Bilanz eines Butlerlebens

Vieles hat sich seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Leben des altgedienten Butlers Stevens auf dem englischen Landsitz Darlington Hall verändert. Auf Lord Darlington, dessen Familie über 200 Jahre im Besitz des Gutes war, ist ein amerikanischer Eigentümer gefolgt. Neuartige Pflichten, ein leichterer Umgangston und ein auf ein Minimum reduzierter Stab von Bediensteten stellen völlig neue Anforderungen an ihn, denen er sich als Mensch mit einer natürlichen Abneigung gegen Veränderungen nur schwer gewachsen fühlt.
Im Juli 1956 schlägt sein neuer Arbeitgeber ihm vor, während seiner Abwesenheit eine kleine Reise zu unternehmen, und gestattet ihm sogar die Nutzung seines Automobils. Nach längerem Zögern nimmt Stevens an und beschließt, die in den 1930er-Jahren als Haushälterin in Darlington Hall beschäftigte Miss Kenton in Cornwall zu besuchen und eventuell zu einer Rückkehr zu bewegen. Die sechstägige Reise ohne dienstliche Verpflichtungen gibt ihm die Zeit, über sein Leben, verpasste Gelegenheiten, seinen Stolz auf die geleistete Arbeit in einem vornehmen Haus, in dem die Großen ein und ausgingen und er der Narbe am Rad der Geschichte oft sehr nahe kam, aber auch über seine bedingungslose Loyalität zu einem Dienstherrn, der auf zweifelhafte Weise in die Politik zwischen den Weltkriegen verstrickt und nach 1945 ein gebrochener Mann war, nachzudenken. Und immer wieder beschäftigen ihn auch seine beiden Lieblingsthemen: die Würde des Butlers und die Frage, wann ein Butler ein Großer seines Fachs ist.
Gert Heidenreich ist für mich einer der besten deutschen Hörbuchsprecher, so auch bei dieser glücklicherweise ungekürzten Lesung von Kazuo Ishiguros Roman „Was vom Tage übrig blieb“ mit etwa zehn Stunden auf acht CDs, in denen er dem Butler seine Stimme leiht. Vor allem bei den Dialogen zeigt er sein großes Können, aber auch bei den ungewollt komischen Szenen des Berichts. Obwohl der Funke bei mir noch nicht von Beginn an übergesprungen ist, denn ich musste mich an die äußerst umständliche, verlangsamte Denk- und Erzählweise von Stevens erst gewöhnen, hat mich die Tragik seines verpassten Lebens und der bedingungslosen Unterordnung immer mehr gepackt. Mehrfach musste ich an Mr. Carson, den Butler auf Downton Abbey, denken, der wohl ähnlich empfand und formulierte wie Stevens, aber eine ungleich leichtere Aufgabe hatte. Beide verkörpern für mich den englischen Butler schlechthin, loyal bis zur Selbstaufgabe.
Kazuo Ishiguro, geboren 1954 in Nagasaki und britischer Schriftsteller japanischer Herkunft, hat 2017 den Literaturnobelpreis unter anderem für diesen außergewöhnlichen Roman erhalten, der 1989 bereits mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurde. Wer Spaß an den feinen Nuancen der Sprache, Sinn für das britische Lebensgefühl und ein bisschen Ausdauer hat, wird dieses Hörbuch garantiert mögen.
Kazuo Ishiguro: Was vom Tage übrig blieb. Gelesen von Gert Heidenreich. Random House Audio 2017
www.randomhouse.de
Nach Emmi und Einschwein von Anna Böhm aus dem Oetinger Verlag gibt es jetzt im Loewe Verlag Das kleine Walhorn von Jessie Sima. Beide Titel nehmen das gerade so beliebte Einhorn-Thema auf, gehen aber wesentlich kreativer, humorvoller und vor allem kitschfreier damit um als die einschlägigen Mädchenbuch-Serien.
Das ungleiche Brüderpaar Olof und Carl Axelsson steht im Mittelpunkt des kleinen Romans von Johan Bargum, geboren 1943 und einer der bekanntesten finnlandschwedischen Autoren. Mit sparsam gesetzten Worten und in kleinen, einfachen Sätzen erzählt der Ich-Erzähler Olof von der Wiederbegegnung mit Carl am Totenbett der Mutter nach langem Schweigen. In den späten Augusttagen, während die Mutter im Ferienhaus auf Vidarnäs, einer Schäre im Gürtel von Sibbo, dahinsiecht, rekapituliert Olof mit wenigen Strichen sein ganzes bisheriges Leben. Nach dem frühen Tod des Vaters stand er immer im Schatten seines jüngeren, aber ab der Pubertät größeren, stärkeren, charmanteren und durchsetzungsfähigeren Bruders, der von der Mutter stets bevorzugt wurde. Carl erinnerte sie an ihren Mann, weswegen sie ihn stets gegen Olof verteidigte, ihn über die Maßen beschützte, ihn aber auch mit ihrer Liebe erdrückte und einengte, eine unheilvolle Beziehung. Olof hatte und hat eine Höllenangst vor dem Bruder, ließ sich von ihm den Schneid abkaufen und fasste auch nach dem frühen Weggang aus dem Elternhaus nie richtig Fuß im Leben. Während Carl erfolgreich die Handelshochschule absolvierte, Karriere in der IT-Branche in den USA machte und heiratete, brach Olof sein Studium ab, hatte halbherzige Affären, litt unter den eigenen Schwächen und seinem Phlegma. Nur einmal hätte er seinem Leben vielleicht eine andere Wendung geben können, doch damals, vor dreizehn Jahren, hat er aus Feigheit und Angst gekniffen und Carls Verlobte Klara, mit der er drei unvergessliche Tage und Nächte verbracht hatte, mit dem Bruder in die USA auswandern lassen.
Normalerweise schätzen Autoren die Frage nach der autobiografischen Grundlage ihrer Romane nicht, im Falle von Ein schönes Paar von Gert Loschütz ist dagegen bekannt, dass die Geschichte auf dem elterlichen Schicksal basiert. Der Schöffling Verlag hat den Roman, in dem es aufgrund der „Wortlosigkeit“ der Protagonisten viele Lücken und Vermutungen gibt, mit einem sehr stimmigen Cover versehen, das genau diese Sprachlosigkeit ausstrahlt.
Eine junge Frau, gemalt vom amerikanischen Pop Art-Künstler Alex Katz, schmückt das Cover des Debütromans Vier Schwestern der in Neuseeland geborenen Autorin Joanna King. Es scheint die jüngste der vier Schwestern sein, die namenlose, in London lebende Ich-Erzählerin. Ihre Augen sind hinter der Sonnenbrille nicht zu erkennen, ihr Gesichtsausdruck ist ein wenig geheimnisvoll. Aus ihrer Sicht erfahren wir, was sich beim Treffen der vier Schwestern in der malerischen Landschaft der Cinque Terre abgespielt hat. Aber nicht nur das, auch Rückblicke in die Jugend gewährt sie uns und berichtet, wie es nach dem Treffen für sie und die zweitjüngste Schwester Rose weitergegangen ist.
Kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs befindet sich Mihály, ein Mann Mitte 30, mit seiner Frau Erzsi auf Hochzeitsreise durch Italien. Sie hat seinetwegen ihren Mann, der sie glühend liebt, verlassen. Während Mihály, der nach seinem Studium der Religionswissenschaften nicht ganz freiwillig in das Budapester Familienunternehmen eingestiegen ist, mit ihr seine Konformität bestätigen will, sucht Erzsi in Mihály eben das Unangepasste.
Um es gleich vornweg zu sagen: Emmi & Einschwein – Einhorn kann jeder! von Anna Böhm mit den umwerfend humorvollen Illustrationen von Susanne Göhlich hat mich vollauf begeistert. Es ist ein Kinderbuch, das die Realität mit Fantasy-Anteilen anreichert, das Thema Mobbing in der Schule ernst und kindgerecht aufnimmt, dabei aber witzig und optimistisch ist, und so viele liebenswerte, großartig ausgearbeitete Charaktere hat, dass das Lesen ein Mordsvergnügen ist. Drittklässler können das Buch allein bewältigen, ab sechs Jahren eignet es sich bereits zum Vorlesen. Trotz des rosa-lastigen Covers und der Einhorn-Thematik bin ich überzeugt, dass auch Jungs mit diesem Buch einen Riesenspaß haben können – also bitte nicht abschrecken lassen!
Bär und Hase sind Nachbarn, und so nutzt Rotzhase den Winterschlaf von Schnarchnase aus, um deren Vorräte zu klauen. Als Bär davon mitten im Winter erwacht, beginnt sie trotzdem, gut gelaunt einen Schneemann zu bauen. Hase dagegen ist ein Griesgram, weiß alles besser, speist Bär mit seiner schrumpeligsten, schlabberigsten, gammeligsten Möhre ab und ist sich zu fein, um bei Bärs Schneemann mitzubauen. Doch Bär lässt sich den Spaß nicht verderben und als sie Rotzhase vor dem Wolf rettet, werden beide doch noch dicke Freunde.
J. Courtney Sullivan, US-amerikanische Autorin und Journalistin, hat in ihren Romanen eine Vorliebe für Familientreffen. In Sommer in Maine treffen verschiedene Familienmitglieder überraschend im gemeinsamen Ferienhaus zusammen, in All die Jahre ist es ein Todesfall, der alle zusammenführt. In beiden Romanen zeigt sich, dass zulange geschwiegen wurde und das Bewahren von Geheimnissen nur Unheil gebracht hat.