Friedrich Dürrenmatt: Das Versprechen

Ein Requiem auf den Kriminalroman

Der Mord an der kleinen Gritli Moser und der unerbittliche Ermittler Dr. Matthäi stehen im Mittelpunkt von Dürrenmatts Kriminalroman Das Versprechen. Doch aus diesen Zutaten macht der Schweizer Autor keinen traditionellen Krimi sondern – so der Untertitel – ein „Requiem auf den Kriminalroman“.

Kriminalkommissär Matthäi steht vor einem großen Karrieresprung, als aus Mägendorf bei Zürich der Mord an einem kleinen Mädchen gemeldet wird. Aus Mitleid verspricht er den Eltern, die ihr einziges Kind verloren haben, „bei seiner Seeligkeit“ nicht zu rasten, bis er den Mörder gefunden hat. Er glaubt nicht an die Täterschaft des Hausierers von Gunten, den die Kollegen unter Verdacht haben. Doch während Matthäi sich immer mehr in den Gedanken verrennt, mit Vernunft und Logik den Fall lösen zu können, und dabei allmählich in den Wahnsinn treibt, lässt Dürrenmatt den Zufall über alles kriminalistische Können triumphieren.

Friedrich Dürrenmatt hat 1958 als Auftragsarbeit das Drehbuch zum Film „Es geschah am hellichten Tag“ verfasst, der mit Heinz Rühmann und Gerd Fröbe gedreht wurden. Anschließend hat er den Stoff umgearbeitet zum Roman Das Versprechen, der vielschichtiger und faszinierender als der Film ist, und dessen Schluss sich deutlich unterscheidet.

Hans Korte liest diesen meisterhaft geschriebenen Roman nicht nur mit seinem sonoren Bass, er lebt und spielt ihn so beeindruckend, dass das Hören mir noch mehr unter die Haut gegangen ist als das Lesen.

Friedrich Dürrenmatt: Das Versprechen. Diogenes Hörbuch 2006
www.diogenes.ch

Ingmar Bergman, Ingrid Bergman & Maria von Rosen: Der weiße Schmerz

„Es zeigt sich, dass es keine selbstverständlichen Gefühle gibt.“  (H. Mankell)

Dies ist ein Buch der Trauer.

Ingmar Bergman, der große schwedische Filmregisseur, und Ingrid Bergman, nicht zu verwechseln mit der gleichnamigen Schauspielerin, lernten sich 1957 kennen, als beide verheiratet waren. 1970 heirateten sie. Ingrids Kinder und Maria von Rosen, die gemeinsame Tochter von Ingmar und Ingrid, blieben bei ihrem geschiedenen Mann. Maria erfuhr erst im Alter von 22 Jahren, wer ihr wahrer Vater ist.

Im Oktober 1994 erkrankte Ingrid an Magenkrebs. Sie starb im Mai 1995.

Das Buch ist Teil der Trauerarbeit und stellt die drei Tagebücher von Ingrid, Ingmar und Maria aus dieser Zeit nahezu unkommentiert nebeneinander. Dabei kommt Banales genauso zur Sprache wie Bewegendes und obwohl die Inhalte sehr persönlich sind, wird es nie voyeuristisch. Allen drei ist das Bemühen um einen geregelten Alltag anzumerken. Ingmar und Maria leiden darunter, die Frau und Mutter nicht ausreichend unterstützen zu können, Ingrid macht sich Sorgen um beide.

Im schwedischen Original trägt das Buch den weniger marktschreierischen und passenderen Titel „Drei Tagebücher“. Es ist ein bewegendes Dokument, das zeigt, wie Beziehungen sich angesichts extremer Bedrohungen verändern. Henning Mankell hat dazu ein sehr einfühlsames Nachwort verfasst.

Friedhof der Kirche von Fårö: Das Grab von Ingrid und Ingmar Bergmann. © M. Busch

Ingmar und Ingrid sind auf dem kleinen Friedhof der Insel Fårö in einem schlichten und gerade deswegen beeindruckenden Grab beigesetzt. Ein Besuch dort lohnt sich ebenso wie die Lektüre dieses Buches.

 

 

Ingmar Bergman, Ingrid Bergman & Maria von Rosen: Der weiße Schmerz. Hanser 2007
www.hanser-literaturverlage.de

Peter Mayle: Mein Jahr in der Provence

Szenen aus dem provenzalischen Dorfleben

Der Engländer Peter Mayle ist vor einigen Jahren aus dem wolkenverhangenen Großbritannien in die sonnige Provence, ins Lubéron, geflohen.

Mit liebevollem Humor und Sprachwitz schildert er seine alltäglichen Erlebnisse mit den Franzosen im Allgemeinen und den französischen Handwerkern im Besonderen, die Tücken der französischen Sprache, das Leben in den Dörfern sowie Natur und Küche im Wandel der Jahreszeiten.

Empfehlen kann ich das Buch und auch den zweiten Band Toujours Provence allen Provencereisenden, da sie viele Anregungen abseits der Touristenströme beinhalten, aber auch allen Couchpotatos mit Sehnsucht nach Sonne, Lavendelduft und Trüffel.

Eine äußerst vergnügliche Lektüre, auch beim wiederholten Lesen!

Peter Mayle: Mein Jahr in der Provence. Knaur 2014
www.droemer-knaur.de

Sarah Crossan: Eins

Normalerweise ganz glücklich zusammen

Grace und Tippi sind nicht einfach nur eineiige Zwillinge, sie sind von der Hüfte abwärts zusammengewachsen und teilen sich u. a. ein paar Beine, den hinteren Teil des Darms und die Geschlechtsorgane. Doch die Wahrnehmung durch ihre Umgebung ist eine gänzlich andere als ihre
Selbstwahrnehmung. Während die Menschen um sie herum sie bemitleiden, verspüren Grace und Tippi nicht den Wunsch, getrennt zu sein („Es ist wirklich nicht so schlimm. So ist es eben immer schon gewesen. Wir kennen es nicht anders. Und ehrlich gesagt, sind wir normalerweise ganz glücklich zusammen.“). Wohl aber möchten sie als zwei verschiedene Individuen wahrgenommen werden, denn trotz ihrer äußerlichen Ähnlichkeit sind sie zwei verschiedene Menschen mit recht unterschiedlichen Charakteren, die jedoch im völligen Gleichklang leben (müssen). Ist eine krank, liegt die andere mit im Bett, geht eine zum Therapeuten, setzt die andere solange Kopfhörer auf und hört laut Musik, raucht eine, so muss die andere genauso mit den Folgen leben.

16 Jahre lang haben ihre Eltern die beiden zuhause unterrichten
lassen, um ihnen die Konfrontation mit einer neugierigen,
sensationslustigen Umwelt zu ersparen („… nicht jeder ist ein
Arschloch, meint Tippi. Aber in unserer Gegenwart verwandelt sich jeder
in eins.“)
. Nun sind die finanziellen Reserven aufgebraucht, der Vater
arbeitslos und trinkt zu viel und Grace und Tippi müssen eine private
Schule besuchen.

Aus dem Leben dieser beiden Sechzehnjährigen, ihrer Eltern, ihrer
balletttanzenden, magersüchtigen Schwester und der Großmutter erzählt
Grace, die Vernünftigere, Ruhigere der Zwillinge. Sie berichtet
unaufgeregt vom Leben zweier ungewöhnlicher Teenager, die einfach nur
als „normal“ betrachtet werden wollen. Und schließlich erzählt sie
davon, wie sie beide ganz plötzlich vor einer gefährlichen Entscheidung
stehen… Immer wieder musste ich beim Lesen an Jodi Picoult denken, die
ähnliche Stoffe für ihre Romane wählt, diese dann aber anders
aufbereitet, indem sie aus der Sicht mehrerer Betroffener berichtet.

Gäbe es einen Preis für die fantasievollste, passendste
Covergestaltung, so würde ich diesen ohne Zweifel an Yvonne Hüttig
vergeben, die einen umwerfenden Einband gestaltet hat: auf dem weißen
Cover eine pinkfarbene Silhouette eines Mädchenkopfes, auf dem
durchsichtigen Umschlag dasselbe spiegelbildlich in Türkis, in der
Überlappung ein doppelter Kopf – perfekt!

Warum der Roman, der aus extrem kurzen Kapiteln mit oft nur wenigen
Sätzen besteht, wie ein moderner Lyrikband gesetzt wurde, ist mir bis
zum Schluss nicht klar geworden. Im Normalsatz würde er sicher nur ein
Drittel bis ein Viertel der Seiten umfassen und ist damit auch für
weniger geübte Leserinnen der Zielgruppe 12 bis 15 Jahre gut zu
bewältigen.

Die junge Engländerin Sarah Crossan hat einen interessanten und
berührenden Roman über ein Schicksal geschrieben, über das ich mir
bisher wenig Gedanken gemacht habe und dessen viele Konsequenzen mir
beim Lesen erst nach und nach bewusst wurden. Es ist kein Sachbuch,
keine ethische Abhandlung und kein literarisch herausragendes Werk, aber
trotzdem eine lohnende Lektüre – nicht nur für Teenager.

Sarah Crossan: Eins. Mixtvision 2016
mixtvision.de

Arno Surminski: Malojawind

Ein Sommer im Bergell

„Mein Zusammenleben mit Julia war auf jenen Punkt zugesteuert, der nur drei Wege zuließ: Entweder springe ich von der Köhlbrandbrücke, oder ich ermorde Julia, oder ich schließe die Tür hinter mir und fahre auf und davon. Für die Lösungen eins und zwei war ich zu feige.“

Das „Ich“ in diesem Roman des 1934 in Ostpreußen geborenen Autors Arno Surminski ist der Hamburger Computerfachmann Werner Gersdorf, um die 40 Jahre alt. Seine Frau Julia, mit der seit zehn Jahren verheiratet ist, ist seit drei Jahren alkoholkrank, oder, wie er es ausdrückt, hat ein Dämon von ihr Besitz ergriffen.

Im Mai stellt Gersdorf ihr sechs Flaschen billigen Branntwein und eine Kiste Bier ins Haus und flieht. Sein Mitleid hat sich aufgebraucht, geblieben ist nur noch der Ekel. Ziellos fährt er Richtung Schweiz und landet schließlich jenseits des Malojapasses im Bergell, im 60-Einwohner-Dorf Cassagia. Seine Stimmung schwankt zwischen der Hoffnung, Julia wäre tot, und quälenden Schuldgefühlen. Doch je länger er im Bergell ist, wird ihm immer klarer, wie sehr er sie immer noch liebt. Und während er sich am Anfang versteckt, legt er es nach einiger Zeit regelrecht darauf an, gefunden zu werden.

Zu dieser absolut ungewöhnlichen Liebesgeschichte greife ich seit 20 Jahren immer wieder. Längst habe ich die Originalschauplätze besucht und sogar mit viel Zittern die halsbrecherische Bergbahn zum Stausee benutzt. Die klare, schnörkellose Sprache, die absolut nichts beschönigt, die umwerfende Beschreibung der Natur im Bergell und die einfühlsame Schilderung sowohl der Alkoholkrankheit und des damit verbundenen Verfalls als auch der Machtlosigkeit Gersdorfs machen diesen kleinen Roman für mich zu einem absoluten Meisterwerk.

Arno Surminski: Malojawind. Ullstein 2002
www.ullsteinbuchverlage.de

Judith Lennox: Zeit der Freundschaft

Haarscharf am Glück vorbei

Zeit der Freundschaft war mein erstes Buch von Judith Lennox. Es ist ein Schmöker für ein gemütliches Wochenende am Kamin bei dem man sicher gut entspannen kann, jedoch hat mir ein gewisser Tiefgang gefehlt.

Dorset, England, 1946. Die 17-jährige Topas fährt zum ersten Mal nach vielen Jahren zu Besuch zu ihrer Tante. Dort hat sie zusammen mit ihren Cousins Jack und Will und den Nachbarskindern Marius und Julia ihre glücklichsten Ferien verbracht.

Jack und Marius, aus Krieg und Gefangenschaft zurückgekehrt, müssen zurück ins Leben finden. Julia soll die Leitung der väterlichen Firma an den heimkehrenden Bruder abgeben. Während der Kriegsjahre hat sie auf Jack gewartet, doch der fasst schlecht Fuß und durch ein Missverständnis kommt es zur Trennung. Julia heiratet Will. Topaz sucht nach einer Aufgabe, einem Beruf und der großen Liebe, um ihrem tristen Zuhause und der trinkenden Mutter zu entkommen.

Die Geschichte um die fünf jungen Leute, die der Krieg um ihre Jugend betrogen hat, liest sich flüssig und unterhaltsam. Immer wieder hätte ich gerne eingegriffen, wenn mal wieder einer der Protagonisten haarscharf am Glück vorbeigeschrabbt ist…

Judith Lennox: Zeit der Freundschaft. Piper 2004
www.piper.de

Erich Kästner: Der 35. Mai

Fantasievoll und schräg

Konrad verbringt seine Donnerstage bei seinem verrückten Onkel, dem Apotheker Ringelhuth. Doch ein Donnerstag ist anders: An einem 35. Mai muss Konrad nämlich einen Aufsatz über die Südsee schreiben. Zum Glück kommt gerade das rollschuhlaufende Pferd Negro Kaballo vorbei und zusammen reisen sie duch den Schrank in der Diele in die Südsee. Unterwegs lernen sie das Schlaraffenland, die Burg zur großen Vergangenheit, die verkehrte Welt und Elektropolis, die automatische Stadt kennen. Und am Ende macht sich die Hausaufgabe wie von selbst…

Ein herrlich verrückter, origineller, schräger, fantasievoller und zeitloser Kinderbuchklassiker à la Münchhausen für Jungen und Mädchen ab ca. acht Jahren und junggebliebene Erwachsene.

Erich Kästner: Der 35. Mai. Dressler 2006
www.dressler-verlag.de

Oliver Scherz: Keiner hält Don Carlo auf

Avanti, avanti!

Selten ist mir ein Kinderbuchheld so schnell ans Herz gewachsen wie dieser elfjährige, pummelige Carlo, der seinen Vater so sehr vermisst, dass er sich mit seinem Koffer und seinen ersparten 210 Euro von Bochum nach Palermo aufmacht. Nach einem Streit hat die Mutter, „der Schnellkochtopf“, wie der Vater sie nennt, ihn, den charmanten aber unzuverlässigen Italiener, kurzerhand hinausgeworfen. Seit fünf Monaten, zwei Wochen und sechs Tagen hat Carlo ihn nicht mehr gesehen. Mit seiner Mutter kann er nicht darüber reden, also bleibt ihm nur ein Ausweg: Er muss seinen Vater besuchen!

Immer wieder von hilfreichen Menschen unterstützt, aber auch von einem räuberischen Taxifahrer ausgetrickst, kommt er nach einer abenteuerlichen Reise per Bahn, Taxi, Traktor, PKW und Fähre schließlich an. Und am Ende kann er die Familie zwar nicht wieder zusammenführen, aber eine durchaus verträgliche Lösung finden, die alle Optionen für die Zukunft offen lässt…

Ich habe mich gefragt, ob Carlos Reise ein schlechtes Vorbild für andere Trennungskinder sein kann, denn immerhin lügt er nicht nur die Mutter an, sondern bringt sich ordentlich in Gefahr. Andererseits führen wir ähnliche Diskussionen mindestens seit Pippi Langstrumpf und wer wollte heute noch ernsthaft behaupten, dass sie Kinder verdirbt? Ich denke, die kleinen Leserinnen und Leser können hier durchaus zwischen falsch und richtig unterscheiden. Trotzdem wäre es bei diesem Buch wünschenswert, dass die Erwachsenen mitlesen und mit ihren betroffenen Kindern über die Trennungsproblematik sprechen. Überhaupt empfehle ich das Buch allen Eltern in Scheidung als Spiegel der Kinderseele und Anlass, über den eigenen tiefen Verwundungen die der Kinder nicht zu vergessen. Und für alle nicht betroffenden Kinder ist das Buch ein Abenteuerroman eines unternehmungslustigen Jungen, der keine Gefahr scheut, um den geliebten Vater wiederzusehen.

Ein rundum gelungenes, sparsam aber pfiffig illustriertes Kinderbuch mit großer Schrift und dickem Papier für gute Leser ab der zweiten, sonst ab der dritten Klasse, oder zum Vorlesen ab ca. sieben Jahren.

Oliver Scherz: Keiner hält Don Carlo auf. Thienemann 2015
www.thienemann-esslinger.de

Leta Semadeni: Tamangur

73 Schlaglichter auf das Leben und den Tod

Die 70-jährige Unterengadiner Lyrikerin Leta Semadeni, deren Name selbst wie Lyrik klingt, hat mit Tamangur ihren ersten Roman geschrieben. Aber keinen im herkömmlichen Sinn, nein, vielmehr sind es 73 Schlaglichter in kurzen bis sehr kurzen Sequenzen über Großmutter und Enkelin, „das Kind“, das genauso namenlos bleibt wie das Unterengadiner Dorf, über skurrile Dorfbewohner und vor allem über Abwesende. Der dritte Stuhl im Haus bleibt leer, denn der Großvater, geliebt und schmerzlich vermisst von Großmutter und Kind, ist in Tamangur, jenem Ort, bei dessen Erwähnung die Großmutter jedes Mal gen Himmel schaut. Auch die Eltern sind fort. Vor den Augen des Kindes ist der kleine Bruder, der Augenstern der Mutter, im Fluss ertrunken, die Familie auseinandergebrochen. Hatte das Kind Schuld? Es hat die Hand des kleinen Bruders doch nur kurz losgelassen.

So geben die Großmutter, die als junge Frau die Welt bereist hat, und das Kind, das kaum mehr kennt als das Dorf, sich gegenseitig Halt, schlafen im selben Bett. Manchmal bekommen sie Besuch, vor allem von Elsa, die im gelben Haus bei den Seltsamen wohnt und ihren stillen Freund Elvis Presley im Tarnanzug mitbringt. Und dann ist da noch die Schneiderin, die anderen ihre Geschichten stiehlt, und die Frau Doktor, die seit dem Tod ihres Kindes nicht mehr auf den Friedhof geht. Oder Kasimir, der homosexuelle Kaminkehrer, bester Freund des Großvater und dem Alkohol nicht abgeneigt.

Eine sehr karge und zugleich bildgewaltige Erzählung. Obwohl ich sicher nicht jedes der Bilder verstanden habe, hat dieser so eindringlich erzählte kleine Roman großen Eindruck bei mir hinterlassen.

Leta Semadeni: Tamangur. Rotpunktverlag 2015
rotpunktverlag.ch