Fabio Geda: Ein Sonntag mit Elena

  Familiendynamik

Eine Dramaturgin als Ich-Erzählerin eines Romans ist eine ausgezeichnete Wahl. Giulia ist die junge Frau vom Theater, die in Der Sonntag mit Elena berichtet, was ihr Vater an jenem titelgebenden Tag erlebte. Sie war zwar nicht dabei, hatte zu dieser Zeit nicht einmal Kontakt zu ihm, doch haben er und Elena Jahre später ausführlich von ihrer zufälligen Begegnung berichtet. Giulia brachte die Geschehnisse zu Papier, reicherte sie mit eigenen Kindheitserinnerungen, der Familiengeschichte und Betrachtung über die Ehe der Eltern an, ergänzte sie um passende Erlebnisse aus ihrem Alltag, schmückte aus oder unterschlug, was sie nicht preisgeben wollte.

Ein Tag…
An jenem lange zurückliegenden Sonntag hatte der Vater in Erwartung des Besuchs seiner ältesten Tochter Sonia und deren Familie erstmals selbst gekocht. 67 Jahre war er alt, seit acht Monaten Witwer und einsam. Der Kontakt zu Giulia war abgebrochen, der Sohn Alessandro arbeitete in Helsinki und auch Sonia war aus Turin hinaus aufs Land gezogen. Nach einem Arbeitsleben als Brückenbauer auf Baustellen weltweit hatte der Vater sich seinen Ruhestand anders vorgestellt:

Das Leben hatte ihn mit interessanten Menschen zusammengebracht, mit denen er ebenso angenehme wie oberflächliche Beziehungen geführt hatte, kurzlebige Freundschafen, die die Zeit mit der Unerbittlichkeit eines Jahreszeitenwechsels gekappt hatte. Er verzehrte sich geradezu danach, sich in einer verwandten Seele zu spiegeln, aber da war niemand… (S. 57)

Als Sonia überraschend absagen musste, stand dem Vater ein weiterer einsamer Sonntag bevor, mit Bergen von gekochtem Essen, aber ohne Appetit. Bis er am Skatepark zufällig die dreißig Jahre jüngere Witwe Elena mit ihrem 13-jährigen Sohn Gaston traf, beide genauso einsam wie er – und hungrig dazu. Mit Gaston hatte der Vater endlich wieder einen interessierten Zuhörer an seinen Ingenieursabenteuern, mit Elena konnte er über seine unerfüllten Träume fürs Alter reden und Anteil an ihren Problemen nehmen. Der unverhoffte Einklang heiterte alle auf:

Elena prostete ihm zu. „Danke“, sagte sie. „Heute Morgen beim Aufwachen hatte ich den Kopf voller Schatten. Alle haben Sie nicht verjagt, aber ein paar schon. Danke dafür, wirklich.“ (S. 120)

 … und noch viel mehr
Wer nun eine mehr oder weniger kitschige Liebesgeschichte erwartet, liegt zum Glück daneben. Nur für kurze Zeit bleibt das ungleiche Trio in Kontakt, doch es reicht für neue Impulse. Als sich Elena und der Vater Jahre später noch einmal begegnen, sind die Karten neu gemischt, nicht zuletzt aufgrund jenes Sonntags.

Mir hat die Erzählweise Giulias sehr gut gefallen, besonders ihre Überlegungen zu sich verändernden Eltern-Kind-Verhältnissen und die Hommage an die Mutter. Diese ertrug die Abwesenheit des Vaters scheinbar stoisch, stellte eigene Ambitionen zurück und fragte mehr, als sie von sich preisgab. Ganz anders der Vater, Held von Guilias Kindheit, der lieber erzählte, und zu dem sie erst über Umwege wieder einen Zugang fand.

Lesenswert und hübsch gemacht
Der Turiner Autor Fabio Geda nennt mit Kent Haruf und Elizabeth Strout zwei Vorbilder, die ich ebenfalls sehr schätze. Ein Sonntag mit Elena ist ein kleiner, stiller und lesenswerter Roman in deren Tradition. Das Cover passt vorzüglich zum Inhalt des handlichen Büchleins ohne Schutzumschlag, den ich mit einem Lächeln beendet habe.

Fabio Geda: Ein Sonntag mit Elena. Aus dem Italienischen von Verena von Koskull. Hanserblau 2020
www.hanser-literaturverlage.de

Jean-Paul Dubois: Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise

  Ein Menschenfreund

Die beiden Zellenbewohner im Montrealer Gefängnis könnten nicht unterschiedlicher sein und doch kommen sie überraschend gut miteinander klar. Der Hells Angel Patrick Horton, ein gefängniserprobter, knallharter junger Hüne mit Panik vor Nagetieren und Haareschneiden, wartet wegen Beteiligung an einer Exekution auf seinen Prozess. Ganz anders sein Zellengenosse, der bisher gänzlich unauffällige, unbescholtene Paul Hansen, der von seinen Toten besucht wird: seiner angebeteten Frau Winona, seinem Vater Johanes und seiner Hündin Nouk. Zu zwei Jahren Haft ohne Bewährung wurde er verurteilt, ein „angemessenes Strafmaß im Verhältnis zur Schwere des Delikts“, das „weder dramatisch noch harmlos ist“. Für Spannung sorgt, dass wir erst am Ende der gut 250 Seiten den Grund für die Verurteilung des Ich-Erzählers Paul und seine fehlende Reue erfahren:

Das Gericht besitzt die vollständige Aktenkenntnis von mir. Es hat alle Zeugen gehört und mich lange vernommen. Es hat mich zu zwei Jahren Haft verurteilt. Alles ist gesagt. Wenn sie mich vorzeitig entlassen wollen, dann ist das ihre Sache. Ich werde aus ihren Händen keine Reuekörner picken, um ein paar Monate Freiheit zu erbetteln. (S. 56)

Gegenwart und Vergangenheit
Szenen aus dem Gefängnisalltag wechseln ab mit Pauls Rückblick auf sein Leben. Geboren 1955 in Toulouse als Kind einer ungleichen Verbindung zwischen einem dänischen Pastor aus Skagen und einer französischen Programmkino-Erbin, „die sich den Dingen der Kirche und des Glaubens hermetisch verschloss“ und keinerlei Rücksicht auf den Beruf ihres Mannes nahm, ging er nach der Scheidung der Eltern mit dem entwurzelten, in seinem Glauben erschütterten und nicht mehr zur Ruhe findenden Vater 1976 nach Kanada.

Als Hausmeister einer Wohnanlage in Montreal war Paul für weit mehr als die Haustechnik und den heimtückischen Pool zuständig. Auch seinen einzigen Freund fand er dort:

Kieran Read ist einer der achtundsechzig Eigentümer, die in Montreal im Ahuntsic-Viertel eine Wohnung im Dondo Excelsior besitzen, dessen Verwalter ich sechsundzwanzig Jahre lang war, dessen Concierge, Faktotum, Krankenpfleger, Beichtvater, Gärtner, Psychologe, Elektroniker, Klempner, Elektriker, Küchenverkäufer, Chemiker, Mechaniker, kurzum: ehrbarer Hausmeister dieses kleine Tempels, dessen Schlüssel ich fast alle besaß, dessen Geheimnisse ich alle kannte. (S. 104)

Berufliche Erfüllung und privates Glück mit seiner Frau und geliebten „Zauberindianerin“ Winona, väterlicherseits Algonkin-Indianerin, mütterlicherseits Irin, bescherten ihm Jahre tiefer Zufriedenheit, bis sich die Verhältnisse ab Ende 1999 dramatisch veränderten.

Ein Sprachkünstler
Den 1950 in Toulouse geborenen, in Frankreich populäre Jean-Paul Dubois, der für diesen Roman 2019 überraschend den Prix Goncourt erhielt, kannte ich bisher nicht. Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise spiegelt das Leben eines unauffälligen, genügsamen Mannes an den äußeren Veränderungen einer Zeit, in der gelebte Menschlichkeit seltener wird. Schwer zu glauben, dass irgendjemand von diesem Scheitern nicht erschüttert würde oder die Tatmotive des ehrlich wirkenden Ich-Erzählers nicht verstünde. Vor allem Dubois‘ zwischen flapsig-humorvoll und ernst-melancholisch mäandernde Erzählweise und sein unerschöpflicher Vorrat origineller Sprachbilder und Metaphern begeisterten mich, allerdings schweifte die Beichte immer wieder in weniger interessante Gefilde ab.

Jedes Lebensschicksal in diesem lesenswerten Roman ist anders, jedem wird die nötige Aufmerksamkeit zuteil und jeder bewohnt die Welt auf seine Weise.

Jean-Paul Dubois: Jeder von uns bewohnt die Welt auf seine Weise. Aus dem Französischen von Nathalie Mälzer und Uta Rüenauer. dtv 2020
www.dtv.de

 

Weitere Rezensionen zu Siegertiteln des Prix Goncourt auf diesem Blog:

         

Robert Seethaler: Der letzte Satz

  Licht und Schatten eines Musikerlebens

Die letzte Überfahrt Gustav Mahlers 1910 von New York nach Europa bildet den Rahmen für den nur 126 Seiten starken Roman Der letzte Satz von Robert Seethaler. Der bereits vom Tode gezeichnete Dirigent und Komponist, der im Mai 1911 mit nur 50 Jahren in Wien verstarb, weiß um sein nahes Ende. Während seine Frau Alma und die sechsjährige Tochter Anna den Vormittag unter Deck verbringen, sitzt Mahler oben, eingewickelt in Wolldecken und umsorgt von einem kindlichen Schiffsjungen in feiner, viel zu großer Uniform, seinem einzigen Gesprächspartner:

Den Kopf gesenkt, den Körper in eine warme Wolldecke gewickelt, saß Gustav Mahler auf dem eigens für ihn abgetrennten Teil des Sonnendecks der Amerika und wartete auf den Schiffsjungen. Das Meer lag grau und träge im Morgenlicht. Nichts war zu sehen außer dem Tang, der in schlierigen Inseln an der Oberfläche schwamm, und einem überaus merkwürdigen Schimmern am Horizont, das aber, wie ihm der Kapitän versichert hatte, absolut nichts bedeutete. (Romanbeginn S. 7)

Zeit für eine Bilanz
Eingebettet in diese Rahmenhandlung lässt Robert Seethaler Mahler auf die Licht- und Schattenseiten seines Lebens zurückblicken. Zeitlebens war er kränklich, litt unter dem „Desaster eines sich selbst verzehrenden Körpers“ und seiner zarten Gestalt, unter Migräne, Schlaflosigkeit, Schwindelanfällen, Mandelentzündungen, Hämorrhoiden, Magen- und Herzbeschwerden. Trotz dieser körperlichen Einschränkungen und seiner jüdischen Herkunft stieg Mahler zum größten Dirigenten seiner Zeit und gefeierten Komponisten auf. An Deck wandern seine Gedanken zurück in seine Zeit als Direktor der Wiener Hofoper zwischen 1897 und 1907, zu seinem Wirken in New York, Konzertreisen in zahlreiche europäische Städte, Komponier-Sommer in Toblach sowie zur monumentalen Uraufführung der Achten Symphonie 1910 in München vor 4000 Zuhörern.

Auf dem Höhepunkt seiner Macht als Wiener Operndirektor schien sein Glück vollkommen, als er 1902 mit der 19 Jahre jüngeren Alma eine der schönsten und begehrtesten Frauen Wiens heiratete. Alma stammte aus bestem Haus, war klug und Mahlers große Liebe. Nach dem frühen Tod der älteren Tochter Maria verschlechterte sich jedoch das Verhältnis der Ehepartner zu seinem großem Kummer zusehends und Alma verließ ihn nur wegen seines sich abzeichnenden Todes nicht für den „Baumeister“, den im Roman nicht namentlich genannten Walter Gropius: 

„Alles, woran ich einmal geglaubt habe, existiert nicht mehr. Vielleicht war es auch nie da. […] Ich wollte dich, du warst Gustav Mahler, das Genie, und ich habe mich in dich verliebt. In deine Hände. In deinen Mund. In deine idiotisch hohe Stirn. Es war ein Traum, und wir haben ihn eine Zeitlang gemeinsam geträumt. Aber jetzt bin ich aufgewacht.“ (S. 88/89)

Mensch Mahler
Mir hat dieses kleine Büchlein mit den meisterhaften Übergängen zwischen Gegenwart und Erinnerungen und Robert Seethalers beneidenswerter Kunst der knappen Worte gut gefallen, auch wenn es nicht an seinen überragenden Roman Ein ganzes Leben oder an Der Trafikant heranreicht. Viel Erfahren habe ich über den Menschen Gustav Mahler, sein Leben, seine Melancholie, seine Träume – so wie Seethaler sie sich vorstellt -, wenig dagegen über seine Musik, was Mahler dem Schiffsjungen aber plausibel erklärt:

„Man kann über Musik nicht reden, es gibt keine Sprache dafür. Sobald Musik sich beschreiben lässt, ist sie schlecht.“ (S. 65)

Robert Seethaler: Der letzte Satz. Hanser Berlin 2020
www.hanser-literaturverlage.de


Weitere Rezension zu einem Roman von Robert Seethaler auf diesem Blog:

Marco Balzano: Ich bleibe hier

  Verlierer der Geschichte

Für Tausende Touristen ist der zur Hälfte aus dem Reschensee ragende Kirchturm der alten Grauner Pfarrkirche St. Katharina in jedem Jahr Grund für einen Stopp und Motiv für ein spektakuläres Urlaubsfoto. Ein zufälliges Vorbeikommen im Sommer 2014 war für den italienischen Autor Marco Balzano Anlass, die Geschichte des Bergdorfs Graun, der Region Südtirol und des Staudamms am Dreiländereck Italien-Österreich-Schweiz zu studieren und alte Bewohner, Ingenieure und Historiker zu befragen. Beeindruckendes Ergebnis dieser Recherchen ist der Roman Ich bleibe hier, 2018 zweitplaziert beim angesehensten italienischen Literaturpreis Premio Strega, mit einer fiktiven Familiengeschichte vor historischem Hintergrund.

Eine Ich-Erzählerin
Die Grauner Lehrerin und Bäuerin Trina Hauser erzählt ihre Lebensgeschichte, allerdings nicht uns Leserinnen und Lesern, sondern ihrer Tochter Marica, von deren Verschwinden man bereits auf den ersten Seiten des Romans erfährt. Für Trina und ihren Mann Erich bleibt die abwesende Tochter zeitlebens eine Wunde, die zwar irgendwann nicht mehr blutet, aber immer schmerzt. Wie der Kirchturm im See haben sie einen wichtigen Teil ihrer selbst verloren.

Dabei schien ihr Lebensweg, trotz der schwierigen Lage durch die italienische Annexion Südtirols nach dem Ersten Weltkrieg, zunächst vielversprechend. Trina, die immer an die Macht der Wörter glaubte, war nach der Reifeprüfung 1923 Lehrerin geworden, doch Mussolinis Politik, die die Südtiroler mit immer brutaleren Methoden zwangsitalienisieren sollte, setzte ihren Ambitionen ein jähes Ende. Nun wurden Lehrkräfte aus Süditalien geholt, die deutsche Sprache verboten, geografische Bezeichnungen und sogar Grabsteininschriften von den Faschisten italienisiert. Trina gehörte zu den Mutigen, die trotz größter Gefahren Deutschunterricht an geheimen Orten erteilte.

Faschisten und Nationalsozialisten
Der anfänglich große Zusammenhalt gegen die italienischen Zuwanderer endete im Oktober 1939 mit Hitlers Angebot einer Auswanderung ins nationalsozialistische Deutsche Reich. Die „Optanten“ verloren ihre Heimat, die „Dableiber“, unter ihnen Trina und Erich, ihre Sprache:

„Weil ich hier geboren bin, Trina. Mein Vater und meine Mutter sind hier geboren, du bist hier geboren, unsere Kinder sind hier geboren. Wenn wir weggehen, haben die anderen gewonnen.“ (S. 62)

1939 war das Jahr, als die Tochter verlorenging. Wenig später griff die Regierung in Rom das alte Staudammprojekt wieder auf, das die Existenz Grauns und seiner Umgebung bedrohte, und das erst mit dem deutschen Einmarsch unterbrochen wurde. Wieder galt es, zu wählen: kämpfen in der Wehrmacht oder sich als Deserteur in den Bergen verstecken?

Die Erleichterung über das Kriegsende wich mit der zügigen Wiederaufnahme der Bauarbeiten schnell der Ernüchterung, Widerstand blieb erfolglos. Im Sommer 1950 wurden die Häuser gesprengt und Graun überflutet. Wieder die Wahl zwischen Gehen und Bleiben und wieder die Entscheidung für die Heimat:

Wärst du zurückgekehrt, hätte uns nicht einmal mehr der Gedanke an das Wasser, das uns überflutet, erschreckt. Mit dir hätten wir die Kraft gefunden, woandershin zu gehen. Neu anzufangen. (S. 266)

Was nicht in italienischen Geschichtsbüchern steht
Dass die Dörfler schließlich kaum Entschädigung erhielten, die versprochenen Neubauten sich jahrelang hinzogen und der Stausee sehr wenig Energie lieferte, weil Atomstrom aus Frankreich billiger war, sind beschämende historische Tatsachen. Marco Balzano hat mit seinem Roman dieses Geschehen dem Vergessen entrissen. Seine Protagonistin Trina lässt er auf so einfache, schmucklose, melancholische und ehrliche Weise erzählen, dass garantiert niemand unberührt bleibt.

Marco Balzano: Ich bleibe hier. Aus dem Italienischen von Maja Pflug. Diogenes 2020
www.diogenes.ch

 

Weitere Rezensionen zu Büchern von Marco Balzano auf diesem Blog:

    

Victoria Mas: Die Tanzenden

  Weggesperrt und für verrückt erklärt

Den Roman Själarnas Ö von Johanna Holmström, in deutscher Übersetzung als Die Frauen von Själö erschienen, habe ich 2019 mit großer Anteilnahme gelesen. Darin geht es um eine Insel im äußeren Schärengürtel vor Turku, auf der es bis 1962 eine Nervenheilanstalt für Frauen gab. Meist wurden sie von ihren Angehörigen eingewiesen, häufig nicht mit einer psychiatrischen Diagnose, sondern wegen Rebellion gegen gesellschaftliche Konventionen.

Eine ganze Reihe von Parallelen dazu weist das preisgekrönte Debüt Die Tanzenden der 1987 geborenen Französin Victoria Mas auf, das im Hôpital de la Salpêtrière in Paris spielt, einer der berühmtesten Nervenheilanstalten der Zeit. In beiden Romanen stehen je zwei Patientinnen und eine Krankenschwester im Zentrum, beide beschäftigen sich mit den Einweisungsgründen und dem Klinikalltag und in beiden leben nur wenige Patientinnen freiwillig, weil ihnen die Einrichtung Schutz vor meist männlicher Gewalt bietet. Doch während die Handlung in Själarnas Ö von 1891 bis in die 1930er-Jahre spielt, umfasst sie in Die Tanzenden lediglich zwei Wochen im Februar und März 1885 mit einem Epilog 1890. Abgeschottet lebten die Patientinnen hier wie dort, doch gab es in der Salpêtrière zahlreiche Ärzte, an der Spitze 1885 der berühmte Professor Charcot mit seiner Hypnosetherapie, der mit ausgewählten Patientinnen wöchentliche öffentliche Lehrvorstellungen gab. Höhepunkt des Jahres für die Salpêtrière wie für die Pariser Bourgeoisie war der jährlich zu Mittfasten abgehaltene Kostümball, der „Bal des folles“, bei dem man die „Hysterikerinnen“ einem sensationsgierigen Publikum präsentierte.

Zwei Patientinnen, eine Krankenschwester
Während Sigrid, die Krankenschwester auf Själö, ihre Patientinnen empathisch umsorgt und die Grenzen zwischen krank und gesund ständig infrage stellt, ist Geneviève, die ehrgeizige Oberaufseherin der Salpêtrière, distanziert und zweifelt nicht am Konzept ihrer Klinik. Louise, eine 16-jährige Waise, wurde drei Jahre zuvor von ihrer Tante nach dem Missbrauch durch ihren Onkel eingeliefert. Ebenfalls Opfer ihrer Familie ist die rebellische 19-jährige Eugénie aus bürgerlichem Haus, die mit ihrer Geisterseherei eine Bedrohung darstellt:

Dass sie Verstorbene sah, war ein untrügliches Anzeichen von Wahnsinn. Derlei Symptome führten eine Frau, das wusste Eugénie, nicht zum Arzt, sondern geradewegs in die Salpêtrière. Wer solche Dinge öffentlich erwähnte, dem war die Zwangseinweisung sicher. (S. 54)

Als Eugénie sich trotzdem ihrer Großmutter anvertraut, bringt ihr Vater sie umgehend in die berüchtigte Klinik. Nicht nur für Eugénie ist das ein dramatischer Einschnitt, sondern auch für Geneviève, die durch die Geisterseherin in ihren Grundfesten erschüttert wird:

Seit einer Woche, seit Eugénie da ist, entgleitet ihr alles, was sie im Griff zu haben meinte. Ein bedrückendes Gefühl, doch sie wehrt sich nicht mehr dagegen. Sie hat versucht, standhaft zu bleiben – umsonst. (S. 136)

Ein zwiespältiges Fazit
Einerseits ist die Geschichte äußerst spannend, gut recherchiert, die Ausrichtung auf den dramaturgischen Höhepunkt in der Ballnacht gelungen. Man merkt, wie sehr die Autorin für ihr Thema und die unterdrückten Frauen brennt. Der Erzählstil ist einfach, der Roman liest sich dank des fast konsequent chronologischen Aufbaus leicht und das Cover ist wunderschön. Leider hat mir aber das Abgleiten ins Okkulte und Spiritistische überhaupt nicht gefallen, weil es einer ansonsten realistischen Handlung die Glaubwürdigkeit raubt. Von der Lektüre abraten möchte ich trotzdem nicht, dazu hat mich der historische Hintergrund zu sehr gefesselt und das Geschehen abseits der Geistergeschichte zu gut unterhalten.

Victoria Mas: Die Tanzenden. Aus dem Französischen von Julia Schoch. Piper 2020
www.piper.de

Benjamin Myers: Offene See

  Ein Schubs in die richtige Richtung

Die kurze, berührende Rahmenhandlung zeigt den geistig rüstigen, körperlich gebrechlichen Robert Appleyard, der staunend über das Vergehen der Zeit sinniert: „Wo ist das Leben geblieben?“ Nur in seiner Erinnerung wird er wieder jung und kann eine Begegnung heraufbeschwören, die seinem Schicksal eine neue Richtung gab.

Auf der Suche nach dem wahren Ich
Ausgerechnet ihm, dem introvertierten, die Natur über alles liebenden 16-Jährigen war die Laufbahn seiner Vorfahren in der heimischen Kohlemine im Norden Englands vorgezeichnet. Wenigstens einmal wollte er jedoch zuvor den Süden und das Meer dort sehen, wo es nicht grau vor Staub war:

Ich wollte sehr viel mehr von dem erleben, was anderswo geschah, jenseits der Grenzen meines ländlichen Bergarbeiterdorfs, das irgendwo zwischen der Stadt und dem Meer in einer sanft gewellten Landschaft lag. Ich wollte überrascht werden. Nur wenn ich allein in der Natur war, hatte ich je eine Ahnung von meinem wahren Ich bekommen…“ (S. 17)

Eine Begegnung mit Folgen
Auf seiner Wanderung im Nachkriegsfrühling 1946 zwischen dem Abschluss der Schule und dem unvermeidlichen Zecheneintritt verdingte sich Robert als Tagelöhner, bis er in einer Bucht in Yorkshire auf ein Cottage stieß, das wie ein Traumbild anmutend inmitten einer verwilderten Wiese lag. Dulcie Piper, die unkonventionelle Besitzerin, war anders als alle Frauen, die er kannte. Groß, derb, sarkastisch, sehr direkt und weit gereist, machte sie aus ihrem Atheismus keinen Hehl, deklarierte die Lust zum Geburtsrecht, trank gern und verabscheute Spießer, Schnösel, Großmäuler und Vorurteile.

Aus der spontanen Einladung zum Tee wurden ungeplant Tage und Wochen, in denen Dulcie nicht nur die Schätze ihrer erstaunlich reichhaltigen Speisekammer, sondern auch ihre Liebe zur Literatur und ihre freien Ansichten mit ihm teilte. Robert machte sich derweilen pflichtschuldig im Garten und bei der Entrümpelung und Instandsetzung einer alten Hütte nützlich. Zufällig stieß er dabei auf Dulcies gut gehütetes Geheimnis, den Grund für ihre Melancholie und ihre Abneigung gegen das Meer…

Eine Perle mit minimalen Schönheitsfehlern
Ich habe dieses Buch mit dem auffallend schönen Cover und der wertigen Herstellung mit großer Freude gelesen. Der 1976 geborene Brite Benjamin Myers, der auch Lyrik und Sachbücher verfasst, hat mich mit dem ungleichen Duo seines Zwei-Personen-Romans, den fantastischen Naturschilderungen und seinem verschwenderischen Vorrat an fast immer passenden bildlichen Vergleichen bezaubert. So konnte ich leicht über kleinere Kritikpunkte hinwegsehen, wie die Tatsache, dass ich eigentlich einen Überdruss bei zufällig auftauchenden Tagebüchern, Manuskripten, Briefen und ähnlichem empfinde. Auch die Glaubwürdigkeit der beiden Protagonisten hat mich kaum beschäftigt, liest sich doch die Geschichte in Teilen märchenhaft, den Kitsch haarscharf vermeidend. Nicht immer passen Roberts Gedanken zu seinem Alter, denn eine Überlegung, ob junge Mädchen einst ihren Müttern gleichen und Männer wie ihre Väter heiraten werden, entspringt wohl eher dem Denken des gealterten Erzählers. Der hintergründige Humor beim wiederholten Scheitern von Roberts ambitionierten Aufbruchsversuchen hat mich in der ersten Romanhälfte erheitert, in der zweiten hätte ich dagegen Straffungen bei Dulcies trauriger Geschichte vorgezogen. Letztlich aber ist nichts davon Grund genug, diese gelungene Mischung aus Entwicklungsroman und Nature Writing nicht wärmstens zu empfehlen.

Benjamin Myers: Offene See. Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. Dumont 2020
www.dumont-buchverlag.de

Elizabeth Strout: Die Unvollkommenheit der Liebe

  Schweres Gepäck

My name is Lucy Barton, der Originaltitel des 2016 auf Deutsch unter dem Titel Die Unvollkommenheit der Liebe erschienenen fünften Romans von Elizabeth Strout, ließ mich eine selbstbewusste Ich-Erzählerin Lucy Barton vermuten, doch das Gegenteil ist der Fall. Grund dafür ist eine bitterarme Kindheit im ländlichen Illinois und das Aufwachsen in einer dysfunktionalen Familie. Nicht nur der Mangel an grundlegenden materiellen Gütern, sondern vor allem an Zuneigung und Liebe, ein unberechenbarer, offensichtlich kriegstraumatisierter Vater, eine kaltherzige, überforderte Mutter, zwei gleichgültige ältere Geschwister sowie Gewalterfahrung innerhalb der Familie und Mobbing in der Schule wirkten prägend.

Gesagtes und Ungesagtes
Der Bruch mit der Familie begann, nachdem Lucy als erstes Familienmitglied das College besuchte, und verstärkte sich durch ihre Eheschließung mit einem Akademiker aus bürgerlichem Haus mit deutschem Vater. Erst als Lucy, die es mit ihrem Mann nach New York geschafft und inzwischen zwei Töchtern hatte, Mitte der 1980er-Jahre aufgrund unerklärlicher Komplikationen nach einer Blinddarmoperation fast neun Wochen im Krankenhaus lag, kam die Mutter überraschend zu Besuch. Fünf Tage und Nächte harrte sie durchgehend am Bett der Tochter aus. In den Mutter-Tochter-Gesprächen ging es nicht um die eigene Vergangenheit, vielmehr berichtete die Mutter von den glücklosen Ehen und traurigen Schicksalen gemeinsamer Bekannter:

Es war ihre Stimme, um die es mir ging; was sie sagte, war nicht so wichtig. Und so lauschte ich ihrer Stimme; bis vor drei Tagen hatte ich sie jahrelang nicht mehr gehört, und sie klang verändert. Vielleicht hatte sich auch meine Wahrnehmung verändert, denn ich hatte ihren Ton als scharf und enervierend in Erinnerung. Jetzt war es das Gegenteil – immer dieser Eindruck von etwas Verhaltenem, lange Unterdrücktem. 

Es zählt, für Lucy wie für uns Leserinnen und Leser, das Ungesagte. Was die Mutter weder an Lucys Krankenbett noch beim nächsten Wiedersehen am eigenen Sterbebett neun Jahre später über die Lippen brachte, war eine Bestätigung ihrer Liebe. Umso heftiger reagierte Lucy auf die Empathie Fremder: auf einen Lehrer, ihren Arzt oder einen freundlichen Nachbarn.

Ein Schritt zur Genesung
Nach ihrem Krankenhausaufenthalt wurden die Teilnahme an eine Schreibworkshop und das Schreiben für Lucy zur Therapie. Der Besuch ihrer Mutter und Erinnerungsbruchstücke aus ihrer Kindheit, ohne Anklage wiedergegeben, bildeten die Grundlage ihres ersten Romans, während ihre durch die Vergangenheit verschattete Ehe und das Verhältnis zu ihren Töchtern im Hintergrund blieb:

Die Geschichte meiner Ehe kann ich nicht erzählen; sie widersetzt sich der Beschreibung, lässt sich nicht recht fassen von mir mit all ihren Sümpfen und Grasgestrüppen und Einschlüssen frischer Luft und dumpfer Luft, die mit den Jahren über uns hinwegstrichen.

Viel Raum für Interpretation
In diesem nur gut 200 Seiten umfassenden, stillen, unspektakulären und fragmentarisch erzählten Buch bliebt vieles vage und muss zwischen den Zeilen erahnt werden. An Mit Blick aufs Meer kommt es deshalb für mich nicht heran, auch nicht ganz an Die langen Abende, zumal der Erzählstil weniger eindrucksvoll ist. Was sich aber ausgezeichnet überträgt, sind die Melancholie und Einsamkeit, die Lucy Barton – trotz einer in vielerlei Hinsicht erfolgreichen Biografie – wie einen schweren Rucksack durchs Leben trägt.

Elisabeth Strout: Die Unvollkommenheit der Liebe. Aus dem Amerikanischen von Sabine Roth. Luchterhand 2016
www.randomhouse.de

Sandra Jung: Die Herrscher der Lüfte und ich

  Chapeau!

 

„Dieses Werk stellt meinen Werdegang vom Besuch der ersten Flugshow bis zur eigenen Falknerei dar.“

 

Wie verwirklicht man innerhalb von kaum zehn Jahren einen außergewöhnlichen Lebenstraum? Sandra Jung berichtet in diesem erzählenden Sachbuch, wie alles als 16-Jährige 2009 mit dem Besuch einer Falknerei begann, wie sie von der ersten Begegnung an fasziniert war von Greifvögeln, zielstrebig ihre Kenntnisse und Fähigkeiten ausbaute, nach und nach eigene Vögel erwarb und ihr Hobby schließlich 2018 zusammen mit ihrem Freund Ben auf der thüringischen Burg Greifenstein zum Beruf machte. Was fast märchenhaft anmutet, ist das Ergebnis harter Arbeit, Disziplin, wohlüberlegter Planung und bewundernswerter Ausdauer. Diese Zielstrebigkeit und der Mut der beiden Jungunternehmer sind ungeheuer beeindruckt, genauso wie ihre Begeisterungsfähigkeit für Vögel und die Natur.

Faszination Falknerei
Gelungen ist die Mischung aus Sachinformationen und Autobiografie, soweit sie für das Ziel der eigenen Falknerei von Belang ist. Überrascht hat mich, dass dem zweiwöchigen Intensivkurs zur Falknerin eine halbjährige Jagdausbildung verpflichtend vorausgeht, hatte ich doch die enge Verbindung zwischen diesen beiden Tätigkeiten bisher nicht gesehen. Erst mit diesem fundierten Wissen, das sich Sandra Jung noch vor dem Abitur aneignete, begann der Aufbau ihres eigenen Vogelbestands. Dabei war es für mich als absolutem Laien hilfreich, dass ich mit dessen allmählichem Anwachsen eine Art nach der anderen kennenlernen konnte, beginnend mit dem Wüstenbussard Dexter und Bens Weißkopfseeadler Milo, der Weißgesichtseule Linus, dem Andenadler Kayla, dem Schakalbussard Elise, dem europäischen Seeadler Mia und dem sibirischen Uhu Lotte, alle im Bildteil in der Buchmitte zu bewundern.

Neben dem tiefen Vertrauen zwischen Vogel und Falknerin, ohne die das freie Tier nicht wieder zurückkehren würde, ist es vor allem die Unberechenbarkeit, die Sandra Jung an ihrer Tätigkeit liebt:

Egal, was ich plane, egal, was ich vorhabe: Immer gibt es mindestens einen Vogel, der mir dazwischenfunkt und den Plan ändert. Langeweile kommt nie auf, und so bleibt meine Arbeit als Falknerin jeden Tag aufs Neue spannend und aufregend. Und auch das Flugprogramm ist dadurch niemals an zwei Tagen das gleiche. (S. 228)

Wüstenbussard auf dem Handschuh seiner Besitzerin. © M. Busch

Auf unterhaltsame Weise viel gelernt
Das Buch kam völlig ungeplant in meine Hände und ich war mir zunächst unsicher, ob ich etwas zu diesem Thema, in der Präsensform und mit so vielen Dialogen überhaupt würde lesen wollen. Über die heimischen Singvögel hinaus habe ich mich bisher selten mit Vögeln beschäftigt, war noch nie in einer Falknerei und interessiere mich überhaupt gar nicht für die Jagd. Letzteres wird sicher auch nach der Lektüre so bleiben, selbst wenn Sandra Jung deren naturpflegerische Aspekte herausstellt, aber die Begeisterung für ihre Vögel wirkte ansteckend. Auf unterhaltsame Art habe ich vieles über das Aussehen, das natürliche Verhalten, die Aufzucht, das Training, den Charakter und die Fütterung ihrer Pfleglinge erfahren. Dass sie darüber hinaus mit viel Zeitaufwand und auf eigene Kosten eine Vogelauffangstation betreibt, hat mir zusätzlich imponiert.

Mit diesem neu erworbenen Wissen ist nun der Besuch in einer nahen Falknerei fest geplant und bei meinem nächsten Aufenthalt in Thüringen werde ich ganz bestimmt einen Abstecher auf die Burg Greifenstein unternehmen.

Sandra Jung: Die Herrscher der Lüfte und ich. Unter Mitarbeit von Aylin LaMorey-Salzmann. Ullstein 2019
www.ullstein-buchverlage.de

Ellis Kaut & Uli Leistenschneider & Nataša Kaiser: Pumuckl macht einen Ausflug

  Lesenlernen mit dem Pumuckl

Ob meine Liebe zum Pumuckl auch daher rührt, dass wir fast auf den Tag genau gleich alt sind? Die erste Hörspielfolge des BR aus der Feder von Ellis Kaut (1920 – 2015) wurde im Februar 1962 nur neun Tage nach meiner Geburt ausgestrahlt, ab 1965 folgten die Bücher und ab 1982 Spielfilme und vor allem die Fernsehserie mit Gustl Bayrhammer als Meister Eder und der Stimme von Hans Clarin für den Pumuckl. Neben den Filmen der Augsburger Puppenkiste wurden diese Episoden zu den prägenden Filmerlebnisse für meine Kinder.

Der Pumuckl, wie er leibt und lebt
Ich habe mich deshalb sehr gefreut, dass der Verlag Kosmos den Pumuckl nun zum Star einiger Ausgaben der Erstleserreihe Bücherhelden macht, bearbeitet für die erste Klasse. Ein wenig skeptisch war ich, ob der Charakter des Klabautermanns und sein haarsträubender Unfug in diesen kurzen, einfachen Texten überhaupt zur Geltung kommen würde. Diese Sorge erwies sich allerdings als unbegründet, denn die Kinderbuchautorin Uli Leistenschneider, von der die neuen Texte stammen, hat ihre Aufgabe wunderbar gemeistert. Im Umschlag vorn und hinten wird ganz knapp alles zum Pumuckl gesagt, was man vorab über ihn wissen muss, und in den fünf kurzen Kapiteln spielt er wie immer seine Streiche, versteht alles viel zu wörtlich und reimt wild drauflos, immer gemäß dem Pumuckl-Motto: „Und was sich reimt, ist gut.“

Endlich Urlaub!
Im vorliegenden Band Pumuckl macht einen Ausflug geht es mit Meister Eder in den Wildpark. Aber warum eigentlich „Ausflug“, wo die beiden doch mit Zug fahren? Müsste es nicht eher „Auszug“ heißen? Und was ist eigentlich „Urlaub“, wozu braucht eine „Uhr“ denn „Blätter“? Kaum im Zug, erschreckt der unsichtbare Pumuckl schon die Mitreisenden und im Wildpark treibt er es noch doller. Da muss Meister Eder sich ganz schön anstrengen, um den übermütigen Kobold zu bändigen… Jedenfalls ist der Pumuckl am Abend rechtschaffen müde und sehr zufrieden mit dem gelungenen Tag.

Für kleine Leseratten und solche, die es werden möchten
Dank der großen Fibelschrift, der überwiegend einfachen Wortwahl, der kurzen Zeilen im Flattersatz, der übersichtlichen Abschnitte mit maximal sieben Zeilen und der reichen, sinnverstärkenden Bebilderung von Nataša Kaiser eignet sich das Buch für viele Schulanfängerinnen und -anfänger bereits am Ende der ersten Klasse, auch wenn der Textumfang etwas größer ist als bei Erstleserreihen mancher anderer Verlage. Die Rätsel am Ende jedes Kapitels dienen teils der Überprüfung des Textverständnisses, teils der Erholung und werden am Ende des Buches aufgelöst.

Wer mit dem Pumuckl lesen lernt, hat ganz bestimmt Spaß dabei und wird hoffentlich zur Leseratte!

Ellis Kaut & Uli Leistenschneider & Nataša Kaiser: Pumuckl macht einen Ausflug. Kosmos 2020
www.kosmos.de

Felix Weber: Staub zu Staub

  Weniger wäre mehr

Ein geistig behinderter Junge namens Siebold Tammens rettet Siem Coburg gleich zwei Mal das Leben. Beim ersten Mal lenkt das Kind durch sein schrilles, unkontrolliertes Kreischen die „Moffen“, niederländisches Schimpfwort für die Deutschen im Zweiten Weltkrieg und Synonym für Nazis, von ihrer Suche nach Coburg ab, der sich als Widerstandskämpfer auf dem Bauernhof von Siebolds Großvater versteckt. Beim zweiten Mal holt die Bitte von Siebolds Großvater, dem Tod des knapp Siebzehnjährigen auf den Grund zu gehen, den lebensmüden, vom Krieg gezeichneten Coburg wieder ins Leben zurück. Siebold, den der Großvater inzwischen schweren Herzens im Kloster Sint Norbertus bei Venlo untergebracht hatte, war dort unter ungeklärten Umständen verstorben. Nicht der einzige Todesfall bei den mehr als 400 Patienten, die von nur 20 Mönchen und wenigen Laien völlig unterversorgt sind. Besonders im Pavillon für die schweren Fälle, in dem einzig ein junger Mönch als ungelernte Pflegekraft 36 schwerstbehinderte Kinder auf engstem Raum betreut, kam es vermehrt zu Todesfällen. Wunschgemäß beginnt Siem Coburg im Kloster selbst und in dessen Umgebung zu recherchieren. Keine leichte Aufgabe, denn nicht nur innerhalb der Klostermauern herrscht striktes Schweigen:

„Letzten Endes wird hier alles unter den Teppich gekehrt. Du hast ja schon begriffen, dass dieses ganze Dorf vom Sint Norbertus abhängt, aber das ist nicht der einzige Grund. Die Menschen hier finden, dass die Mönche gute Arbeit leisten, und das bedeutet, dass man schweigt, wenn etwas schiefgeht. Schmutzige Wäsche wird nicht draußen gewaschen.“ (S. 163)

Soweit die Krimihandlung, die allerdings viel weniger Raum einnimmt, als dies bei einem Kriminalroman, einem preisgekrönten gar, zu erwarten wäre. Das alleine hätte mich nicht gestört, hatte ich mir von der Lektüre doch vor allem ein Bild der Niederlande während und nach dem Zweiten Weltkrieg versprochen. Leider hat sich jedoch auch diese Erwartung nur teilweise erfüllt, denn die bunt durcheinandergehende Themenfülle, die Felix Weber in Staub zu Staub aufgreift, ist einfach viel zu groß. Von Tagebucheinträgen eines Mönchs aus dem Ersten Weltkriegs über die niederländische Widerstandsbewegung im Zweiten Weltkrieg einschließlich ihrer Unterwanderung, vom Umgang mit Behinderten im und nach dem Zweiten Weltkrieg über mobile Gaskammern der SS in der Ukraine, von zum Tode verurteilten Akteuren des Naziregimes und solchen, die nach dem Krieg ihre Karriere unbehindert fortsetzen konnten, bis zu Kollaborateuren und solchen, die zu Unrecht verdächtigt und angeklagt wurden, reicht die Themenpalette, und das ist längst nicht alles. Dazu gibt es eine Vielzahl von Biografien, durchweg düster und hoffnungslos, wie die Stimmung im ganze Roman. Bedauerlicherweise wurden die ebenfalls zahlreichen Charaktere vor meinen Augen auch kaum lebendig, weder Coburg noch die Mönche noch die Dorfbewohner, ein wenig mehr Coburgs Geliebte Rosa. Gehadert habe ich außerdem bei Sätzen wie diesem mit der Übersetzung:

Das Mädchen hatte zunächst geschwiegen, weil sie schwanger war, aber als sich herausstellte, dass sie ein Kind erwartete, hat sie ihren Eltern gegenüber seinen Namen genannt. (S. 370)

Was nach der Lektüre bleibt, ist vor allem ein Bedürfnis, mehr über die neuere niederländische Geschichte zu erfahren.

Felix Weber: Staub zu Staub.  Aus dem Niederländischen von Simone Schroth. Penguin 2020
www.randomhouse.de