf der Reise zu Fuß mit einem Esel begleitete, ist eine mittelalterliche Abenteuererzählung, die manchmal an Umberto Eco denken lässt. Ein weiterer, kleinerer Erzählstrang enthält eine Kriegsgeschichte aus dem Italienfeldzug der Wehrmacht, die erklärt, wie der Abrogans letztlich in die Küchenschublade der alten Frau gelangte. Last but not least hat mich als Bibliothekarin natürlich das wunderbare Happy End für die Handschrift erfreut, das ich mir nicht schöner hätte wünschen können.

Gert Heidenreich liest den Roman ungekürzt auf fünf CDs in 318 Minuten sehr professionell und unterhaltsam, nuancenreich und der jeweiligen Zeitebene angepasst, und bringt sowohl Hohlers Naturbeschreibungen als auch seinen immer wieder aufblitzenden Humor wunderbar zur Geltung.

Franz Hohler: Das Päckchen. Gelesen von Gert Heidenreich. Random House Audio 2017
www.randomhouse.de

Michel Bussi: Fremde Tochter

Spannende Unterhaltung vor atemberaubender Kulisse

Der 23. August spielt eine bedeutsame Rolle im Leben der Familie Idrissi: Am 23.08.1968 hat der Korse Paul Idrissi seine Frau Palma kennengelernt, die auf dem Campingplatz von La Revellata ihr Zelt aufgeschlagen hatte und ihn schließlich seinem Clan und der Insel entrissen und mit nach Nordfrankreich genommen hat. Genau 21 Jahre später, am 23.08.1989, verunglückt die inzwischen vierköpfige Familie beim Urlaub auf Korsika mit ihrem roten Fuego und nur die 15-jährige Tochter Clotilde überlebt. 27 Jahre später kehrt sie zurück, nun selber verheiratet und mit einer 15-jährigen Tochter, um ihre Großeltern wieder zu sehen, um ihrer Familie Korsika und die Unglücksstelle zu zeigen, und um Licht ins Dunkel des Unfalls zu bringen, was ihr schließlich am 23.08.2016 gelingt – bei einem furiosen Finale… Doch bis dahin wird der Aufenthalt für sie immer surrealer, denn sie erhält mit einem „P.“ unterzeichnete Briefe, die eigentlich nur ihre Mutter geschrieben haben kann, die ungewöhnlichen Zufälle häufen sich und jemand scheint ein Spiel mit ihr zu spielen. Während ihr Mann, der nur an Effizienz und Rationalität glaubt, versucht, sie von weiteren Nachforschungen abzuhalten, taucht Clotilde immer weiter in die Geheimnisse der Vergangenheit ein und ahnt nicht, dass jemand die Aufdeckung der Wahrheit unter allen Umständen verhindern will. Hätte sie nur ihr Tagebuch aus jenem Sommer 1989 noch, dem sie damals alles über die Jugendclique auf dem Campingplatz, große Emotionen, die Konflikte mit ihrer Mutter, die Entdeckungen über ihren Vater und die Streitereien der Eltern anvertraut hat, doch das war nach dem Unfall spurlos verschwunden.

Eigentlich lese ich eher selten leichte Unterhaltungsromane, aber wenn ich das Bedürfnis danach habe, hat mich der französische Bestsellerautor und Professor für Politologie und Geografie an der Universität Rouen Michel Bussi bisher noch nie enttäuscht. In diesem Fall hat mich die Geschichte über die reine Spannung der Handlung auch deshalb gefesselt, weil sie an einem Ort spielt, den ich aus mehreren Urlauben gut kenne: die Umgebung von Calvi auf Korsika. Die detaillierte Beschreibung der Region und besonders der Menschen mit ihrem Lebensmotto „Respekt, Ehre und Tradition“ hat mir sehr gut gefallen und Erinnerungen geweckt. Wie schon bei Das Mädchen mit den blauen Augen konnte ich mir bis kurz vor dem Ende absolut keine Auflösung vorstellen, so wenig haben die Umstände zusammengepasst, und doch gab es sie. Die Kombination von zwei Zeitebenen, der Zeit von 2016 in erzählter Form und der Zeit von 1989 kurz vor dem Unfall als Auszüge aus Clotildes Tagebuch, ist gut gewählt und hat die Dramatik noch verstärkt, da man nicht weiß, wer da in diesem verschwundenen Heft liest und es bisweilen kommentiert.

Mich hat der Roman über stark 500 Seiten gut unterhalten und ich habe gerne beim ein oder anderen Zufall ein Auge zugedrückt. Schließlich habe ich es immer geahnt: Korsika ist nicht nur die Île de la Beauté, dort können sich auch Dinge zutragen, die man anderswo nicht für möglich halten würde…

Michel Bussi: Fremde Tochter. Rütten & Loening 2017
www.aufbau-verlag.de

John Green: Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken

Gedanken-Rodeo in einer Spirale

Bestechend an diesem Roman ist zunächst das Äußere. Der Hanser Verlag hat mit dem auffällig gestalteten Wendecover, schöner als das der Originalausgabe, dessen Motiv sich während der Lektüre erschließt, dem orange eingefärbten Schnitt, der das Buch beim ersten Lesen sanft und angenehm knistern lässt, und dem künstlerisch bedruckten Vorsetzblatt ein kleines Meisterwerk geschaffen, das man deshalb nicht als E-Book lesen sollte. Schade nur, dass die Zahl der Druckfehler verblüffend hoch ist, was vermutlich dem Zeitdruck geschuldet ist, denn die deutsche Ausgabe erschien nur einen Monat nach dem amerikanischen Original. Der Roman wird das erste Buch in einer limitierten Auflage mit Nummerierung in meinem Bücherregal sein, eine bibliophile Besonderheit.

Der US-Amerikaner John Green, der in seinen Jugendbüchern gerne schwierige Themen anpackt, hat bei seinem neuen Roman Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken aufgegriffen, was er aus eigener Erfahrung kennt: Zwangsstörungen und Panikattacken. Die 16-jährige Ich-Erzählerin Aza Holmes, ein äußerst intelligentes Mädchen, das als Kind den Vater verloren hat, leidet unter diesen psychischen Erkrankungen. Sie ist stark und mutig bei Dingen, die andere Leute nervös machen, wird aber panisch bei der Vorstellung, durch Bakterien, besonders Clostridium difficile, schwer zu erkranken. Fünf Jahre Verhaltenstherapie und drei verschiedene Medikamente haben nicht zu einer durchschlagenden Besserung geführt, es gibt lediglich bessere und schlechtere Phasen, abzulesen am Abstand zwischen ihren Therapiesitzungen. Ein Segen für sie ist ihre Freundin aus Kindertagen, die zupackende Daisy, die sich ihr Studium selbst verdienen muss und für ihre regelmäßig im Internet verfasste Fanfiction zu Star Wars lebt. Daisy kann mit Azas Symptomen umgehen, zeigt ihr aber zugleich Grenzen auf.

Nun macht die Beschreibung von Krankheitssymptomen noch keinen Roman, vor allem aber kein Jugendbuch. Deshalb hat John Green einen Vermisstenfall, zwei Liebesgeschichten, einen Fall von Kindesvernachlässigung, die Begeisterung für Star Wars, die Kritik am amerikanischen System der Studienfinanzierung sowie die Themen Trauer und Forschung an der Verlängerung des Lebens mit eingebaut. Neben all ihren psychischen Problemen ist Aza auch ein pubertierender Teenager mit den üblichen Abgrenzungsproblemen zur Mutter. Viel Stoff also für gut 280 Seiten und in meinen Augen nicht ganz so gelungen, wie der Teil über die Krankheit, aber das mag auch daran liegen, dass ich nicht zur eigentlichen Zielgruppe gehöre. Vor allem Azas Liebesgeschichte mit dem Millionärssohn Davis ist mir mit der gemeinsamen Sternenguckerei etwas zu abgedroschen ausgefallen und die Dialoge, sei es mündlich oder per Social Media, wirken aufgesetzt (oder sehr amerikanisch?), auch wenn beide durch den Verlust eines Elternteils sicher über ihr tatsächliches Alter hinaus entwickelt sind.

Ausgesprochen gut gelungen fand ich dagegen den sicher schwer zu schreibenden Schluss des Romans, der zum Glück überhaupt nicht platt ist. Ich verdanke es dem Buch, dass ich jetzt eine klarere Vorstellung davonhabe, wie und worunter Menschen mit  Zwangsneurosen leiden, und was die Gedankenspiralen sind, in die sie immer wieder haltlos fallen. Dank Daisy weiß ich aber auch, dass gute Freundschaften mit Erkrankten möglich sind, wenn alle Beteiligten ehrlich miteinander umgehen und vereinbarte Haltelinien respektieren.

Die letzten Sätze der Danksagung fassen zusammen, was ich aus der Lektüre mitnehme: „Manchmal ist es ein langer und beschwerlicher Weg, aber psychische Krankheiten sind behandelbar. Es gibt immer Hoffnung, selbst wenn einem die eigenen Gedanken vormachen, es gebe keine.“

John Green: Schlaft gut, ihr fiesen Gedanken. Carl Hanser 2017
www.hanser.de