Kristine Bilkau: Nebenan

  Landleben heute

Dorfromane haben nicht erst Konjunktur, seit die Städte durch Corona-Lockdown und Homeoffice-Pflicht an Attraktivität eingebüßt haben. In diesem Genre treffen Neuzugezogene und Alteingesessene aufeinander, Traum und Alptraum liegen oft eng beieinander.

Der dritte Roman Nebenan der Hamburgerin Kristine Bilkau gehört in dieses Genre, sticht aber zugleich angenehm heraus. Nach ihrem Debüt Die Glücklichen von 2015 über ein junges, von Abstiegsängsten gelähmtes Paar und Eine Liebe in Gedanken von 2018 über eine Tochter auf den Spuren ihrer verstorbenen Mutter spielt Nebenan in einem namenlosen Dorf am, genauer rechts und links vom Nord-Ostsee-Kanal und in der fünf Kilometer entfernten Kreisstadt.

© B. Busch

Zwei Frauen
Julia und ihr Mann Chris, eine mit ihrer beruflichen Situation in Hamburg unglückliche Kunsthistorikerin und ein Biologe, beide Ende 30, versuchen im Dorf einen Neuanfang. Im efeuumrankten kleinen Backsteinhaus von 1921 mit Garten soll die Familiengründung endlich klappen.

Astrid, Ärztin kurz vor der Rente mit eigener Praxis, wuchs im Haus ihrer Tante Elsa neben dem Efeuhaus auf. Sie arbeitet und lebt mit ihrem Mann Andreas in der Kreisstadt. Die drei Söhne haben die Heimat längst hinter sich gelassen.

Für Kindergarten, Schule und Einkäufe sind die Dörfler auf die Kreisstadt angewiesen, doch auch dort bröckelt die Infrastruktur. Läden schließen, das leerstehende Kaufhaus wird abgerissen und das Jugendzentrum wegen Einsturzgefahr geräumt:

Ladenflächen bleiben leer und Häuser verfallen, weil es für wenige steuerlich von Vorteil ist […]. (S. 110)

Julias neueröffneter Keramikladen scheint ein Hoffnungsschimmer, lebt aber hauptsächlich vom Onlinehandel.

Keine heile Provinzwelt
Wer hier Idylle erwartet, wird enttäuscht. Astrid findet bei einer Leichenschau Spuren von Misshandlung, leidet unter einer zerbrochenen Frauenfreundschaft, anonymen Drohbriefen und der Sorge um ihre alte Tante. Julias Kinderwunsch bleibt trotz Kinderwunschklinik vorläufig unerfüllt, Chris deckt einen Umweltskandal auf und das Einleben wird nicht zuletzt wegen Julias Menschenscheu schwieriger als gedacht:

[…], in diesem Dorf, in dem einige Leute aufeinander achten, aber nur einige, und zu denen gehören sie hier noch nicht. (S. 244)

So ist es erstaunlicherweise die Zugezogene, die sich die meisten Gedanken um das plötzliche Verschwinden der Patchworkfamilie im hässlichen Gelbklinker gegenüber macht.

Auf den ersten Blick scheinen die beiden Frauen gegensätzlich, einerseits die verzagte Julia mit ihrer Zurückgezogenheit, ihrem „wartenden Zimmer“ und ihrem sehnsüchtigen Stöbern nach Familienidylle in pastellfarbenen Internetforen, andererseits die tatkräftige, zugewandte Astrid mit dem nach außen perfekten Leben. Doch bei genauerer Betrachtung erkennt man ihre unerfüllten Sehnsüchte, ihre Ängste und Nöte, die sie auch vor ihren durchaus empathischen Männern verbergen.

Ein bunter Themenstrauß und Raum für Fantasie
In 42 Kapiteln, meist abwechselnd aus personaler Sicht der Protagonistinnen erzählt, zeigt die detailgenaue Beobachterin Kristine Bilkau zwei Frauenleben und die Veränderungen auf dem Land, unterschiedlichste Familienmodelle einschließlich Jugendwohngruppe, Grenzen zwischen Kümmern und Übergriffigkeit, Niedergang dörflicher und kleinstädtischer Strukturen, Leere und Einsamkeit, pastellfarbene Social-Media-Scheinwelten und das Unheimliche, das überall lauern kann.

Während mir bei der ersten Lektüre viele Erzählstränge offen und in der Schwebe vorkamen, wie es das immer wiederkehrende Motiv des Wassers nahelegt, fügte sich bei der zweiten alles wie von selbst. Ob die Fantasie da zu sehr mit mir durchgegangen ist? Nun schien mir das Ende dieses melancholisch-stillen, stilsicher geschriebenen und absolut empfehlenswerten Romans hoffnungsvoll:

Manches ist offenbar ganz von allein miteinander verbunden, ohne dass man etwas dafür tun muss. (S. 267)

Kristine Bilkau: Nebenan. Luchterhand 2022
www.penguinrandomhouse.de

 

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