Bobbi French: Die guten Frauen von Safe Harbour

  Der Tintenfisch im Kopf

Die Kanadierin Bobbi French, geboren und aufgewachsen in Neufundland und Labrador, war als Psychiaterin tätig, bevor sie für die Schriftstellerei ihren Beruf aufgab. Damit sind ihr Patientinnen wie die Protagonistin und Ich-Erzählerin in ihrem Romandebüt Die guten Frauen von Safe Harbour vermutlich vertraut, die sich für einen in Kanada legalen ärztlich assistierten Suizid entscheiden und dafür ein psychiatrisches Gutachten benötigen.

Tödliche Diagnose
Frances Delaney ist 58 Jahre alt, als ein bösartiger Hirntumor bei entdeckt wird. Sie hat Neufundland nie verlassen, wohl aber den fiktiven kleinen Fischerort an der Südküste namens Safe Harbour, in dem sie bis zum Alter von elf Jahren eine glückliche Kindheit verbrachte. Nach dem tief betrauerten  Tod des Vaters auf See versank die Mutter in eine Depression und schließlich griffen die unmenschlichen Regeln der katholischen Kirche erbarmungslos in das Leben des Teenagers ein. Frances‘ Leben geriet aus der Spur, der Ozean wurde ihr zum Sinnbild des Schreckens, jegliches Selbstbewusstsein war verloren, Schuldgefühle quälten sie und zuletzt zerbrach sogar ihr letzter Rettungsanker, die Freundschaft zur quirligen, fürsorglichen Annie Malone:

Auf dieser Welt waren zwei Menschen, die behaupteten einander zu lieben, nur ein einziges schreckliches Gespräch davon entfernt, nie wieder miteinander zu sprechen. (S. 150/151)

Hals über Kopf verließ Frances damals nach dem Schulabschluss Safe Harbour. Doch anstatt wie geplant in St. John’s zu studieren, putzte sie in Hotels, arbeitete später als Haushaltshilfe bei begüterten Familien und ihre Menschenscheu und Schüchternheit bescherten ihr ein Dasein in völliger Einsamkeit:

Ich habe nicht das Leben gelebt, das ich wollte – ich habe das Leben gelebt, das passiert ist. (S. 213)

Rückkehr nach Safe Harbour
Nach der Diagnosestellung 2019 entscheidet sich Frances wohlüberlegt gegen eine möglicherweise lebensverlängernde Therapie und für das selbstbestimmte Sterben. Bis dahin allerdings will sie endlich nach ihren Regeln leben und die 16-jährige Edie, Tochter ihrer letzten Arbeitgeberin und ihr lieb wie ein eigenes Kind, unterstützt sie nach Kräften. Erst allmählich kristallisiert sich der wichtigste Punkt auf ihrer Wunschliste heraus: Rückkehr nach Safe Harbour.

Und so werden die Monate, in denen der „Tintenfisch im Kopf“ immer mehr Raum fordert und die Kopfschmerzen und Anfälle stetig zunehmen, zu Frances‘ wohl aufregendsten und glücklichsten – bis das Ende sich nicht weiter hinausschieben lässt.

© B. Busch

Überraschend humorvoll und optimistisch
Zwar habe ich die im Klappentext angekündigte Packung Taschentücher nicht gebraucht, trotzdem hat mich Die guten Frauen von Safe Harbour berührt und gut unterhalten. Allerdings hätte mir das Buch noch besser gefallen, wären die Abschnitte in der Gegenwart weniger dialoglastig und dafür stilistisch anspruchsvoller gewesen. Eindeutig besser geschrieben sind die spannenden Rückblenden in Frances‘ Vergangenheit und die Schilderungen der rauen Landschaft Neufundlands sowie der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderungen an der Küste, die gerne auch ausführlicher hätten sein dürfen. Dem Blick der Psychiaterin sind die genauen Charakterzeichnungen und die eingestreuten Informationen zum Procedere der Sterbehilfe in Kanada zu verdanken.

Die guten Frauen von Safe Harbour ist ein Plädoyer für das Leben, Versöhnung und das Recht auf Selbstbestimmung, eine Ode an die Freundschaft und ein überraschend humorvoller, optimistischer, selten kitschiger Unterhaltungsroman darüber, was im Angesicht des Todes noch möglich ist.

Bobbi French: Die guten Frauen von Safe Harbour. Aus dem Englischen von Carina Tessari. Diederichs 2022
www.penguinrandomhouse.de

Selma Lagerlöf: Charlotte Löwensköld

  Mehr Klassikerinnen!

Unter dem Motto Mehr Klassikerinnen widmet der Manesse Verlag sein komplettes Jahresprogramm 2022 Schriftstellerinnen der Weltliteratur mit sehr frisch wirkenden Neuübersetzungen, kommentiert von namhaften Autorinnen und Autoren und in gewohnt hochwertiger Ausstattung.

Nach Mrs. Dalloway von Virginia Woolf und Babettes Gastmahl von Tania Blixen war Charlotte Löwensköld von Selma Lagerlöf (1858 – 1940) meine dritte Lektüre aus diesem Programm. Ein Wagnis insofern, als mir Gösta Berling überhaupt nicht zusagte und ich von Wunderbare Reise des kleinen Nils Holgersson mit den Wildgänsen wegen der spürbar pädagogischen Absicht und Langatmigkeit nicht begeistert war. Mit Charlotte Löwensköld erging es mir nun völlig anderes. Dieses Spätwerk von 1925 der als erste Frau 1909 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichneten Autorin ist eine ebenso vergnügliche wie wendungsreiche Lektüre, die vor allem von starken Frauencharakteren und dem überragenden Erzähl- und Dramaturgievermögen von Selma Lagerlöf mit äußerst humorvollen Szenen und feiner Ironie lebt.

Inspiriert von einer wahren Geschichte
Charlotte Löwensköld
ist der mittlere Teil der värmländer Trilogie Die Löwenskölds, der sich jedoch problemlos seperat lesen lässt. Teil eins, Der Ring des Generals, ist eine Gespenstergeschichte, die von einem Ring als Ursprung allen Unglücks in der Familie Löwensköld erzählt. In Teil zwei, Charlotte Löwensköld, steht im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts eine junge Frau aus dem nichtadeligen, mittellosen Familienteil im Mittelpunkt. Sie ist über fünf Jahre mit dem Hilfspastor Karl-Artur Ekenstedt verlobt, dessen kluge, umschwärmte Mutter, die Oberstin Beate Ekenstedt, wiederum eine adelige Löwensköld ist. Karl-Artur ist der verwöhnte Augapfel seiner Mutter. Während seines Studiums wechselt er unter dem Einfluss eines pietistischen Kommilitonen gegen den Willen seiner Eltern zur Theologie. In der Probstei Korskyrka als Hilfspastor eingesetzt, lernt er Charlotte kennen, die als Gesellschafterin im Haus des Propstehepaars lebt.

© B. Busch

Gerne würde die intelligente, lebendige, charmante und bisweilen schelmische Charlotte ihren Langzeitverlobten endlich heiraten, doch verweigert der aus Gründen übersteigerter religiöser Askese den zur Gründung eines Hausstands nötigen beruflichen Ehrgeiz. Als er zudem unter den Einfluss der intriganten Organistenfrau Thea Sundler gerät und Charlotte einen Heiratsantrag des jung verwitweten, vermögenden Bergwerksbesitzers Gustav Schagerström erhält, gerät die Situation außer Kontrolle. Es beginnt eine immer rasantere Abfolge von Irrungen, Missverständnissen, Zufällen und Verwicklungen, so dass ich den Roman nicht mehr aus der Hand legen konnte. Liebend gerne hätte ich eingegriffen, um Charlotte vor drohendem Unheil zu bewahren. Letztlich habe ich sie, die den guten Ruf ihres selbstverliebten Verlobten und dessen gefährdetes Einvernehmen mit seiner Mutter über ihre eigenen Interessen stellt, unterschätzt:

Aber in Charlotte floss altes, schwedisches Adelsblut, und in ihrer Seele wohnte der rechte schwedische Wille, der edle, stolze Wille, dem eine Niederlage nichts anhaben kann, der vielmehr mit ungebrochenem Elan zu neuen Kämpfen aufspringt. (S. 413)

Zeitlose Themen im Gewand des 19. Jahrhunderts
Selma Lagerlöf porträtiert in Charlotte Löwensköld den Männern in Klugheit, Menschenkenntnis und Stärke überlegene, jedoch im Korsett ihrer Zeit gefangene Frauen und zeigt die Auswirkungen von selbstgerechtem, intolerantem religiösem Übereifer, bei dem Anspruch und Wirklichkeit weit auseinanderklaffen.

Das sehr erhellende, feministisch grundierte Nachwort von Mareike Fallwickl diskutiert neben anderem die Auswirkungen mütterlicher Erziehung auf Söhne und die Grenzen, die auch einer erfolgreichen Frau wie Selma Lagerlöf zu ihren Lebzeiten gesetzt waren.

Selma Lagerlöf: Charlotte Löwensköld. Aus dem Schwedischen von Paul Berf. Mit einem Nachwort von Mareike Fallwickl. Manesse 2022
www.penguinrandomhouse.de

 

Rezensionen zu Romanen von Literaturnobelpreisträgerinnen und -trägern auf diesem Blog:

1926
1932
1954
2017
2021

 

Sorj Chalandon: Verräterkind

  Wahrheit und Schuld

Der 1952 in Tunis geborene Sorj Chalandon gehört nicht nur zu den wichtigsten zeitgenössischen Schriftstellern Frankreichs, sondern auch zu den renommiertesten Journalisten. In seinen zehnten Roman, Verräterkind, mit dem er auf der Shortlist des Prix Goncourt 2021 stand, fließen beide Tätigkeiten ein, basiert doch ein Teil dieses autofiktionalen Werks auf seiner preisgekrönten Reportage für die linksliberale Tageszeitung Libération über den Prozess gegen Klaus Barbie im Jahr 1987, den Gestapo-Chef und „Schlächter von Lyon“. Mit diesem weltweit aufsehenerregenden Gerichtsverfahren verknüpft Sorj Chalandon private Ermittlungen gegen seinen Vater, der ihn über seine Vergangenheit während des Zweiten Weltkriegs stets belogen hatte.

Ein Held, der keiner war
Prägend für die Kindheit des Ich-Erzählers waren eine unscheinbare, furchtsame Mutter und ein gewalttätiger, manipulativ mit eigenen Heldentaten prahlender Vater. 1962, als der Sohn zehn war, geriet dieses Heldenepos durch eine Bemerkung des Großvaters jäh ins Wanken:

Dein Vater stand im Krieg auf der falschen Seite. (S. 28)

Die Bürde des „Verräterkindes“ drohte ihn fortan zu ersticken:

Du durftest mich nicht einfach mit deiner Geschichte allein lassen. Sie war zu schwer zu tragen für einen Sohn. (S. 231/232)

Fünf Uniformen, vier Desertionen
Während der Ich-Erzähler aus dem Gerichtssaal in Lyon berichtete und die erschütternden Aussagen der Überlebenden und Hinterbliebenen hörte, versuchte er gleichzeitig, die Lügengebilde des als Zuschauer anwesenden, in Barbie-Verehrung erstarrten Vaters zu entlarven. Dokumente aus der Hinterlassenschaft seiner Tante und illegal angeeignete Unterlagen eines Prozesses gegen den Vater wegen „Schädigung der Landesverteidigung“ sollten Klarheit bringen, die Konfrontation damit sein Schweigen brechen. Fünf Uniformen trug er in vier Jahren, die der französischen Armee, der Vichy-Kollaborationsarmee, als Freiwilliger der von der Wehrmacht zum Kampf gegen den Bolschewismus gegründeten „Légion Tricolore“, der Waffen-Grenadier-Brigade der SS „Charlemagne“ und schließlich der Résistance, viermal desertierte er. Was davon auf Überzeugung, was auf kühler Berechnung und was auf dem schlichten Wunsch, auf der Seite der Sieger zu stehen, beruhte, blieb sowohl im Prozess 1945 als auch für den Sohn und damit für uns Leserinnen und Leser unklar. Gesichert scheint, dass der Vater immer ein „Leichtgewicht ohne viel Talent“ (S. 243) war, dass er nicht mehr als die Grundschule besucht und keinen Beruf hatte, als er sich mit 17 Jahren freiwillig zur Armee meldete, und dass er schon immer ein notorischer Lügner und Hochstapler war.

© B. Busch

Gerichtsreporter und Sohn
Verräterkind
ist ein autofiktionaler Roman, dessen Fiktionalität vor allem in der Parallelität der beiden Handlungsstränge besteht. Während die Teile über den Barbie-Prozess und der Exkurs zum Schicksal der Kinder von Izieu mich mit ihrer einerseits reportagenhaften Klarheit, andererseits großen Emotionalität und atmosphärischen Brillanz vollkommen überzeugt haben, rückte die verzweifelte Wahrheitssuche des Sohnes für mich zunehmend in den Hintergrund, verblasste das Dickicht der Rollenwechsel dieses unbelehrbaren Charakters. Auch die Frage, ob Eltern ihren Kindern tatsächlich Rechenschaft schulden, vermag ich nicht so kategorisch zu bejahen wie Sorj Chalandon. Mehr noch als durch die Taten des Vaters fühlte sich der Ich-Erzähler verletzt durch dessen fehlendes Vertrauen und damit einen weiteren Verrat:

Du bliebst eine offene Frage und dein Krieg der reine Irrsinn. So konnte ich dich weder verstehen noch dir verzeihen. (S. 209)

Ein zweifellos wichtiger, in Teilen grandioser Roman, der zeigt, wie die Vergangenheit fortwirkt.

Sorj Chalandon: Verräterkind. Aus dem Französischen von Brigitte Große. dtv 2022
www.dtv.de

 

Weitere Rezension zu einem Roman von Sorj Chalandon auf diesem Blog:

Chalandon

Juri Johansson & Stefanie Jeschke: Von Schildflöten, Herdmännchen und Großmaulnashörnern

Ein Anti-Langeweile-Bilderbuch

Während auf internationalen Konferenzen über Strategien gegen das weltweite Artensterben verhandelt wird, gibt es auch gute Nachrichten. Zwanzig bislang kaum bekannte Tierarten, die garantiert nicht in Brehms Tierleben zu finden sind, beschreibt Juri Johansson in seinem Bilderbuch Von Schildflöten, Herdmännchen und Großmaulnashörnern. Jedem von ihnen ist eine Doppelseite gewidmet, links mit einem fantasievollen, witzigen, teils absurden lexikonartigen Text, rechts mit einer bezaubernden, farbenfrohen und hervorragend dazu passenden Illustration der Geschöpfe in ihrem natürlichen Habitat von Stefanie Jeschke. Nicht ganz falsch liegt, wer dabei an Loriots Steinlaus aus seinem Sketch von 1976 denkt, die 1983 Aufnahme in das klinische Wörterbuch Pschyrembel fand. Wie Loriot ahmt Juri Johansson einerseits den trockenen Stil lexikalischer Einträge nach und konterkariert ihn andererseits durch Sprachwitz, Wortspielereien und inhaltlichem Schabernack.

Beispiele gefällig?
Da sind die Pyjamalamas, die, da das Kleidungsstück nicht mitwächst, regelmäßig den zu klein gewordenen Pyjama hinters Bett werfen, um in einen größeren zu schlüpfen. Sie sind ausgewiesene Couchpotatos und bewegen sich nach Möglichkeit nur bis zum Kühlschrank.

Wiesel, Wiesosel und Warumsel werden fälschlicherweise oft für Nagetiere gehalten, gehören jedoch eindeutig zur Gattung der Fragetiere und sind renitente Durchdringer“.

Eine eher unangenehme Zeitgenossin ist die ständig eingeschnappte Schmolle, die „beleidigte Leberwurst“ der Meere. Wer auf eine übellaunige Schmolle trifft, braucht viel „Flossenspitzengefühl“.

© B. Busch

Ein Tollpatsch der besonderen Art ist die Schlamassel-Assel, mein Lieblingstier im Buch. Sie lässt kein Fettnäpfchen aus und versteckt sich verschämt unter Steinen und feuchtem Laub.

Ob Herdmännchen mit Chefkochschürze, Säbelzahn-Hörnchen in Siegerpose oder Ichwardasnicht-Kranich mit Unschuldsblick, alle sind von Stefanie Jeschke mit viel Liebe ins Bild gesetzt und doch hatte ich bei fast allen auch einen passenden Menschen vor Augen…

© B. Busch

Ein Feuerwerk der Fantasie und Sprachkunst
Man merkt beiden Künstlern den Spaß bei der Arbeit an, der sich auch prompt überträgt. Der hintergründige Sprachwitz und der Einfallsreichtum wirken aber nicht nur passiv, sie wecken zugleich auch Lust auf eigene Tierkreationen in Wort und Bild – sei es für sich allein, im Familienkreis, beim Kindergeburtstag oder im Grundschulunterricht.

© B. Busch

Große Empfehlung fast ohne Altersbeschränkung
Ich habe dieses absolut originelle Bilderbuch während eines Berlinaufenthalts in der Tucholsky-Buchhandlung entdeckt, die mit ihrem außergewöhnlichen Sortiment unbedingt einen Besuch lohnt. Hier bekommen auch selten präsentierte Bücher aus unabhängigen Kleinstverlagen wie dem erst 2021 gegründeten Berliner Kraus Kinderbuch Verlag eine Chance.

Wer wie ich leicht schräge, kreative, aus dem Rahmen fallende Bilderbücher liebt, hat an dem auch von Denis Scheck und der Internationalen Jugendbibliothek München empfohlenen Von Schildflöten, Herdmännchen und Großmaulnashörnern garantiert langanhaltend Freude. Dabei ist es egal, ob man Kind ab etwa fünf Jahren oder aufgeschlossener Erwachsener ist, Grund zum Lachen gibt es für jedes Alter. Selberlesen können Kinder das bei Antolin gelistete Buch natürlich auch, sobald Wortungetüme wie „Pyjamalamamama“ oder „gepuderzuckerte Schokoschaben“ kein Hindernis mehr darstellen.

Juri Johansson & Stefanie Jeschke: Von Schildflöten, Herdmännchen und Großmaulnashörnern. Kraus Kinderbuch 2022
kraus-verlag.de

Ian McEwan: Lektionen

  Was wäre wenn…

Ian McEwan

 

… der in Libyen stationierte britische Captain Robert Baines und seine verzagte Frau Rosalind ihren Sohn Roland nicht mit elf Jahren auf ein Internat in der Heimat geschickt hätten?

… Roland dort nicht an die rätselhafte junge Klavierlehrerin Miriam Cornell geraten wäre, die auf ewig sein „Hirn neu verdrahtet“ (S. 287)?

… die Kubakrise nicht mit Rolands erwachender Sexualität zusammengefallen wäre?

… er nicht die Schule abgebrochen und anschließend ein Jahrzehnt verbummelt hätte?

… er mehr aus seinen Begabungen als Konzertpianist, Tennisspieler oder Dichter gemacht hätte?

… er nicht ausgerechnet Alissa Eberhardt geheiratet hätte, die ihn und den siebenmonatigen Sohn Lawrence für eine Karriere als Schriftstellerin verließ?

… Alissa nicht ihrerseits im Schatten der Enttäuschungen ihrer Mutter aufgewachsen wäre?

© B. Busch

Ein Roman mit vielen Stärken
In seinem gut 700 Seiten umfassenden 17. Roman Lektionen verzichtet Ian McEwan auf experimentelle Elemente wie in Nussschale oder Maschinen wie ich und erzählt stattdessen angenehm traditionell und überwiegend linear vom Leben des 1948 geborenen Roland Baines von den 1960er-Jahren bis über seinen 70. Geburtstag hinaus. Dabei geht es um Missbrauch, Obsessionen, Aufarbeitung, Prägungen, fehlenden Ehrgeiz, geplatzte Träume, väterliche Fürsorge, vielfältige Affären mit meist sehr erfolgreichen Frauen, den Wert von Familienleben und beruflichem Erfolg und die Frage, wann ein Leben als erfolgreich, wann als gescheitert gilt. Rolands Lebensstationen stellt Ian McEwan in den jeweiligen zeithistorischen Kontext: Die Suezkrise, die Kubakrise, der Falklandkrieg, die Nuklearkatastrophe von Tschernobyl, Glasnost, Perestoika und Wiedervereinigung, die Thatcher-Ära, New Labour, der Irak-Krieg, der Brexit, der Sturm auf das Kapitol und die Corona-Pandemie sind nur die wichtigsten äußeren Ereignisse. Die besondere Kunst Ian McEwans besteht darin, dass er diese an sich altbekannten sozialen und politischen Entwicklungen mit so leichter Hand in die Handlung verwebt, dass die zweifellos dahinterstehende Konstruktion nie offensichtlich wird. Außerdem bleibt es nicht bei der reinen Nacherzählung der Fakten, vielmehr ruft McEwan Gefühle, Hoffnungen und Ängste ins Gedächtnis, ganz besonders gelungen bei der Euphorie während des Mauerfalls und der in den Jahren danach schleichend eintretenden Ernüchterung durch die „neue Hässlichkeit“ (S. 698).

Ein weiterer Pluspunkt des Buches ist die große Nähe zu seinen Figuren, allen voran Roland Baines, und die große Toleranz und Nachsicht, mit der Ian McEwan ihnen entgegentritt, wodurch er ihre Beurteilung ganz in das Ermessen seiner Leserinnen und Leser stellt. Roland Baines war mir spätestens nach der Hälfte des Buches so vertraut wie ein langjähriger Bekannter und meine anfänglich spärliche Sympathie für ihn wuchs mit jedem Kapitel.

Nicht zuletzt durchzieht den Roman – trotz mancher Tragik – ein unwiderstehlicher Humor, nicht nur dank Rolands Selbstironie, und die Sprache ist brillant.

Erinnerungen und Erfindungen
Natürlich stellt sich bei Lektionen mehr als bei Ian McEwans anderen Werken die Frage nach dem autobiografischen Bezug, unter anderem wegen des gleichen Geburtsjahres, der Kindheit in Libyen und der Internatszeit. „To milk my own life“ wäre eine Grundlage beim Schreiben von Lektionen gewesen, so McEwan in einem Interview, und trotzdem entspringt die Handlung größtenteils seiner Fantasie, eine Vorgehensweise, wie sie auch die Schriftstellerin Alissa im Roman beschreibt.

„So viele vergessene Lektionen(S. 696), beklagt der 74-jährige Roland bei der Politik. Und was hat er für sich gelernt?

Eine Schande, eine gute Geschichte für eine Lektion zu missbrauchen. (S. 707)

Ian McEwan jedenfalls missbraucht seinen herausragenden Roman nicht dafür.

Ian McEwan: Lektionen. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Diogenes 2022
www.diogenes.ch

 

Weitere Rezensionen zu Romanen von Ian McEwan auf diesem Blog:

   

Andreas Föhr: Herzschuss

  Kreuthner in Bedrängnis

Im Jubiläumsband zehn der kultigen Tegernsee-Reihe um das ungleiche Duo Wallner/Kreuthner lässt der Jurist und Autor Andreas Föhr ausnahmsweise nicht den unkontrollierbaren und unkonventionellen Polizeihauptmeister Leonhardt Kreuthner die Leiche finden, sondern den reflektierten, teamfähigen Kriminalhauptkommissar Clemens Wallner. Jedenfalls ist er zuerst am Fundort, denn beim Skifahren hat ihm ein Unbekannter die Koordinaten in die Hand gedrückt. Doch kurz nach ihm taucht auch Kreuthner in dem Hotelrohbau auf. Warum? Hat er wirklich nur zufällig Wallners Wagen gesehen oder steckt mehr dahinter?

© B. Busch

Ein Mordfall, viele mögliche Motive
Das Opfer, Philipp Gansel, getötet mit mehreren Schüssen, war Mitglied des Bayerischen Landtags mit auffallend steiler Politkarriere in den vergangenen zehn Jahren. Hat er sich mit den falschen Leuten eingelassen oder ist das Motiv eher im privaten Bereich zu suchen? Was hat ein zwei Monate zuvor in der Mangfallmühle, dem übel beleumdeten Lieblingsgasthaus Kreuthners, „wo sich Menschen zusammenfanden, denen die schattigen Niederungen gerade recht waren“ (S. 7), ausgehecktes Femegericht des Polizeihauptmeisters und seiner zwielichtigen Freunde gegen Philipp Gansel damit zu tun? War ihnen die nur halbwegs geglückte Abreibung nicht genug? Nicht lange, und Kreuthner wird zum Haupttatverdächtigen, denn Gansels Frau Philomena war vor langer Zeit seine Freundin, und dass sie in ihrer Ehe häuslicher Gewalt ausgesetzt war, wollte er nicht dulden. Wallner allerdings glaubt nicht so recht an die Schuld des langjährigen kollegialen Freundes und ermittelt in alle Richtungen, auch wenn die Arbeit durch die neue Leiterin der Polizeiinspektion Miesbach, Karla Tiedemann, einem weiteren Alphatier unter den Vorgesetzten, nicht einfacher wird. Der „Profilügner“ (S. 143) Kreuthner manövriert sich derweilen mit seiner ganz eigenen Logik immer tiefer in den Schlamassel. Seine Hoffnungen ruhen einzig auf Wallners Ermittlungsgeschick, denn selbst seine Mangfallmühlenkumpel lassen Solidarität vermissen:

Weißt – ich hab so viel Dusel g’habt bei dem ganzen Scheiß, den ich angestellt hab in meinem Leben. Irgendwer hat mich immer rausgehauen. Oft warst du des. Und vielleicht sperren die mich jetzt für was ein, was ich gar nicht war. So als Ausgleich mal andersrum. (S. 263)

Eine herausstechende Regionalkrimi-Serie
Wie immer in dieser Reihe steht trotz des durchaus vorhandenen, mit Augenmaß dosierten Lokalkolorits und Einblicken in das Privatleben Wallners die klug durchdachte Krimihandlung mit Rückblicken in die nähere und ferne Vergangenheit im Mittelpunkt. Es ist jedes Mal eine große Freude, die beiden bodenständigen Polizisten wieder zu treffen, den grundsoliden Kripobeamten Wallner mit der legendären Abneigung gegen Zugluft und das Urgestein Kreuthner, für den kein Gesetz zu gelten scheint, aber auch Wallners inzwischen 91-jährigen Großvater Manfred. Spritzige Dialoge, unerwartete Wendungen, Spannung bis fast zur letzten Seite, seriöse Ermittlungsarbeit und skurrile Slapstickeinlagen haben mich wieder sehr gut unterhalten, auch wenn der Humor in anderen Bänden der Reihe noch mehr nach meinem Geschmack ausfiel. Auf jeden Fall bin ich jedoch bei Band elf wieder dabei, schon um erfahren, ob der frische Wind in der Polizeiinspektion für den frisch geschiedenen Wallner auch privat weht…

Andreas Föhr: Herzschuss. Knaur 2022
www.droemer-knaur.de

 

Weitere Rezensionen zur Wallner-Kreuthner-Serie von Andreas Föhr auf diesem Blog:

Band 1
Band 2
Föhr
Band 3
Band 4

 

Holger Haase: Aufstieg in den Abgrund

Interessant, aber in Aufbau und Sprache nicht überzeugend

Der Ruhm von Schauspielerinnen und Schauspielern ist vergänglicher als der anderer Kunstschaffender. Selbst eine auf deutschen Bühnen in den 1920er- und 30er-Jahren gefeierte, als Brecht-Darstellerin und für ihren skandalumwitterten Lebenswandel sehr bekannte Bühnengröße wie Carola Neher (1900 – 1942) ist heute nahezu vergessen, trotz ihres dramatischen Lebenslaufs.

Der Journalist und Autor Holger Haase stellt in seiner Romanbiografie Aufstieg in den Abgrund die belegbaren Lebensstationen detailliert dar und überbrückt, wie in diesem Genre üblich und legitim, Lücken mit Hilfe von Fantasie und wenigen erfundenen Nebenfiguren.

Spielball von Diktatoren
Die Handlung setzt im Dezember 1939 ein, als Carola Neher gut drei von zehn Jahren Haft im Wladimir Zentralgefängnis, einem Stalinschen Zuchthaus, verbüßt hatte und überraschend zusammen mit anderen deutschen Gefangenen wie Zenzl Mühsam und Margarete Buber-Neumann in eine Luxuszelle in der Moskauer Butyrka verlegt wurde. Ein Verhörmarathon mit einem NKWD-Leutnant sollte über ihre Auslieferung an Nazi-Deutschland entscheiden, ermöglicht durch den Hitler-Stalin-Pakt, und für die von den Nazis ausgebürgerte Schauspielerin von besonderer Brisanz. Trotzdem setzte sie, angespornt von ihren Zellengenossinnen, alle Hoffnungen auf die Ausweisung:

Du bist Schauspielerin, Carola. Spiel dem Genossen Leutnant die Rolle deines Lebens vor. […] Umgarn ihn, bis er dir zuliebe tut, was in seiner Macht steht. Und dich ausweist. (S. 41)

Unterbrochen werden die stereotyp verlaufenden Verhöre durch weitschweifige Rückblenden in Carola Nehers Leben und Karriere, allerdings nicht aus der Ich-Perspektive, so dass nie ersichtlich wird, was und wie sie dem Leutnant tatsächlich erzählt. Inhaltlich geht es um den kometenhaften Aufstieg der ehrgeizigen Tochter eines Musiklehrers und einer Kneipenwirtin zum gefeierten Bühnenstar, der alles dem Erfolg unterordnete. Die vielen Theaterstationen, Rollen, Kleider, Promibekanntschaften und Liebesbeziehungen führten bei mir zu großer Ermüdung. Mehr als die reinen Aneinanderreihungen und Inhaltsangaben bekannter Bühnenstücke hätten mich Inszenierungskonzepte und Charaktere interessiert.

Eine scheinbar unmotivierte Kehrtwende
Der Bruch in Carola Nehers Leben kam einige Jahre nach der kurzen Ehe mit dem früh verstorbenen Schriftsteller Alfred Henschke, genannt Klabund (1890 – 1928). Für mich völlig unvermittelt entwickelte sie eine Neigung zur KPD, lernte Russisch und warf für Mutterschaft und eine überraschend eingegangene Ehe mit dem jungen Kommunisten Anatol Becker weg, wofür sie zuvor mit allen Mitteln gekämpft hatte: Karriere, Ruhm, Erfolg, Luxus. Zu keiner Zeit war diese Wendung mit dem Weggang in die Sowjetunion, die so gar nicht in der Figur angelegt war, für mich nachvollziehbar.

Die Protagonistin bleibt fremd
Trotz spürbar gründlicher Recherchearbeit konnte mich die Romanbiografie nicht überzeugen, weder in der Struktur mit den Rückblenden, noch sprachlich mit dem Übermaß an Dialogen, die aufgesetzt, belehrend und selten unauthentisch wirkten. Dadurch blieb mir die Protagonistin fremd in ihrem meist naiven, übertrieben einfachen Reden, Denken und Handeln, das so gar nicht zu einer Schauspielerin dieses Kalibers passen will. Schade auch, dass die Fußnote auf Seite 102 die Spannung nimmt, denn ich hatte mich bewusst vorher nicht informiert.

Trotz einer Steigerung im letzten Romandrittel und des zweifellos umwerfenden Stoffs – warm geworden bin ich mit dem bemüht wirkenden Buch bedauerlicherweise nicht.

Holger Haase: Aufstieg in den Abgrund. Carola Neher – Bühnenstar zwischen Berliner Boheme und Stalins Kerkern. Osburg 2022
www.osburg-verlag.de

Edvard Hoem: Der Geigenbauer

  Ein Leben voller Überraschungen

Hoem

Der Geigenbauer ist ein weiterer Teil aus der Familienchronik von Edvard Hoem, von der auf Deutsch bisher Heimatland. Kindheit (Original 1985, übersetzt 2009), Die Geschichte von Mutter und Vater (2005 bzw. 2007) und Die Hebamme (2018 bzw. 2021) vorliegen. In Norwegen sind diese historischen Romane Bestseller, denn sie sind nicht nur Porträt des Verfassers und seiner Vorfahren, sondern zugleich Dokumente zur westnorwegischen bäuerlichen Gesellschaft ihrer Zeit mit unvergesslichen Naturbeschreibungen. Auf mich üben diese Romane eine solch große Faszination aus, dass ich im Sommer 2022 einige der Originalschauplätze nahe Molde besucht habe: den Hof, auf dem Edvard Hoem aufwuchs, und dessen Erbe er zugunsten der Schriftstellerei ausschlug, die Kirche seiner Kindheit, den Friedhof mit dem Grab der Eltern und den Romsdalsfjord. Dass ich mit Kristiansund unwissentlich auch in der Stadt war, die dem Geigenbauer Lars Olsen Hoem zur langjährigen Heimat wurde, hat mich nun besonders gefreut.

Kristiansund heute. © M. Busch

Wahrheit und Fantasie
Der Geigenbauer und Vorfahr Lars Olsen Hoem spielte schon in der Kindheit des kleinen Edvard eine Rolle in den Erzählungen seines Großvaters und wird in Heimatland. Kindheit erwähnt. Im Familiengedächtnis blieb einerseits sein abenteuerlicher Lebenswandel, andererseits sein über 50 Jahre währendes Zerwürfnis mit seinem älteren Halbbruder Pe, an dessen Unschuld beim mysteriösen Verschwinden der Dienstmagd Guri Lars trotz dessen gerichtlichen Freispruchs 1792 immer zweifelte. Fast 40 Jahre nach dem Erscheinen von Heimatland. Kindheit hat Edvard Hoem für Der Geigenbauer Archivmaterial, Kirchenbücher, Nachlassverzeichnisse, Stammrollen, Gefangenverzeichnisse, Zeitungsartikel, Augenzeugenberichte sowie Literatur zum Geigenbau und lokalhistorische Arbeiten aus dem frühen 19. Jahrhundert befragt und Fakten zusammengetragen, die er wie immer mit Fantasie ergänzte, größtmögliche Nähe anstrebend.

© B. Busch

Wenn alles anders kommt
Lars Olsen Hoem wurde 1782 als Bauernsohn an der norwegischen Westküste geboren und träumte als Jugendlicher von einer eigenen Schute. 1801 wurde er einberufen, als Dänemark-Norwegen an der Seite Napoleons gegen England kämpfte, und nach einem 40-tägigen Marsch von Molde nach Schonen in der Seeschlacht von Kopenhagen als Ruderer eingesetzt. 1809 geriet er mit einem Getreideschiff in Höhe des Nordkaps in englische Gefangenschaft und wurde mehr als fünf Jahre auf Gefangenenschiffen festgehalten. Hier begegnete der musikbegeisterte Mann einem französischen Geigenbauer und lernte dessen Handwerk. Als Lars 1814 endlich nach Hause zurückkehrte, heiratet er Gunhild, bekam mit ihr sieben Töchter, lebte ab 1822 in Smedvika auf Nordlandet in Kristiansund und baute bis zu seinem Tod 1852 über 500 Geigen, von denen etwa 30 erhalten blieben.

„Klippfiskkjerringa“ – Denkmal für die Klippfischfrauen in Kristiansund von Tore Bjørn Skjølsvik. © B. Busch

Ein magischer Erzähler
Niemand beschwört die Vergangenheit ähnlich gut herauf wie der 1949 nahe Molde geborene Schriftsteller, Theaterregisseur und Shakespeare-Übersetzer Edvard Hoem. Er malt ein buntes Bild des 19. Jahrhunderts, lässt Klänge, Gerüche und Farben entstehen und schildert mit viel Zuneigung die tiefgreifenden Auswirkungen der Weltpolitik auf die Menschen an der Westküste und ihr beschwerliches Leben. Herausragend  sind die Abschnitte über den Geigenbau und die beschwerliche, gesundheitsschädliche Tätigkeit der „Klippfischfrauen“, die wie Gunhild auf den Felsen um Kristiansund Trockenfisch zum Export herstellten, außerdem die über die religiöse Strömung um den Erweckungsprediger Hans Nielsen Hauge (1771 – 1824), die in späteren Generationen der Familie Hoem große Bedeutung erlangte.

Eine große Leseempfehlung!

Edvard Hoem: Der Geigenbauer. Aus dem Norwegischen von Antje Subey-Cramer. Urachhaus 2022
www.urachhaus.de

 

Weitere Rezensionen zu familienbiografischen Romanen von Edvard Hoem auf diesem Blog:

   

Vigdis Hjorth: Bergljots Familie

  Der Elefant im Zimmer

Hjort

23 Jahre nach der Explosion einer familiären Bombe und 15 Jahre, nachdem die Ich-Erzählerin Bergljot den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen hat, stirbt der Vater hochbetagt. Nie hat er den Missbrauch Bergljots als Kind zwischen fünf und sieben Jahren eingestanden, den sie erst in einem „entsetzlichen Erkenntnisdurchbruch“ (S. 117) als geschiedene Frau mit drei Kleinkindern begriff. Es folgte eine jahrelange Psychoanalyse, die Konfrontation der Familie mit ihrer Geschichte und deren beharrliches Negieren. Der um ein Jahr ältere Bruder Bård, selbst unter lebenslanger Missachtung durch den Vater leidend, hatte zu diesem Zeitpunkt bereits Abstand gewonnen. Umso überraschender kam für die beiden ältesten Geschwister das Testament drei Jahre vor dem Tod des Vaters, das allen vier Kindern gleiche Erbanteile zusicherte. Als jedoch die Familienhütten auf Hvaler vorab weit unter Marktwert an die mit den Eltern solidarischen jüngeren Schwestern Astrid und Åsa gehen, will Bård diese weitere Ungerechtigkeit nicht akzeptieren, der Streit eskaliert. Plötzlich ist auch Bergljot wieder mittendrin, das nie bewältigte Trauma kehrt mit Macht zurück. Dabei ist die Ignoranz Bergljots tiefste Verletzung:

Der Elefant im Zimmer wurde nicht erwähnt, der Grund, warum ich aufgehört hatte, Hvaler und den Bråtevei zu besuchen, und dann war es so, als gäbe es diesen Grund nicht, als gäbe es meine Geschichte nicht. (S. 97)

© B. Busch

Ein Skandalbuch
Die 1959 geborene, in Norwegen sehr bekannte Autorin Vigdis Hjorth bezeichnet das Buch, das in ihrem Heimatland für heftige Debatten, in ihrer Familie für einen Eklat sorgte, trotz der autobiografischen Übereinstimmungen als Roman, ohne detailliert Stellung zu beziehen. 2016 erhielt sie dafür den von mir sehr geschätzten Preis der norwegischen Buchhändler sowie den Kritikerpreis.

Ob es dabei wohl den Jurys genauso erging wie mir, atemlos bezüglich Thematik und Offenheit und trotzdem in einem emotionalen Spagat? Einerseits bewundere ich die rationale, strukturierte Analyse der Ich-Erzählerin bezüglich der eigenen Situation genauso wie hinsichtlich der Beweggründe und Absichten der einzelnen Familienmitglieder. So ist die überraschende gleichmäßige Berücksichtigung aller vier Kinder im Testament keineswegs Wiedergutmachung oder gar Schuldeingeständnis, sondern ein weiterer Schritt der Negierung des Konflikts und ein Versuch, „sich unser Schweigen und unsere Anwesenheit zu erkaufen“ (S. 210). Ausführlich beschäftigt sich Bergljot mit den beständigen Bemühungen Astrids und der Mutter um Normalität, was sie mehr belastet als das Schweigen und die Ablehnung durch den Vater und Åsa. Andererseits war mir immer bewusst, dass Bergljot mich mit ihrer Darstellung auf ihre Seite ziehen möchte und mir Gegenpositionen nur durch ihren Filter präsentiert. Zwar klingen die Schilderungen plausibel und werden vielfach durch Briefe, Mails, SMS und Gespräche mit Familienangehörigen und Freunden untermauert, doch blieb ein kleiner Restzweifel an der Vertrauenswürdigkeit der stark dem Alkohol zusprechenden, in einer Gedankenspirale feststeckenden Protagonistin. Leider ist der „Gegenroman“ von Vigdis‘ Schwester Helga Hjorth unter dem Titel Fri vilje, in dem die Juristin den Inzest abstreitet, nicht auf Deutsch erschienen.

Trotz des unbestreitbaren Sogs von Bergljots Familie, das auch abseits der Missbrauchsthematik äußerst interessante, gekonnt literarisch aufbereitete Einblicke in Familiendynamiken und die Wahrung des äußeren Scheins mit allen Mitteln gewährt – ein wenig Erschrecken über diese Art der „Virkelighetslitteratur“ saß mir beim Lesen immer im Nacken.

Vigdis Hjorth: Bergljots Familie. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs. Osburg 2017
www.osburg-verlag.de

 

Weitere Rezensionen zu Büchern auf diesem Blog, die mit dem Norwegischen Buchhändlerpreis für den besten Roman des Jahres ausgezeichnet wurden:

2003
2014
2015
2018

 

Dörte Hansen: Zur See

  Seelengeld

Die Insel ist ein Chamäleon. Sie passt sich den Erwartungen an und ist vom Mythos bis zum Sehnsuchtsort durch alle Zeiten „nur Spiegelfläche des darauf projizierten Anderen“.
Wir sehen, was wir sehen wollen. (Anne von Canal: Mein Gotland. mare 2020, S. 58)

Weit weg vom Meer lebend, üben Inseln eine große Anziehungskraft auf mich aus. Gut möglich, dass meine Erwartungshaltung oder Projektion das Ihre dazu beiträgt, dass Urlaubstage auf Gotland, Bornholm, Föhr, den Ålandinseln, Schiermonnikoog oder Prince Edward Island meine Sehnsucht nach Erholung, Ruhe, Geborgenheit und Einsamkeit in besonderem Maße erfüllen.

Doch was, fragt die Nordfriesin Dörte Hansen in ihrem dritten Roman Zur See, bedeutet diese Inselbesessenheit für die Einheimischen? Wie wirkt sich der Strukturwandel vom Walfängervolk auf hoher See zum Dienstleistungsunternehmen für Sinn- und Erholungssuchende aus, wie der Ausverkauf von Immobilien, die Fremdaneignung der Inselkultur, der Verlust althergebrachter Strukturen und Traditionen?

Inselurlaub beginnt meist auf einer Fähre, wie hier am Fährhafen Dagebüll. ©M. Busch

Tiefgreifende Veränderungen
Dörte Hansen siedelt Zur See bei den Nachfahren der Grönlandfahrer auf einer namenlosen Nordseeinsel „irgendwo in Jütland, Friesland oder Zeeland“ (S. 7) an. Dass sie sich nicht mehr mit den kargen Böden abzuplagen, auf Fischtrawlern und Krabbenkuttern frieren oder auswandern müssen, verdankten sie zunächst den Sommerfrischlern, heute den Kurztrippern, die „schnell entschleunigen“ (S. 181) möchten, und doch:

Man zahlt ein Seelengeld für dieses Leben. (S. 191)

Fünf Stimmen
Dies gilt auch für Familie Sander, wortkarg, jedes Familienmitglied mit schwerem Gepäck. Mutter Hanne und Vater Jens versuchten sich an einer Ehe nach elterlichem Vorbild, aber weder passten Kinder und Seefahrt zu ihm, noch duldsames Warten zu ihr. Sohn Ryckmer verlor sein Kapitänspatent, fürchtet die unberechenbare See, trinkt und setzt jede Beziehung in den Sand. Tochter Eske hält es auf dem Festland nicht aus, hasst die Fremden und Hanne, die als Gastgeberin das Spiel lange mitgespielt hat. Mit ihrer Ganzkörpertätowierung, der lesbischen Fernbeziehung und ihrer Liebe zu ohrenbetäubendem Heavy Metal frönt sie ihrer Wut, kümmert sich andererseits aber rührend um ihre Seniorenheimpfleglinge und hilft beim Bewahren der Inselsprache. Sohn Henrik schließlich, Nesthäkchen und Sonderling, verdankt sein Leben Hannes erfolglosem Versuch zur Rettung ihrer brüchigen Ehe und blieb stets unter ihrem Radar. Jetzt sind seine Figuren aus Treibgut Kult, er jedoch schert sich um nichts und niemanden. Als einziges Familienmitglied hat er im multiperspektivischen Chor der 14 Kapitel keine eigene Stimme und wir erleben ihn ausschließlich aus fremder Sicht.

Die fünfte Stimme gehört dem smarten langjährigen Inselpastor Matthias Lehmann, den Sanders sehr verbunden, auch er im Umbruch, weil nach seinen Töchtern nun seine Frau aufs Festland zieht. Die Wochenendehe und anonyme Schmähkommentare machen ihm schwer zu schaffen und bescheren ihm eine Glaubens- und Sinnkrise.

Verschwommen
Weggehen und Zurückkommen, familiäre Bande, Tradition und Neubeginn, Anteilnahme und Wegsehen sind nur einige der Themen in Dörte Hansens neuem, vergleichbar starken Roman wie Altes Land und Mittagsstunde. In gewohnt pointierter Sprache mit ultrastarken Bildern, melancholisch und doch mit einer Prise hanseatischem Humor, fast ohne Dialoge stellt sie die See in den Mittelpunkt und mit wenigen Strichen gezeichnete Menschen, die sich wie der gestrandete Wal „verschwommen“ haben.

© B. Busch

Ein Highlight des Literaturherbstes 2022, ein Roman wie ein Film und kein Plädoyer gegen Inselurlaube, sondern ein Appell an die Verantwortung der Gäste.

Dörte Hansen: Zur See. Penguin 2022
www.penguinrandomhouse.de

 

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