Robert Scheer: Pici. Erinnerungen an die Ghettos Carei und Satu Mare und die Konzentrationslager Auschwitz, Walldorf und Ravensbrück

Dem Grauen ein Gesicht geben

Wenn wir Augenzeugenberichte über den Holocaust dokumentieren möchten, so ist dies leider nur noch kurze Zeit möglich. Robert Scheer hat es kurz vor dem Tod seiner Großmutter Elisabeth Scheer, genannt Pici, noch gemacht und hat ein Gesprächsprotokoll niedergeschrieben, das durch seine Einfachheit und Ehrlichkeit tief berührt.

Der Bericht beginnt mit Picis frühesten Kindheitserinnerungen, blendet aber auch auf das Leben ihrer Eltern zurück. Pici wurde 1924 in Carei, Rumänien, geboren. Erste Diskriminierungen wegen ihres Judentums erfuhr die Familie auch schon zu dieser Zeit, doch erst als Carei im September 1940 unter ungarische Herrschaft kam, begann die Verfolgung. Die intelligente Schülerin konnte nicht weiter die Schule besuchen und musste eine Schneiderlehre machen, dem Vater wurde der Handel mit Brennholz verboten und der Familie dadurch die Haupteinnahmequelle entzogen. Trotzdem war ihre Kindheit mit sehr liebevollen Eltern, mit drei älteren Schwestern und dem jüngeren Bruder, Großeltern und zahlreichen Onkeln, Tanten usw. harmonisch und behütet.

Nachdem die Deutschen im März 1944 nach Carei gekommen waren, wurden die Juden im Mai ins Ghetto geschickt und verloren ihr Zuhause. Diese zweite Hälfte des Buches war nicht nur für Pici unglaublich schwer zu erzählen, auch als Leser ist sie kaum zu ertragen: der Verlust der Eltern in Auschwitz, die Odyssee durch mehrere Arbeits- und Konzentrationslager, später der Verlust der Geschwister. Pici überlebte als einzige aus der Familie die unvorstellbare Tragödie und kam im August 1945 zurück nach Carei. Auch ihren Glauben verlor sie in dieser Zeit und war am Ende ihres Lebens ziemlich überzeugt, dass es keinen Gott gibt. Dass sie über 90 Jahre alt werden würde, hätte sie selber nie gedacht, doch müssen mit ihrem Mann, ihrem Sohn und vor allem mit den geliebten Enkeln glückliche Jahre darunter gewesen sein, auch wenn das Grauen und der Verlust immer wie ein Schatten darüber lagen. Mit 91 Jahren ist sie in ihrer Wahlheimat Israel 2015 verstorben, nachdem sie die erste Niederschrift dieses Buches noch erleben durfte.

Hoffnung macht, dass der Enkel und Autor Robert Scheer sich frei entschieden hat, in Deutschland, einem Land, das seiner Familie dies alles angetan hat, zu leben.

Dem Verlag Marta press und der Verlegerin Jana Reich, von der auch das interessante Nachwort stammt, ist es zu verdanken, dass das Manuskript veröffentlicht werden konnte. In Anbetracht der Tatsache, dass dieses Buch trotz des relativ hohen Preises wohl keinen wirtschaftlichen Erfolg verspricht, ist dies sehr löblich. Allerdings hätte ich mir bei einer Verlagsproduktion ein deutlich besseres Lektorat gewünscht. Die sehr große Anzahl von gravierenden Rechtschreib- und Grammatikfehlern, Wortdopplungen, falschen Wörtern und anderen Unsauberkeiten  hat mich beim Lesen ausgesprochen gestört und verärgert. Sie ist definitiv nicht dem Autor anzulasten, hätte aber beim sorgfältigen Korrekturlesen leicht vermieden werden könnten.

Robert Scheer: Pici. Erinnerungen an die Ghettos Carei und Satu Mare und die Konzentrationslager Auschwitz, Walldorf und Ravensbrück. Marta press 2016
www.marta-press.de

Dagmar Geisler: Die Tintenkleckser – Mit Schlafsack in die Schule

Mit den Tintenkecksern kann man was erleben…

Die Autorin und Illustratorin Dagmar Geisler, bekannt vor allem für ihre exzellenten Kindersachbücher und die von Kindern, Eltern und Buchhändlern gleichermaßen geliebte Wanda-Reihe, hat mit Die Tintenkleckser – Mit Schlafsack in die Schule erneut einen sehr empfehlenswerten Auftaktband zu einer Reihe für alle ab ca. sechs Jahren zum Vorlesen, ab der dritten Klasse zum Selberlesen, geschrieben und illustriert. Besonders gut gefallen hat mir, dass die Reihe sowohl für Jungs als auch für Mädchen geeignet ist, da eine ganze Klasse im Mittelpunkt steht. Die sehr zahlreichen, schwarz-weiß-blauen, comicartigen Zeichnungen ergänzen den Text wunderbar, die ausführliche Vorstellung aller Kinder hilft beim Kennenlernen der Klasse, die Schrift ist groß und sehr deutlich und die Textmenge pro Seite und pro Kapital für Achtjährige durchaus zu bewältigen.

Kurz vor der heißersehnten Lesenacht in der Schulbibliothek verschwindet im Klassenzimmer Jana-Inas kleiner weißer Gummitiger. Gibt es etwa einen Dieb bei den Tintenklecksern? Gehörte der Tiger überhaupt Jana-Ina oder nicht vielmehr Zilly? Die Klassenlehrerin, Frau Fauser, ist enttäuscht über den Vorfall, möchte aber die Lesenacht nicht absagen. Und so kommen am Abend eine ganze Menge Kinder mit einem schlechten Gewissen in die Schule, die nichts mehr möchten, als den unglücklichen Vorfall aus der Welt zu schaffen. Dazu schleichen sie sich nach und nach aus der Bibliothek, während die Lehrerin vorliest. Doch wer hätte gedacht, dass ein dunkles Schulhaus so überaus gruselig sein kann! Nicht nur der empfindliche Fisch Balduin im Aquarium von Frau Fauser erschreckt sich in dieser Nacht fast zu Tode…

Die Geschichte ist rund und kindgerecht erzählt, ist spannend, gruselig und anregend und nimmt die ganz normalen Interaktionen einer dritten Klasse auf. Themen wie Vertrauen, Freundschaft und Ängste spielen eine große Rolle im Buch. Dass zuletzt alles wieder in Ordnung kommt, ist nicht zuletzt der verständnisvollen Klassenlehrerin zu verdanken, die nicht nur klare Regeln vorgibt, sondern auch viel Empathie im Umgang mit ihren Schülerinnen und Schülern zeigt.

Ich freue mich schon auf den nächsten Band und ein Wiedersehen mit der 3a!

Dagmar Geisler: Die Tintenkleckser – Mit Schlafsack in die Schule. dtv junior 2016
www.dtv.de

Timm Milan & Susanne Göhlich: Kaninchenschmuggel oder Wie ich Mehlchen vor dem Verschimmeln rettete

Kindernöte und Kinderglück

Granola heißt nicht nur wie ein Schokoladenkeks, sie ist genauso zuckersüß und sympathisch. Die Grundschülerin und Ich-Erzählerin in Timm Milans Kinderbuch Kaninchenschmuggel oder Wie ich Mehlchen vor dem Verschimmeln rettete ist mir wegen ihrer Direktheit, ihrer Ehrlichkeit und ihrem sonnigen Gemüt schnell ans Herz gewachsen, obwohl sie manchmal Ideen hat, bei denen sie sich selbst nicht sicher ist, ob sie gut sind. Dabei hätte sie jede Menge Gründe dafür, traurig und schlecht gelaunt zu sein: Ihre Lieblingslehrerin, Frau Mehl, wird nach einem Unfall durch die desinteressierte, handyspielende Frau Korn ersetzt, die absolut nichts davon mitbekommt, dass Granola und andere in der Klasse gemobbt werden, ihre beste Freundin Jule hat sich von ihr ab- und Vanessa zugewandt, die Mutter erlaubt kein Kaninchen als Haustier und darüber hinaus kämpft Granola gegen das, was sie als „Grammatik-Intoleranz“ bezeichnet: Wortverdrehungen, -verwechslungen und Rechtschreibprobleme.

Ein Klassenausflug in den Streichelzoo, bei dem Granola ein Kaninchen vor dem Regen rettet und einfach heimlich mitnimmt, bringt die Wende. Alleine kann sie dieses Geheimnis nicht hüten, aber da kommt unverhofft Hilfe von ganz unerwarteter Seite und am Ende wird doch noch alles gut…

Das Kinderbuch um die tapfere kleine Granola, die trotz aller Probleme nicht aufgibt, hat mir ausgesprochen gut gefallen. Die angesprochenen Kindersorgen werden sehr gut thematisiert, so dass sie eine gute Steilvorlage für Gespräche mit Kindern liefern können. Trotzdem hat das Buch eine positive Grundtendenz und zeigt Wege auf, wie die angesprochenen Konflikte gelöst werden können, nämlich durch ein gemeinsames Projekt.

Auch die Gestaltung ist der Illustratorin Susanne Göhlich und dem Thienemann Verlag sehr gut gelungen. Die Granola auf dem Einband hat genau das Aussehen und vor allem die Ausstrahlung, die ich mir nach der Lektüre vorgestellt habe.

Trotz meiner absolut positiven Gesamtbewertung möchte ich aber auch eine „Warnung“ aussprechen. Die „Grammatik-Intoleranz“ von Granola schlägt sich in insgesamt 55 verdrehten, verwechselten und ab und zu auch falsch geschriebenen Wörtern nieder. Meist fand ich das sehr lustig, z. B. bei „Stuhlpreis“ statt „Stuhlkreis“, „Pfreunde“ statt „Freunde“ oder „schmeicheln“ statt „streicheln“. Allerdings hätte ich auf die wenigen falsch geschriebenen Wörter wie „Kwatsch“ oder „kwer“ angesichts der jungen Leser vielleicht eher verzichtet oder sie nicht nur in einer granolisch-deutschen Wörterliste am Ende aufgeführt, sondern auch im Text gekennzeichnet. Insgesamt fällt das für mich aber so wenig ins Gewicht, dass es dem Buch keinen Abbruch tut. Wen dies allerdings stört, sollte seinen Kindern ab ca. sechs Jahren das Buch lieber vorlesen. Ansonsten können Kinder, vor allem Mädchen, aber sicher auch Jungen, die Textmenge ab der dritten Klasse alleine bewältigen.

Ich freue mich auf weitere Bände mit Granola!

Timm Milan & Susanne Göhlich: Kaninchenschmuggel oder Wie ich Mehlchen vor dem Verschimmeln rettete. Thienemann 2016
www.thienemann-esslinger.de

Alexandra Burt: Remember Mia

Viel Potential verschenkt

Ich hatte zugegebenermaßen hohe Erwartungen an diesen Thriller, aber er hat mich enttäuscht. Weder hat er gehalten, was die Leseprobe oder der Klappentext versprochen haben, noch kann ich die euphorischen Kommentare wie „ein Pageturner, der süchtig macht“ (oprah.com) oder „temporeich und packend“ (The Independent) wirklich nachvollziehen. Vielmehr war die Autorin einer an sich sehr guten Idee nicht so richtig gewachsen und hat viel Potential verschenkt. Trotz aller Kritik hätte ich das Buch aber nicht weglegen wollen, dazu war ich dann doch zu neugierig auf das Ende.

Die Ausgangslage hört sich spannend an: Die sieben Monate alte Mia ist spurlos aus ihrem Bettchen verschwunden, die von diesem Schreibaby hoffnungslos überforderte, psychisch angeschlagene Mutter Estelle Paradise wird drei Autostunden entfernt von ihrem Wohnort New York angeschossen und schwer verletzt mit ihrem Wagen in einer Schlucht gefunden. Sie kann sich an nichts erinnern. Ihr Mann, die Polizei und die Öffentlichkeit vermuten, dass sie am Verschwinden von Mia beteiligt ist. Estelle willigt ein, sich in die Klinik Creedmore zu einem Spezialisten für Gedächtniswiederherstellung zu begeben, voller Angst vor den möglichen Entdeckungen, denn allzu viel spricht für sie als Täterin.

Während ihrer Gespräche mit Dr. Ari erfährt man nicht nur, wie Estelle früh ihre Eltern und ihre neugeborene Schwester bei einem Unfall verlor und schon als Kind unter einer leichten Depression litt, er stellt auch die Diagnose einer postpartalen Depression, die durch die Nichtbehandlung in eine Psychose umgeschlagen ist. Haben Estelles beständige Überforderung durch das schreiende Kind, die fehlende Unterstützung durch ihren Mann und ihr mangelndes Selbstbewusstsein zu einer Katastrophe geführt?

Wie bereits eingangs gesagt, hat die Autorin aus dieser spannenden Ausgangssituation in meiner Wahrnehmung viel zu wenig Kapital geschlagen. Der Thriller, geschrieben aus der Ich-Perspektive Estelles, im Präsens und in einer sehr einfachen Sprache erzählt und durch und durch amerikanisch, konnte mich nicht so fesseln, wie ich das erwartet hatte. Vor allem aber konnte mich das Schicksal Estelles und Mias nur ungenügend berühren, was vor allem daran liegt, dass mir die Geschichte zu unglaubwürdig erscheint.

Mit weniger hohen Erwartungen könnte das Buch vielleicht besser unterhalten, deshalb gebe ich trotzdem knappe drei Sterne.

Alexandra Burt: Remember Mia. dtv 2016
www.dtv.de

Deon Meyer: Cobra

Jissis!

Deon Meyer wird gerne als der Henning Mankell Südafrikas bezeichnet, und obwohl ich solche Vergleiche eigentlich eher nicht mag, ist dieser nicht aus der Luft gegriffen. Wie Mankell bringt uns auch Meyer die Gegenwart seines Landes nahe und zeigt darüber hinaus auf, wie der Kolonialismus, die Befreiungskriege und die Jahre der Apartheit heute noch nachwirken. Neben seiner Fähigkeit, Charaktere lebendig werden zu lassen und atemlose Spannung über hunderte von Seiten aufrecht zu erhalten, macht dies den Hauptreiz seiner Thriller für mich aus – obwohl ich sonst eher kein Fan dieses Genres bin.

Im aktuellen Fall, dem vierten um den trockenen Alkoholiker Bennie Griessel und sein Team der Valke, wird ein Brite, der sich im Gästehaus eines Weinguts unweit von Kapstadt offensichtlich versteckt hat, entführt, seine beiden Bodyguards und ein Mitarbeiter des Guts erschossen. Alle Kugeln sind mit einer Cobra graviert, eine Spur, die schnell zu einem weltweit tätigen Auftragskiller führt. Captain Bennie Griessel und das Ermittlerteam stehen vor vielen Rätseln: Wer war der Mann, der sich Morris nannte, wirklich? Warum und von wem wurde er entführt? Während die Gruppe ermittelt, werden in Kapstadt mit den gleichen Kugeln fünf Wachleute eines Sicherheitsdienstes ermordet, nachdem sie soeben den lange gesuchten Taschendieb Tyrone Kleinbooi dingfest gemacht haben, der wiederum einfach die falsche Touristin bestohlen hatte. Und unmittelbar danach stirbt die Tochter von Tyrones Vermietern auf die gleiche Weise.

Doch die Mitarbeiter der Valke können nicht so ermitteln, wie sie das gerne möchten. Das britische Konsulat, der britische MI6 und der südafrikanische Geheimdienst verfolgen eigene Ziele in diesem Fall, in den bald Banken, das organisierte Verbrechen und höchste Regierungsmitglieder verwickelt zu sein scheinen. Deshalb heißt es für Griessel & Co. wieder einmal, ungewöhnliche Wege zu gehen. Während der kleine Taschendieb Tyrone seine Chance sieht, zum großen Player zu werden und das Medizinstudium seiner Schwester durch einen genialen Coup auf einen Schlag zu finanzieren, beginnt für die Ermittler eine atemberaubende Verfolgungsjagd.

Neben der packenden Thrillerhandlung sind es die Schilderungen der Arbeit des Teams und deren absoluter Wille, ein neues Südafrika zu schaffen, die mich so für diese Reihe einnehmen. Ganz unterschiedliche Persönlichkeiten, die man z. T. schon aus früheren Bänden kennt, arbeiten Hand in Hand und es macht mir einfach Spaß, hautnah dabei zu sein. Gleichzeitig möchte ich natürlich erfahren, ob Griessel seinen privaten Krieg gegen den Alkohol weiter erfolgreich führen kann und seine neue Beziehung zu Alexa dem Alltag standhält.

Sehr interessant zu lesen ist das kurze Porträt Deon Meyers von Katja Richter und äußerst hilfreich das Glossar, beide am Ende des Buches.

Deon Meyer: Cobra. Aufbau 2016
www.aufbau-verlag.de

Theodor Fontane: Unwiederbringlich

Eine Ehetragödie

Eines vorweg: Ich liebe die Bücher von Theodor Fontane (1819 – 1898) und auch Unwiederbringlich ist sprachlich überaus elegant, psychologisch raffiniert konzipiert und ergreifend. Trotzdem konnte mich dieser Roman nicht überzeugen, da mir der Raum, den Fontane der Tagespolitik und ihren kleinen, nur angedeuteten Episoden und Anekdoten widmet, zu groß war. Trotz Recherchen im Internet konnte ich leider sehr vieles nicht nachvollziehen, was dem zeitgenössischen Leser sicher vertraut war.

Der Eheroman spielt bei Glücksburg um 1850 bis 1860, vor Ausbruch des deutsch-dänischen Krieges, und basiert, wie so oft bei Fontane, auf einer Zeitungsnotiz. Der Titel nimmt das Ende bereits vorweg.

Die ehemals glückliche Ehe des Grafen Holk und der Gräfin Christine ist getrübt durch die Entfremdung und Unterschiedlichkeit der Charaktere: hier der lebensfrohe Holk lebensfroh, dort seine fromme, strenge und grundsatztreue Frau, was Holk mit den Worten „eine vorzügliche Frau, die mich bedrückt“ zusammenfasst.

Als Kammerherr einer dänischen Prinzessin wird Holk regelmäßig zum Dienst am Hof in Kopenhagen gerufen. Dort lernt er das jüdische Hoffräulein Ebba von Rosenberg kenne, die das genaue Gegenteil zu Christine ist: lebenslustig, umtriebig und erotisch. Holk empfindet nun umso mehr, was ihm fehlt, und begeht Ehebruch. Nach der Scheidung von seiner Frau lässt Ebba ihn jedoch abblitzen.

Jahre später kommt es zur Aussöhnung zwischen Holk und Christine und zur erneuten Hochzeit. Doch es herrscht „Frieden, kein Glück“, denn Christine kann nicht vergessen, und so kommt es unweigerlich zur Tragödie.

Fontane-Denkmal in Neuruppin. © M. Busch

Theodor Fontane: Unwiederbringlich. dtv 2012
www.dtv.de

Thomas Brussig: Wasserfarben

Geh vor die Hunde oder geh deinen Weg…

…diese Liedzeile seines Bruders Leff scheint wie für Anton gemacht: Der 18-jährige Ich-Erzähler und Schüler an einer EOS (=erweiterte Oberschule) ist zum Entsetzen seiner Umwelt noch unentschlossen über sein Studienfach. Während die Klassenkameraden klare Ziele verfolgen, muss er beim Direktor vorsprechen, weil er keine fristgemäße Bewerbung eingereicht hat. Doch da er aus „kaderpolitischen Gründen“, d. h. wegen Westverwandtschaft, kein Journalistik-Studium aufnehmen darf, hat es ihm den Boden unter den Füßen weggezogen. Der Direktor unterstellt ihm „eine gewisse Gleichgültigkeit“, zumal er sich auch nicht für einen verlängerten Dienst bei der Volksarmee beworben hat, und droht damit, einem „Luftikus“ wie ihm kein Reifezeugnis auszustellen. Obwohl Anton nach eigener Meinung großes Glück mit seinen Eltern hat, können auch sie ihm in dieser Situation nicht Ratgeber sein. Ohne Selbstbewusstsein und Ziel irrt er durch die Wochen vor dem Abitur: „Ich wollte nicht mehr mein Freund sein, weil ich dachte, ich bin einfach zu blöd für alles und stehe mir bloß im Wege und bereite mir immer bloß Ärger und Kummer.“ Dabei ist die fehlende Begeisterung für ein Studienfach nicht sein einziges Problem: Anton hält seine Sexualität für nicht normal, trauert der vergangenen Kindheit nach, stellt die Lehrer und das Schulsystem in Frage, leidet unter seiner Einsamkeit und den vielen unbeantworteten Fragen und hadert mit den politischen Verhältnissen. Erst ein einfühlsames Gespräch am Abend nach der Abiturprüfung mit seinem unangepassten Bruder öffnet ihm die Augen, denn: „Dir kann geholfen werden.“

Ich habe diesen frühen Roman von Thomas Brussig, den er vor seinen großen Erfolgen Helden wie wir und Sonnenallee unter einem Pseudonym veröffentlicht hat, mit gemischten Gefühlen gelesen und als Wessi habe ich die ein oder andere Passage sicher auch nicht voll erfasst. Einerseits haben mir der lässige, oft humorvolle Ton und die Darstellung der Selbstzweifel Antons gut gefallen, andererseits empfand ich die Lektüre vor allem im Mittelteil als streckenweise recht zäh.

Die 3,5 Sterne, die ich dafür vergebe, runde ich aufgrund der comedyreifen Szene mit der Geburtstagsfeier der Mutter auf vier Sterne auf.

Thomas Brussig: Wasserfarben. Aufbau 2016
www.aufbau-verlag.de

Annette Langen & Timo Grubing: Im Bann des Tornados

Ein aufregender Sommer in Oklahoma

Die Buchreihe Ich schenk dir eine Geschichte, deren Bände seit 1997 alljährlich zum Welttag des Buches am 23. April an inzwischen Millionen von Kindern verschenkt wurden, verbunden meist mit einem Besuch in der örtlichen Buchhandlung und unterstützt u. a. vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels und der Stiftung Lesen, hat in den letzten Jahren eine deutliche Verbesserung erfahren. Die inzwischen durchgehenden Geschichten sind deutlich interessanter als früher und in diesem Jahr wurde der Text zusätzlich auf 32 Seiten als Graphic Novel umgesetzt, um auch Comicfans und sprachschwächere (Migranten-)Kinder zu erreichen. Daneben lädt ein literarisches Quiz zum miträtseln ein.

Die Ich-Erzählung des elfjährigen Noah aus Deutschland, der zu seinem Entsetzen die gesamten Sommerferien mit seinen Eltern in einem geerbten Ferienhaus an einem abgelegenen See in Oklahoma verbringen soll, wird spannend und kindgerecht erzählt. Ist Noah zu Beginn noch geschockt von der strom- und internetlosen Hütte, findet er doch immer mehr Gefallen an der Natur, freundet sich mit der treckerfahrenden Emma an und ist glücklich über den Findelhund Lucky . Nach den dramatischen Erlebnissen während eines plötzlichen Tornados, bei dem er sich als besonnener, unerschrockener Junge erweist, fühlt er sich am Eufaula-See sogar so heimisch, dass er seine Eltern zum dauerhaften Bleiben überredet.

Die Geschichte ist für Drittklässler geschrieben und soll möglichst viele Kinder dieses Alters ansprechen, Jungen wie Mädchen, leseschwache wie lesestarke Kinder. Das ist einerseits löblich, andererseits hat mich der extrem einfache Satzbau, der deshalb sicher bewusst gewählt wurde, doch sehr gestört. Zum Vorlesen würde ich das Buch daher nicht auswählen, es sei denn für Kinder, die tatsächlich große Probleme mit der deutschen Sprache haben. Die Sätze sind äußerst kurz und bestehen meist nur aus einem Hauptsatz, das Vokabular ist wenig abwechslungsreich. Deshalb ziehe ich einen Stern ab, auch wenn mir der Grund für diesen Stil einleuchtet.

Annette Langen & Timo Grubing: Im Bann des Tornados. cbj 2016
www.randomhouse.de

Remy Eyssen: Schwarzer Lavendel

Mörderische Provence

Es ist die schlimmste Mordserie im südfranzösischen Département Var in der Région Provence-Alpes-Côte d’Azur: Ein unbekannter Täter entführt junge Frauen und mumifiziert sie fachmännisch. Wer kann so krank sein?

Dabei fängt alles mit einem Vermisstenfall an, wie es sie zuhauf gibt. Während der Weinlese wird eine junge Deutsche von ihrer Zwillingsschwester als vermisst gemeldet. Capitaine Isabelle Morell, stellvertretende Polizeichefin von Le Lavandou, die sich wie die gesamte Gendarmerie nationale bereits im Nachsaison-Modus befindet, vertröstet die junge Frau damit, dass die meisten Vermissten nach kurzer Zeit putzmunter wieder auftauchen. Doch dann wird die mumifizierte Leiche einer seit vier Jahren vermissten jungen Frau gefunden, ausgerechnet als der Médecin légiste, der Gerichtsmediziner am Krankenhaus Saint-Sulpice und Untermieter von Isabelle Morell, der Deutsche Dr. Leon Ritter, sein neues Haus in den Weinbergen in Augenschein nimmt. Ritter ist von diesem Fall sofort gleichermaßen beruflich fasziniert und menschlich abgestoßen und engagiert sich mehr, als es dem Chef der Polizeistation lieb ist. Auf diese Weise findet er eine dritte Frauenleiche, die schon jahrelang im Keller der Universität von Aix-en-Provence aufbewahrt wird. Verdächtige sind schnell ermittelt, aber wer ist tatsächlich der gesuchte Serienmörder?

Obwohl dies nach Tödlicher Lavendel schon der zweite Fall der Reihe um Ritter und Morell ist, fiel mir der Einstieg ohne Vorkenntnisse nicht schwer. Auf 460 Seiten bleibt zum Glück genug Zeit für Rückblenden und ein bisschen Privatleben und die Handlung um Isabelles pubertierende Tochter, die Trauer von Leon um seine vor fünf Jahren bei einem Flugzeugunglück in Thailand ums Leben gekommene Frau, die Geschichte um das alte Haus im Weinberg, das er von seiner Tante überschrieben bekommt, die Boulespieler auf dem Dorfplatz und die Annäherung der beiden Protagonisten ist neben der spannenden Ermittlungsarbeit sehr unterhaltsam zu lesen. Darüberhinaus kommt mit dem nicht in übertriebenem Maße eingebundenen Lokalkolorit trotz der schlimmen Ereignisse so etwas wie Urlaubsstimmung auf.

Französische Regionalkrimis deutscher Autoren gibt es inzwischen in großer Zahl und viele muss man nicht gelesen haben. Bei diesem Provence-Krimi ist es anders, obwohl ich wegen der wirklich sehr einfachen Sprache, die gut den ein oder anderen Nebensatz vertragen würde, zuerst einen Stern abziehen wollte. Nachdem mich der Krimi aber überdurchschnittlich gut unterhalten hat und das Ende gleichermaßen überraschend wie überzeugend war, muss ich einfach trotzdem fünf Sterne vergeben. Und mit einem Glas südfranzösischen Rosé, Oliven, Schafskäse und Chansons von Bécaud, Brel, Trenet oder Montand ist das Ambiente für diesen Krimi perfekt.

Remy Eyssen: Schwarzer Lavendel. Ullstein 2016
www.ullsteinbuchverlage.de

Jamie Ford: Die chinesische Sängerin

Mutter und Sohn

Vor einigen Jahren war Keiko, der Debütroman von Jamie Ford, ein absolutes Highlight für mich. Lange musste ich auf seinen zweites Buch warten, das mich aber auch beim zweiten Lesen nicht so überzeugen konnte wie sein erster Roman.

In Die chinesische Sängerin entführt Jamie Ford seine Leser in das Seattle der 1920er- und 30er-Jahre. William Eng, 12-jähriger Amerikaner chinesischer Abstammung, lebt dort 1934 im Waisenhaus Sacred Hearts bei katholischen Nonnen. Seinen Vater kennt er nicht, seine Mutter, an die er nur gute Erinnerungen hat, soll tot sein.

Die Nonnen sind hart zu den ihnen anvertrauten Kindern. Nur einmal pro Jahr erzählen sie ihnen Bruchstücke ihrer Familiengeschichte. Alle Kinder im Heim haben schlimme Schicksale durchlitten, viele sind keine Waisen und warten stündlich auf ihre Abholung durch die Eltern. Williams Halt sind seine beiden Freunde, die blinde Charlotte und der Indianerjunge Sunny.

Einmal im Jahr wird der gemeinsame Geburtstag der Kinder mit einem Ausflug ins Kino gefeiert. Bei seinem fünften Kinobesuch erkennt William auf der Kinoleinwand plötzlich seine Mutter: Sie ist der Revuestar Willow Frost und wird demnächst in Seattle gastieren. Mit seiner Freundin Charlotte zusammen reißt William aus, um sie wiederzusehen. Doch das Treffen wird ganz anders als erwartet und schließlich erzählt sie ihm ihre Lebensgeschichte der Jahre 1921 bis 1929, eine von Armut, Rassendiskrimierung, Unterdrückung, Arbeitslosigkeit und Rezession geprägte Epoche, zugleich aber die Zeit, in der das Filmwesen seinen großen Aufstieg nahm…

Der Roman ist leicht und flüssig zu lesen, die beiden Zeitebenen 1934 und 1921 bis 1929 sind durch die Kapitelüberschriften gut zu trennen. Das emotional geschilderte Schicksal von William und seiner Mutter hat mich bewegt, war mir aber teilweise auch zu amerikanisch-melodramatisch.

Jamie Ford: Die chinesische Sängerin. Berlin Verlag 2015
www.piper.de/berlin-verlag