Ingrid Noll: Hab und Gier

Wo unrecht Gut doch gedeiht…

Alles beginnt mit einer Einladung zum Gabelfrühstück: Wolfram, pensionierter Bibliothekar und Witwer, lädt überraschend seine Ex-Kollegin Karla, eine biedere, allein und in bescheidenen Verhältnissen lebende Rentnerin, ein. Erstaunt und etwas misstrauisch, da sie Avancen befürchtet, nimmt Karla an und wird von Wolframs tatsächlichen Absichten völlig überrascht:

Der kinderlose, vermögende und todkranke Mann bietet ihr ein Viertel seines Vermögens, wenn sie seine Beerdigung organisiert und sein Grab pflegt und sogar die Hälfte, wenn sie sich bis zu seinem Tod um ihn kümmert. Und dann gibt es auch noch die Möglichkeit, Alleinerbin zu werden – unter für Karla zunächst unglaublichen Bedingungen… Doch es locken eine Weinheimer Villa mit Garten, ein Mietshaus und ein Vermögen in unbekannter Höhe.

Wer wäre da nicht zu moralischen Zugeständnissen bereit? Karlas eingeweihte Freundin Judith, die ihrerseits ihren Ex-Freund Cord ins Vertrauen zieht, jedenfalls schon. Und so gewinnt die Handlung schnell an Fahrt, nimmt manch überraschende Wendung und lässt die Pläne des Trios zu Selbstläufern werden.

Ein teuflischer, rabenschwarz-humoriger Krimi, mit dem Ingrid Noll zu alter Stärke zurückgefunden hat und wieder einmal beweist, dass jeder zum Mörder werden kann, wenn man ihn nur genug in Versuchung führt.

Ingrid Noll: Hab und Gier. Diogenes 2014
www.diogenes.ch

Cornelia Funke: Herr der Diebe

Spannung und Unterhaltung auf höchstem Niveau

Die Geschichte um die Waisenbrüder Prosper und Bo, die vor ihrer ungeliebten Tante nach Venedig fliehen, sich der Kinderbande um den geheimnisvollen Herrn der Diebe anschließen, einen Privatdetektiv auf ihre Seite ziehen und in das Abenteuer um das magische Karussell der Barmherzigen Schwestern verstrickt werden, wird von Rainer Strecker so nuancenreich vorgelesen, dass die 234 Minuten der sieben CDs wie im Fluge vergehen. Die hervorragend ausgewählte, von der Klassik inspirierte Musik von Jens Kronbügel verstärkt den vom Sprecher vermittelten Eindruck, selber im Gewirr der venezianischen Plätze, Gassen und Kanälen mit dabei zu sein.

Bei uns hat das erste Hören der CDs eine Reise nach Venedig nach sich gezogen und seither haben wir es immer wieder mit gleichbleibender Freude gehört. Spannung und Unterhaltung auf höchstem Niveau für alle ab ca. sieben Jahren sind garantiert, egal ob man das Buch bereits kennt oder nicht!

Cornelia Funke: Herr der Diebe. Goya libre 2002
www.jumboverlag.de

Carlene Thompson: Vergiss, wenn du kannst

Psychothriller mit viel Atmosphäre

Carlene Thompson, 1952 in den USA geboren, studierte englische Literatur und arbeitet als freie Schriftstellerin. In ihren Psychothrillern stehen charakterstarke Frauen im Vordergrund, deren heile Welt durch eine düstere, nur scheinbar überwundene Vergangenheit zerbricht.

In Vergiss, wenn du kannst ist Natalie, eine junge Tierärztin, soeben erst in ihr idyllisches Heimatstädtchen am Eriesee zurückgekehrt, um ihren Liebeskummer auszukurieren, als ihre Jugendfreundin Tamara auf brutale Weise ermordet wird. Sie selber wird telefonisch mit Tamaras Stimme bedroht. Zunächst versucht sie, die Gefahr zu ignorieren, doch dann geschehen weitere Morde in Tamaras nächstem Umfeld. Sheriff Nick Meredith, der nach dem gewaltsamen Tod seiner Frau vor kurzem aus New York zugezogen ist, um seine Tochter in einer gewaltfreien Umgebung aufwachsen zu lassen, stößt auf ein eng verwobenes Beziehungsgewirr. Plötzlich scheint jeder als Täter in Frage zu kommen – oder als nächstes Opfer?

Ein spannender, sehr atmosphärischer Psychothriller.

Carlene Thompson: Vergiss, wenn du kannst. Fischer 2005
www.fischerverlage.de

Michael Köhlmeier: Das Mädchen mit dem Fingerhut

Bittere Kinderschicksale

Das Mädchen mit dem Fingerhut macht bereits die Zuordnung zu einer literarischen Gattung schwer: ein kurzer Roman, eine Novelle, ein Märchen?

In Michael Köhlmeier neuestem Werk begleiten wir ein sechsjähriges, offensichtlich elternloses Mädchen, vielleicht ein unbegleitetes Flüchtlingskind, durch irgendeine Stadt in Westeuropa, vielleicht sogar zwei verschiedene. Zu Beginn hat es noch einen „Onkel“, der es jeden Morgen auf dem Markt absetzt und abends wieder abholt, doch eines Tages ist er verschwunden. Das Mädchen, das die Landessprache nicht spricht und so zur Sprachlosigkeit verurteilt ist, irrt durch die Stadt, wird in ein Heim gebracht und büxt von dort mit zwei älteren Jungen aus, von denen immerhin einer ihre Sprache spricht. Die Odyssee der drei Kinder ist ein nackter Kampf ums Überleben, gezeichnet von Hunger, Kälte, Krankheit, Regen, Schnee und Armut – direkt unter den Augen einer wohlhabenden Großstadtbevölkerung. Doch sobald die Kinder den Kopf gesenkt halten, sieht man durch sie hindurch. Dabei hat die Kleine, die nach einiger Zeit behauptet, Yiza zu heißen, noch einen Vorteil durch ihre Kindlichkeit und das hübsche, niedliche Aussehen. Man schenkt ihr einen Mantel, Handschuhe, eine Mütze, doch tragen das so ungleich verteilte Mitleid und die Hilfsbereitschaft stets Anzeichen von Egoismus des Gebenden und sind unweigerlich verbunden mit dem Verlust ihrer Freiheit.

Der auktoriale Erzähler bedient sich, passend zur Sprachlosigkeit der Kinder, eines einfachen Satzbaus, doch ist auch in dieser Beschränkung die Brillanz des Autors spürbar.

Die bittere Geschichte über Kinderschicksale ohne Perspektive hält uns einen Spiegel vor, ruft zum genaueren Hinschauen auf und lässt mich doch auch ratlos zurück.

Michael Köhlmeier: Das Mädchen mit dem Fingerhut. Hanser 2016
www.hanser-literaturverlage.de

Uwe Timm & Axel Scheffler: Die Zugmaus

Ein Mäuserich reist durch Europa

Uwe Timm gehört für mich mit seinen Romanen für Erwachsene zu den größten lebenden deutschsprachigen Autoren. Sein Kinderbuch Die Zugmaus, erstmals erschienen 1981 und inzwischen schon ein Kinderbuchklassiker, habe ich erst jetzt kennengelernt, da meine Tochter es als Referendarin im Rahmen einer Projektprüfung in einer dritten Grundschulklasse mit den Schülerinnen und Schülern gelesen hat. Dazu hat sie auch das im BVK Verlag erschienene, sehr empfehlenswerte Zusatzmaterial Literaturprojekt zu „Die Zugmaus“ von Ulrike Itze und Jessica Steggemann für die fächerübergreifende Unterrichtsgestaltung verwendet sowie die ausgezeichnete Hörspielversion.

Die idyllische Kindheit des kleinen Hausmaus-Jungen Stefan, wegen seiner ungewöhnlichen früheren Nagegewohnheiten „Mausebiber“ genannt, endet jäh, als das alte Haus in der Münchner Paradiesstraße einem Hochhausneubau weichen muss. In der Folge ist die Familie mehr oder weniger heimatlos.

Bei seinen Ausflügen zum Bahnhof verschlägt es Stefan eines Tages in einen Zug und fortan reist der kleine Mäuserich durch Europa. Er erfährt, dass das Käseparadies Schweiz keineswegs so mäusefreundlich ist wie gedacht, findet dort aber in Wilhelm einen Reisegefährten mit einem drolligen Dialekt. Im Gourmet-Paradies Paris treffen sie auf den Artgenossen Pierre, lernen aber, dass das gute Essen mit der ständigen Bedrohungen durch die vielen Katzen teuer erkauft werden muss, und landen schließlich bei einem Zirkus, der durch England reist. Als das Heimweh zu groß wird, machen sich die beiden auf nach München, wo die Mäusefamilie sie mit viel Hallo und großer Neugier willkommen heißt.

Ein von Axel Scheffler mit Schwarz-Weiß-Zeichnungen wunderbar illustriertes Kinderbuch, witzig, emotional, informativ, fantasievoll und absolut empfehlenswert!

Uwe Timm & Axel Scheffler: Die Zugmaus. dtv 2003
www.dtv.de

A. B. Saddlewick: Super Sarah

Wo Superhelden ihr Handwerk lernen

So super, wie der Buchtitel Super Sarah es suggeriert, ist Sarah zunächst eigentlich nicht. Sie ist ein Tollpatsch wie er im Buche steht, das schwarze Schaf der supertalentierten Familie Adams, und fliegt deshalb eher früher als später aus jeder AG. Dabei ist sie ein liebenswertes Mädchen, das einfach nur gemocht werden will und sich die allergrößte Mühe gibt, um Missgeschicke zu vermeiden.

Nach einem weiteren Beinahe-Unglück in der Turmsprung-AG, das zu aller Erstaunen glimpflich abgeht, erhält sie eine mysteriöse persönliche Einladung zur AG Fliegen lernen, die sich als eine Ausbildungsstätte für Superhelden zur Bekämpfung des Bösen entpuppt. Sarah ist fest davon überzeugt, dass sie zu Unrecht eingeladen wurde, und auch die Test ergeben bei ihr zunächst keine Superbegabung. Doch als sie sich plötzlich dem Superschurken Tsunami gegenübersieht und eine Katastrophe verhindern muss, kann sie endlich doch zeigen, was in ihr steckt…

Der Anfang dieses Kinderbuchs hat mir ausgesprochen gut gefallen, im Mittelteil mit der Suche nach Sarahs Begabung empfand ich es dann als etwas schwerfällig. Dagegen war aber der Schluss wieder spannend. Die Protagonistin Sarah ist ein Mädchen mit einer sympathischen Ausstrahlung, die Handlung sehr fantasievoll und die Auszüge aus dem „Handbuch Fliegen lernen“, die über jedem der 13 Kapitel stehen, sind interessant und anregend. Bei deren Verständnis muss man den kleinen Leserinnen und vielleicht auch Lesern ab ca. acht Jahren allerdings etwas behilflich sein.

A. B. Saddlewick: Super Sarah. Kerle 2016
www.herder.de/verlag-kerle

Simone de Beauvoir: Sie kam und blieb

Ménage à trois

Simone de Beauvoir, 1908 in eine gutbürgerliche Familie hineingeboren, war eine der ersten Frauen, die an der Sorbonne Philosophie studierten. Während des Studiums lernte sie Jean-Paul Sartre kennen, dessen lebenslange Begleiterin sie wurde. Die  Grundregeln ihrer Partnerschaft waren sexuelle Freiheit nach allen Richtungen, keine Ehe, getrennte Wohnungen und keine hausfraulichen Pflichten.

Ihre Debütroman, Sie kam und blieb, aus dem Jahr 1941 erschien erstmals 1943 im von der deutschen Wehrmacht besetzten Paris. Er ist genau in dem Milieu der Pariser Bohème angesiedelt, in dem Beauvoir und Sartre sich damals bewegten.

Im Mittelpunkt des Romans stehen der Schauspieler und Regisseur Pierre Labousse und die Schriftstellerin Françoise Miquel, die eine Beziehung à la Beauvoir und Sartre führen. Ihr auf volles Vertrauen, Ehrlichkeit, sexuelle Freiheit und die völlige Abszenz von Eifersucht trotz Pierres Affären gegründetes Verhältnis gerät ins Wanken, als Françoise die junge Xavière Pages aus Rouen bei sich aufnimmt. Aus dem Duo wird ein Trio. Doch Xavière akzeptiert die Spielregeln der beiden anderen nicht und spielt sie gegeneinander aus. Sie reizt Pierres Jagdinstinkt und seine Eitelkeit, ist eifersüchtig und drängt Francoise in die Rolle der Rivalin. Als Françoise ihre Eifersucht begreift, sieht sie ihre Existenz gescheitert und es kommt zur Katastrophe.

Der Roman besteht zum großen Teil aus Dialogen, fast wie in einem Drama. Bei mir hat er Wut ausgelöst, manchmal auf Xavière mit ihrem Egoismus, manchmal auf Pierre und Françoise, die Xavières Spiel viel zu lange nicht durchschauen und zu beherrscht reagieren.

Simone de Beauvoir: Sie kam und blieb. Rowohlt 2004
www.rowohlt.de

Adriana Lisboa: Der Sommer der Schmetterlinge

Und niemand sagte auch nur ein einziges Wort

Der Roman Der Sommer der Schmetterling der 1970 in Brasilien geborenen und seit 2007 in den USA lebenden Autorin Adriana Lisboa stammt bereits aus dem Jahr 2001 und wurde 2003 mit dem Prémio José Saramago, einem bedeutenden portugiesischen Literaturpreis ausgezeichnet. Anlässlich des Gastlandauftritts von Brasilien auf der Frankfurter Buchmesse 2013 wurde er ins Deutsche übersetzt.

Wer hinter dem so leicht daherkommenden Titel einen beschwingten Sommerroman erwartet, wird sich getäuscht sehen. Der Sommer der Schmetterlinge ist eine tieftraurige, tragische und bewegende Familiengeschichte, die sich nicht oberflächlich lesen lässt, dafür aber umso länger nachhallt.

In ihrem Elternhaus, einer Fazenda im Landesinneren des Bundesstaates Rio de Janeiro, in dem sie nach dem Tod ihrer Eltern und ihrer Scheidung alleine lebt, erwartet die kanpp 50-jährige Clarice ihre vier Jahre jüngere Schwester Maria Inês, die sie lange nicht gesehen hat. Auch Tomás, der Maler und ehemalige Geliebte von Maria Inês, der in einem Nachbargebäude lebt, wartet auf sie, die Frau, die er seit 30 Jahren liebt.

In mosaikhaft geschriebenen Rückblenden, die sich erst nach und nach zu einem Gesamtbild zusammensetzen, erzählt Adriana Lisboa von der glücklichen Kindheit der beiden so verschiedenen Schwestern, der folgsamen Clarice und der aufbegehrenden Maria Inês, die schlagartig endete, als Clarice 13 Jahre alt war. Zu spät schickte die Mutter Clarice zwei Jahre später zu einer Großtante nach Rio de Janeiro; das „gründliche, wahre, endgültige Vergessen war für beide Schwestern unmöglich und die Zukunft vergiftet.

Adriana Lisboa lüftet das ungeheuerliche Geschehen nur sehr langsam und lange Zeit habe ich mich angesichts der wunderbaren Naturbeschreibungen und Landschaftsbilder förmlich gegen das Begreifen gesträubt. Als es nicht mehr zu verdrängen war, hat mich die Wucht dieses in so leisen Tönen geschilderten Familiendramas umso mehr betroffen gemacht und ich bin sehr dankbar, dass mit dem Schlusskapitel ein zarter Hoffnungsschimmer zu erahnen ist.

Ein wahrlich gekonnt komponierter, poetisch geschriebener Roman, der ein schwieriges Thema leise und eindringlich aufnimmt. Unbedingt lesen!

Adriana Lisboa: Der Sommer der Schmetterlinge. Aufbau 2016
www.aufbau-verlag.de

Gertraud Klemm: Muttergehäuse

Alternative Familiengenese

Dem Nachwort ist zu entnehmen, dass dem Roman ein Text aus dem Jahr 2010 unter dem Titel Mutter auf Papier zugrunde liegt, den die Autorin nun umgearbeitet hat, damit „es jenes Buch über alternative Elternschaft ist, das ich während der Zeit unserer Familiengenese so gerne gelesen hätte“.

Der Wiener Verlag Kremayr & Scheriau, dem ein großes Lob für die liebevolle und aufwändige Gestaltung des Buches bis in kleine Details gebührt, belegt den Roman im Verzeichnis lieferbarer Bücher mit den Schlagwörtern „Adoption“, „Kinderlosigkeit“ und „Bürokratie“. Gertraud Klemm hat die drei Teile der Geschichte mit den Überschriften „Mutter“, „Papier“ und „Kind“ versehen.

In „Mutter“ habe ich sehr ergriffen die einzelnen Abschnitte des Abschiednehmens vom eigenen Kind verfolgt. Immer wieder die Hoffnung, die Option, und dann wieder Enttäuschung. Da wird sogar der eigene Garten, in dem nichts so recht gedeihen will, zum Zeichen des Versagens: das Muttergehäuse bleibt leer. Nur drum herum scheint alles fruchtbar: „… im Zug, im Büro, in der Mittagspause, beim Nachmittagskaffee, zwischendurch bei einer wildfremden Person, die im Park telefoniert, am Abend, am Wochenende, in den Zeitungen, nirgends ist man sicher“. Die Zeit des Wartens ist geprägt von Arzttermine, der Belastung für die Beziehung, den Selbstvorwürfe und -zweifeln, dem Gefühl des Versagens und immer wieder gutgemeinten Ratschläge von überall her.

Im zweiten Teil, „Papier“, wird das Versagen endgültig nach außen getragen. Mit dem Antrag auf Adoption beginnt ein neuer Abschnitt im Ringen um ein Kind. Und wieder die ungebetenen Kommentare: „Warum gerade ein Afrikaner?“, „Ihr seid aber mutig!“, „Und was kostet das?“ Die Wut, die sich im ersten Teil noch vor allem gegen sich selbst und den sich einer Schwangerschaft verweigernden Körper gerichtet hat, beginnt sich jetzt gegen eine indiskrete Bürokratie und überbordende Anteilnahme zu wenden. Gleichzeitig entsteht durch die Treffen mit anderen adoptionswilligen Paaren zum ersten Mal ein Gefühl von Gemeinschaft.

Und dann ist es soweit: Nach einer gefühlten Ewigkeit darf der knapp fünf Monate alte Sohn in einem südafrikanischen Waisenhaus abgeholt werden. Dieser dritte Teil hat mich am meisten überrascht, denn es setzt keineswegs schlagartig die große Freude und Erleichterung ein, die ich mir ausgemalt hatte. Es überwiegt die Unsicherheit im Umgang mit dem Kind, aber vor allem die Wut auf eine Umwelt, die Adoptiveltern nicht als gleichwertige Eltern anerkennt. Der Wunsch nach einem zweiten Kind löst ein noch größeres bürokratisches Beben als beim ersten aus.

Das Buch endet versöhnlich und hoffnungsvoll mit einem der vielen, auf elegant gestalteten Seiten zwischengeschobenen Träume. Für mich ist es ein ganz starkes Stück Literatur, ein Roman, bei dem Form und Inhalt ineinander verschmelzen und jedes Wort sorgsam ausgewählt und an den richtigen Platz gesetzt wurde. Es lässt mich als Leserin tief ergriffen zurück und in der Hoffnung, dass ich einer Bekannten, die in zwei Wochen ein Kind in Thailand abholt, so unbefangen entgegentreten kann, wie die Autorin sich das gewünscht hätte, und zum Ausdruck bringen kann, wie ehrlich ich mich über das Kind freue.

Gertraud Klemm: Muttergehäuse. Kremayr & Scheriau 2016
www.kremayr-scheriau.at

Milena Busquets: Auch das wird vergehen

Sex als Mittel der Überwindung von Trauer

In der Literatur gibt es unzählige Versuche, den Tod der Eltern zu verarbeiten: John von Düffel (Hotel Angst) reist nach dem Tod des Vaters nach Bordighera, wo die Familie ihre Sommerurlaube verbracht und der Vater seinen Lebenstraum gelebt hat, Helen Macdonald richtet in H wie Habicht im Gedenken an den verstorbenen Vater ein Habichtweibchen ab, Simone de Beauvoir reflektiert in Ein sanfter Tod das schwierige Verhältnis zur verstorbenen Mutter und Milena Busquets versucht, ebenfalls autobiografisch inspiriert, ihre ca. 40-jährige Romanheldin Blanca den Tod der Mutter im Sex vergessen zu lassen („Sex gefällt mir, weil er mich im Hier und Jetzt festzurrt.“)

Der kurze Roman beginnt und endet auf dem Friedhof von Cadaqués, einem katalanischen Ferienort an der Costa Brava, gut zwei Autostunden von Barcelona entfernt. Das Begräbnis zu Beginn und der erste Besuch am (geschlossenen) Friedhof rahmen die Handlung ein. Dazwischen liegen wilde Tage, die Blanca zusammen mit ihren beiden Söhnen, den beiden verflossenen Ehemännern, dem aktuellen Liebhaber und Freunden in ihrem Sommerhaus verbringt. Partys, Bootsausflüge, Drogen, Alkohol und Sex bestimmen die Tage. Die Ich-Erzählerin Blanca, von Trauer und Melancholie durchdrungen, begegnet in ihren Gedanken immer wieder der verstorbenen Mutter, reflektiert das nicht unproblematische gemeinsame Leben, die Krankheit und den Tod.

Doch trauert sie wirklich nur um die Mutter? Mir kamen ihre Orgien der Selbstbemitleidung und Jammerei („Manchmal fühle ich mich, als ob ich alles verloren hätte“) eher so vor, als ob sie um sich selbst trauert, den Verlust der Jugend. Wer sich wie sie nur über ihre Männer, ihre Affären und über ihr Aussehen definiert, den muss der Gedanke an das Alter und die Vergänglichkeit besonders schrecken.

Die Beurteilung dieses Romans fällt mir ausgesprochen schwer. Einerseits kann Milena Busquets wunderbar atmosphärisch und virtuos schreiben. Ihre Sätze sind eine Liebeserklärung an die Sprache und klingen nach. Auch mir kam immer wieder der Vergleich mit Françoise Sagan in den Sinn. Andererseits konnte mich die Protagonistin in ihrer Selbstbezogenheit und Oberflächlichkeit zu keiner Zeit überzeugen. Wann denkt sie jemals an andere, ihre Kinder zum Beispiel, die die Großmutter verloren haben? Welches Männer- und Frauenbild hat diese Frau, die scheinbar ohne arbeiten zu müssen und mit einem Kindermädchen ausgestattet, nur dem eigenen Vergnügen frönt? Hat die Generation der heute Vierzigjährigen wirklich so wenig aus der Emanzipationsbewegung mitgenommen?

Beim heftigen Schwanken zwischen drei und vier Sternen entscheide ich mich für vier, weil mich der Roman trotz aller Kritik gut unterhalten hat und ich schließlich nicht über die Protagonistin zu urteilen habe.

Milena Busquets: Auch das wird vergehen. Suhrkamp 2016
www.suhrkamp.de