Jens Rassmus: Juhu, LetzteR!

  Alles auf den Kopf gestellt

Weil immer die gleichen Teilnehmer bei der Tierolympia die Medaillen abräumen, schlafen die Zuschauer auf der Tribüne ein und purzeln von den Sitzen. Höchste Zeit deshalb für grundlegende Veränderungen! Zum Glück haben der Regenwurm, der Hamster und die Zwergmaus eine tolle Idee:

„Ich weiß was!“, meldete sich der Hamster. „Es müssten einfach mal andere gewinnen!“
„Stimmt!“, nickte der Regenwurm.
„Und zwar die, die sonst immer verlieren!“, fuhr der Hamster fort und schlug mit der Faust in die Hand.
„Ihr habt recht!“, sagte die Zwergmaus. „Und es ist eigentlich ganz einfach! Wir müssen nur die Regeln ändern. Ab jetzt gewinnen immer die, die verlieren.“

Wie plötzlich Schnecke und Schildkröte gemeinsam den 100-Meter-Lauf gegen den Gepard gewinnen und mit welcher wahrlich unterirdisch schlechten Leistung der Maulwurf im Hochsprung triumphiert, erzählt und illustriert Jens Rassmus außergewöhnlich vergnüglich in seinem neuen Vorlese-Bilderbuch Juhu, LetzteR! für kleine Zuhörerinnen und Zuhörer ab fünf Jahren. Während sich die einen über ihre katastrophalen Siegleistungen freuen, müssen die anderen erstmals Niederlagen verkraften, die sie trotz einfallsreichster Tricksereien nicht vermeiden können.

© B. Busch

Ganz hervorragend klappt in Juhu, LetzteR! das Zusammenspiel zwischen dem humorvollen Text mit den pointierten Dialogen und den präzise passenden Illustrationen, mal ganz- oder doppelseitig in Farben, mal als Schwarz-Weiß-Zeichnungen im Text.

Am Ende ist das schräge Experiment ein Erfolg auf ganzer Linie:

Es schrie, es jubelte, es klatschte. Es brüllte, pfiff, flatterte und feierte.
Die Tribüne bebte, sie schwankte hin und her. Noch nie hatte es eine solche Begeisterung gegeben! Die Tiere hüpften, sprangen oder ließen sich in die Luft werfen.

Ein Erfolg für alle? Nein, ein Tier ist auch bei diesem innovativen Wettbewerb wie immer eingeschlafen. Welches? Das muss man beim (Vor-)Lesen schon selbst herausfinden…

Jens Rassmus: Juhu, LetzteR! G&G Nilpferd 2020
www.ggverlag.at

Rosa Liksom: Die Frau des Obersts

  Ideologie und Gewalt

Im Roman Lempi, das heißt Liebe der Finnin Minna Rytisalo, einem Lesehighlight 2018, hatte ich bereits einiges zur Geschichte Lapplands im Zweiten Weltkrieg erfahren. Für die Lektüre von Die Frau des Obersts von Rosa Liksom war dieses Wissen hilfreich, auch wenn die Handlung hier schon früher einsetzt. Vier Kriege führte Finnland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nach der Unabhängigkeit 1918 fochten im Finnischen Bürgerkrieg die siegreichen bürgerlichen Weißen mit den sozialistischen Roten die neue Staatsform aus. Im Winterkrieg 1939/40 gegen die Sowjetunion wahrte Finnland zwar seine Unabhängigkeit, verlor jedoch Teile Ostkareliens. Vom Sommer 1941 bis Herbst 1944 kämpfte Finnland an der Seite des Deutschen Reiches im sogenannten Fortsetzungskrieg erneut gegen die Sowjetunion mit dem Ziel eines Großfinnlands. Der Waffenstillstandsvertrag vom 19.09.1944 verpflichtete Finnland zur Vertreibung der 200.000 Wehrmacht-Soldaten aus Lappland, wodurch es zwischen September 1944 und April 1945 zum Lapplandkrieg mit der Folge der verbrannten Erde kam.

Überall Gewalt
Die namenlose Ich-Erzählerin des Romans, für die es ein reales Vorbild gibt, wird schon im Kindesalter zuhause und bei den „Lottas“, einer paramilitärischen Frauenorganisation der Weißen, auf ihre Bestimmung vorbereitet:

Ich lernte, dass eine Frau fleißig bis zur Selbstaufopferung und gehorsam sein und sich gründlich auf ihr künftiges Los als Soldatenmutter vorbereitet sein muss. Dass zum Mannsein ein Stück Tyrannei gehört und dass der Mann der Frau moralisch überlegen sein soll, […] und dass die Frau lernen muss, das zu akzeptieren und den Mann trotzdem in aller Unschuld und Reinheit zu lieben.

Trotz Warnungen wird sie mit gut 20 Jahren die Geliebte des ebenso namenlosen Obersts, 28 Jahre älter und für seine Gewalttätigkeit berüchtigt. Als seine Verlobte führt sie ein privilegiertes Leben, verinnerlicht die nationalsozialistische Propaganda, akzeptiert die Gräuel in deutschen wie finnischen Lagern, ist mit Generaloberst Dietl befreundet und trifft Göring, Himmler, Mannerheim, Speer, den norwegischen Naziführer Quisling und sogar Hitler. Solange er sich im Feld austoben kann, wahrt der Oberst den häuslichen Frieden. Als er sie jedoch nach dem Waffenstillstandsvertrag und zehn Jahren „Techtelmechtel“ heiratet und sich durch Untertauchen dem „Bruderkrieg“ sowie einer möglichen Verurteilung als Kriegsverbrecher entzieht, beginnen mörderische häusliche Gewaltexzesse.

Von seinem Trieb genötigt jagte und verehrte er ein Weibchen so lange, bis er es in der Falle hatte, und danach begann die Zeit der Folter und Verächtlichkeit.

Erst nach 20 Jahren Beziehung und einem Psychiatrie-Aufenthalt gelingt ihr ein neues Leben als Lehrerin und Schriftstellerin.

Vier Leben
In der kurzen Rahmenhandlung, je zwei Seiten zu Beginn und am Ende, spricht ein auktorialer Erzähler über vier Leben der Ich-Erzählerin: Kindheit, die Zeit mit dem Oberst, eine weitere Ehe mit einem 28 Jahre jüngeren Mann, den sie als 14-jährigen Schüler verführt, und das Lebensende, als sie in Abgeschiedenheit ihren Frieden findet.

Zwiespältiges Fazit
So sehr mich der geschichtliche Hintergrund des Romans interessiert, zu dessen Verständnis das lobenswerte Glossar beiträgt, so sehr hat mich die obszöne Sprache abgestoßen, die ich nur schwer einer alten Frau zuordnen kann. Es fehlt mir auch völlig an Empathie für die Ich-Erzählerin, immerhin eine misshandelte Frau, die als glühende Nationalsozialistin selbst kein Mitleid mit den Opfern hatte und sich bis zuletzt nicht dafür schämt.

Rosa Liksom: Die Frau des Obersts. Aus dem Finnischen von Stefan Moster. Penguin 2020
www.randomhouse.de

Stefanie Höfler: Der große schwarze Vogel

  Wie das ist, wenn jemand plötzlich stirbt

Ich will aber nicht, dass das hier nach einer düsteren Geschichte klingt. Ich weiß selbst gar nicht, ob ich die Geschichte düster finde. Ich weiß nicht einmal, ob das hier eine Geschichte wird. Aber falls es eine wird, dann soll sie erzählen, wie das ist, wenn jemand plötzlich stirbt. Wie die ersten Tage vergehen, wie man damit klarkommt. Oder wie man eben nicht damit klarkommt.

Als Ben an einem wunderschönen Oktobersonntag erwacht, versuchen Sanitäter gerade, seine Mutter nach einem Herzversagen wiederzubeleben. Fassungslos erleben der 14-jährige Ich-Erzähler, sein sechsjähriger Bruder Karl, genannt Krümel, und ihr Pa das Scheitern der Rettungsaktion. Von nun ist nichts mehr, wie es war.

Lustig war die Mutter, manchmal so albern, chaotisch und aufgedreht, dass es dem stillen, schüchternen Ben peinlich war. Bunt war alles um sie herum, die Wände der Wohnung, ihre Kleidung, ihr kupferrotes Haar und ihre grünen Augen, aber manchmal war sie genervt und wütend. Immer war sie lebendiger als andere Mütter, liebte die Natur und Gedichte und konnte auch melancholisch sein:

Der Tod ist wie ein Flügelschlag, hatte Ma einmal gesagt. Sie liebte solche Sprüche. Wie der Flügelschlag von einem großen schwarzen Vogel, der vorbeifliegt, und sein Schatten fällt kurz auf den, der zufällig darunter sitzt, und etwas länger auf diejenigen, die vielleicht gerade drum herum sind. Als hätte sie es geahnt, oder?

Die 1978 geborene Lehrerin und Theaterpädagogin Stefanie Höfler lässt ihren Protagonisten das Geschehen beeindruckend sensibel, direkt und völlig ohne Kitsch erzählen. Nie hatte ich Zweifel daran, dass ich einem ungewöhnlich besonnenen, aufmerksam beobachtenden Vierzehnjährigen zuhöre. Chronologisch berichtet Ben über die Woche nach dem plötzlichen Tod, dazwischen finden sich kursiv gedruckt eingeschobene Kapitel mit den Überschriften „Davor“, „Jetzt“ und „Danach“, so dass die Zeit zwischen Bens frühesten Erinnerungen und dem ersten Todestag der Mutter erfasst wird. Damit entsteht einerseits ein Bild der Mutter, die ihren Söhnen die Liebe zu Bäumen, Wald und Pflanzen mitgegeben hat, andererseits erlebt man hautnah die unterschiedlichen Verarbeitungsstrategien der Zurückgebliebenen. Während der Vater zunächst zwischen Erstarrung, Selbstvorwürfen und Wut schwankt, sorgt der pfiffige Krümel dafür, dass er die Ankunft der Mutter im Himmel nicht verpasst, baut ein Mausoleum und bemalt heimlich den Sarg bunt. Ben dagegen schultert zu viel Verantwortung und kann lange nicht weinen.

Ein großes Geschenk ist die Unterstützung für Ben, der mir beim Lesen ebenso sehr ans Herz wuchs wie der patente Krümel. Sein praktisch veranlagter Freund Janus ist unverstellt für ihn da, die spöttische, unnahbare Klassenkameradin Lina entpuppt sich als Expertin in Sachen Tod und kompetente Gesprächspartnerin und Pas Schwester Gerda kümmert sich einfühlsam-zurückhaltend um die drei Trauernden. Sie alle machen die Geschichte heller, als das Thema es erwarten lässt.

Zurecht war Der große schwarze Vogel 2019 in den Kategorien „Jugendbuch“ und „Jugendjury“ doppelt für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert, auch wenn es nicht nur für junge Leserinnen und Leser ab zwölf, sondern auch für Erwachsene eine höchst empfehlenswerte Lektüre ist.

Für den Einsatz im Unterricht bietet der Verlag Beltz & Gelberg eine Lehrerhandreichung für die Klassenstufe sieben bis neun mit Kopiervorlagen an.

Stefanie Höfler: Der große schwarze Vogel. Gulliver 2019

Heike Krauter-Dierolf & Christian Wilken: «Der große schwarze Vogel» im Unterricht. Beltz 2019
www.beltz.de

Tessa Hadley: Zwei und zwei

  Vier sind genug – drei sind einer zu viel

Late in the Day lautet der Originaltitel des siebten Romans der britischen Autorin Tessa Hadley, und tatsächlich ist es bereits spät im Leben der Protagonisten, um Korrekturen vorzunehmen. Zwei Ehepaare der englischen Mittelklasse Ende 50 mit Ambitionen im künstlerischen Bereich stehen im Mittelpunkt, zwei scheinbar stabile, gewöhnliche Ehen. Doch mit dem überraschenden Tod eines von ihnen gerät das wohlaustarierte Beziehungsgeflecht der vier besten Freunde völlig aus den Fugen, denn: Drei sind plötzlich einer zu viel.  

Damals und heute
Um die komplizierte Verflechtung der vier Protagonisten Alex, Christine, Zachary und Lydia zu verstehen, geht Tessa Hadley weit in deren Vergangenheit zurück. Vier der sieben Kapitel sind Momentaufnahmen von vor etwa dreißig, zwanzig und zehn Jahren, beginnend mit der Zeit des Kennenlernens, dann mit der Eröffnung von Zacharys Galerie in einem ehemaligen Londoner Kirchengebäude und zuletzt mit einem gemeinsamen Urlaub in Venedig. Jede dieser Rückblenden zeigt, dass die Paarbildung auch anders hätte verlaufen können.

Die vier Unzertrennlichen
Christine und Lydia waren dickste Freundinnen seit Schulzeiten, studierten und lebten gemeinsam, als sie die beiden ebenso eng verbundenen Alex und Zachary kennenlernten. Die melodramatisch veranlagte Lydia stakte damals erfolglos den verheirateten Alex, Sohn tschechischer Dissidenten, Pessimist und ambitionierter Verfasser von Gedichten, Christine hatte eine Affäre mit dem fürsorglichen, zugewandten Zachary, der sie zur Aufgabe ihrer Dissertation zugunsten der Kunst animierte. Doch es kam anders: Lydia heiratete Zachary, Christine Alex und die vier bildeten fortan ein unzertrennliches Quartett – bis zu Zacharys Tod. Anstatt in der Trauer noch enger zusammenzufinden, gerät das scheinbar stabile Gerüst ihres Kartenhauses mehr und mehr ins Wanken:

Ohne Zachary ist unser aller Leben in Unordnung geraten. Gerade ihn durften wir auf keinen Fall verlieren.

Wenig Empathie, aber ein messerscharfer Blick
Zwei und zwei
ist ein sorgfältig komponierter Roman mit zwei einschneidenden Ereignissen, eines zu Beginn – Zacharys Tod – und ein zweites in der Mitte, das ich hier zwar nicht verraten möchte, das sich aber früh erahnen lässt. Gerade diese perfekte Anordnung ist aber für mich auch der Schwachpunkt des Buches, wirkt doch alles wie am Reißbrett konstruiert und ich hätte mir mehr Empathie und weniger Distanz der Autorin gewünscht. Entsprechend fiel es auch mir schwer, Wärme für die Figuren aufzubringen, nicht zu verwechseln mit Sympathie. Am ehesten gelingt es noch für den verstorbenen Zachary, der sich für die anderen einsetzte und eigene Bedürfnisse zurückstellte, und für die zurückhaltende, reflektierte, von ihrem Mann unterschätzte Künstlerin Christine, die im letzten Drittel deutlich an Format gewinnt. Alex dagegen ist und bleibt ein vom Leben enttäuschter, schwacher und narzisstischer Charakter, ebenso wie Lydia, die sich eher treiben lässt, als zu handeln. Was Tessa Hadley ausgezeichnet gelingt, ist das Aufzeigen von Wirkkräften und Abhängigkeiten innerhalb der Beziehungen, sei es in Vierer-, Dreier- oder Zweierkonstellationen.

Der feine graue Leineneinband mit den symbolhaft angeordneten Kirschen, von denen eine nur halb zu sehen ist, passt außergewöhnlich gut und das Buch liegt mit seinem etwas kleineren Format beim Lesen ausgezeichnet in der Hand.

Tessa Hadley: Zwei und zwei. Aus dem Englischen von Gertraude Krueger. Kampa 2020
kampaverlag.ch

Magdalena Skala: Sachen

  Ein preisgekröntes Entdecker-Bilderbuch

Den Bilderbuchillustrationspreis „Der Meefisch“, hochdeutsch: „Der Mainfisch“, habe ich erst vor Kurzem kennengelernt. Er wird jedoch bereits seit 2005 alle zwei Jahre von der Stadt Marktheidenfeld am Main für ein unveröffentlichtes Bilderbuchprojekt vergeben. Die ausgezeichnete Vorlage wird seit dem Preisjahr 2009 im Würzburger Kinder- und Jugendbuchverlag Arena veröffentlicht, der Gewinner oder die Gewinnerin erhält zusätzlich ein Preisgeld von 2000 Euro. Begleitend findet eine Ausstellung der 18 besten Beiträge im Kulturzentrum Franck-Haus in Marktheidenfeld statt, während der die Besucherinnen und Besucher ein Werk mit einem eigenen, mit 500 Euro dotierten Publikumspreis auszeichnen.

Meefisch-Preisträgerin 2019 unter über 100 Teilnehmerinnen und Teilnehmern wurde die Grafikdesign-Studentin Magdalena Skala. Ihr Bilderbuch Sachen. Mein 200-Bilder-Buch hat nicht nur die Fachjury, sondern auch mich mit seinen klaren Illustrationen und den leuchtenden Farben Blau, Gelb, Rot und Orange überzeugt. Auf acht glänzenden Doppelseiten aus Pappe mit abgerundeten Ecken sind – geordnet nach den Räumen eines Hauses – Alltagsgegenstände aus Garderobe, Kinderzimmer, Wohnzimmer, Küche, Speisekammer, Bad, Keller und Waschküche abgebildet, auf weiteren zwei Doppelseiten Gartenutensilien sowie Bauernhoftiere.

Die Perspektive ist jeweils so günstig gewählt, dass die Gegenstände gut erkennbar sind, allerdings braucht es wegen der Beschränkung der Farben trotzdem Fantasie, denn die Katze ist rot, der Kaktus blau und das Brot zitronengelb. Anspruchsvoll ist die Doppelseite mit der Speisekammer, besonders einfach und auch für ganz kleine Betrachterinnen und Betrachter zu benennen sind demgegenüber die Gegenstände in der Waschküche und die Tiere.

Pfiffig ist die Idee, auf jeder Doppelseite einen kleinen Marienkäfer zu verstecken, mal krabbelnd, mal fliegend oder als Dekoration, der nicht immer leicht zu finden ist. Man muss also schon genau hinsehen bei diesem Bilderbuch ohne Text, bei dem es für Kinder ab eineinhalb Jahren jede Menge zu entdecken und zu erzählen gibt.

Magdalena Skala: Sachen. Mein 200-Bilder-Buch. Arena 2020
www.arena-verlag.de

#einlesezeichensetzen

In dieser besonderen Situation kommt es mehr denn je darauf an, sich gegenseitig zu unterstützen und Mut zu machen. Viele Buchhandlungen haben ihre Läden geschlossen, aber sind weiterhin für ihre Kundinnen und Kunden da. Sie bieten dafür die Möglichkeit zur Bestellung über den Onlineshop, per E-Mail oder Telefon an, oft mit kostenloser Lieferung zu Fuß, per Rad, mit dem PKW oder DHL. Bitte nutzen Sie diese Chance und unterstützen Sie den unabhängigen lokalen Buchhandel. Amazon und die großen Ketten werden die Krise überleben, die kleinen Indie-Buchhandlungen aber sind in größter Gefahr.

Damit wir auch nach der Corona-Krise noch den großartigen Service, die Veranstaltungen, das Angebot zum Anfassen und die vielen innovativen Ideen unserer individuellen Buchhandlungen vor Ort haben!

Hier findet man Buchhandlungen in der eigenen Umgebung:
www.geniallokal.de
www.mybookshop.de
www.buchhandlung-finden.de

Liz Moore: Long Bright River

  Familiendrama – Gesellschaftsroman Krimi

Michaela „Mickey“ Fitzpatrick ist Streifenpolizistin in Kensington, einem Stadtteil von Philadelphia, der heute als größter Drogenmarkt im Osten der USA gilt. Eigentlich müsste sie längst Detective sein, doch möchte sie auf diese Weise ihre jüngere Schwester Kacey im Auge behalten. Kacey ist seit dem Teenageralter drogenabhängig und finanziert ihre Sucht wie so viele in Kensington mittels Prostitution. Doch nun ist sie seit einigen Wochen wie vom Erdboden verschluckt, während gleichzeitig ein Frauenmörder sein Unwesen in diesem elenden Stadtteil treibt. Seine Opfer sind junge Prostituierte und Mickey befürchtet bei jeder weiteren Leiche, es könnte sich um ihre Schwester handeln. Verzweifelt sucht sie zugleich nach Kacey und nach dem Killer.

Eine kontrollierte Ich-Erzählerin
Warum die beiden Schwestern seit fünf Jahren keinen Kontakt mehr zueinander haben, obwohl eine lieblose Kindheit bei ihrer Großmutter sie zuvor zusammengeschweißt hatte, erfährt man erst allmählich. Die Ich-Erzählerin Mickey rückt spät mit überraschenden Wahrheiten heraus, ein gelungener Kunstgriff der 1983 geborenen US-amerikanischen Autorin Liz Moore. Abwechselnd handeln die Kapitel vom „Jetzt“ und vom „Damals“. In der Gegenwart geht es um Mickeys doppelte Suche sowie um ihren Alltag als alleinerziehende Mutter, in der Vergangenheit um die schwierigen Kindheit und Jugend der Schwestern nach dem Drogentod der Mutter und dem Verschwinden des Vaters, die zu frühe Verantwortung Mickeys für ihre jüngere Schwester und deren Abgleiten ins Drogenmilieu. Scheinen die Rollen als „saubere“ Polizistin im Kampf gegen Drogen, Gewalt und polizeiliche Korruption einerseits und drogenabhängige Schwester andererseits zunächst klar verteilt, so bekommt das Bild der Ich-Erzählerin mit der Zeit immer mehr Risse:

Ich denke an die Entscheidungen, die meine eigene Mutter getroffen hat – und mir wird schmerzlich klar, dass ich mich gar nicht so sehr von ihr unterscheide. Nur die Art unserer jeweiligen Abhängigkeit war eine andere. Die ihre war Rauschgift, eindeutig, klar definiert. Meine ist amorph, aber nicht weniger ungesund. Hat mit Selbstgerechtigkeit oder meinem eigenen Selbstbild oder Stolz zu tun.

Krimi oder Roman?
Jede Leserin und jeder Leser wird für sich selbst entscheiden müssen, ob Long Bright River für sie oder ihn mehr Krimi oder mehr Roman ist, als den ihn der Verlag C.H. Beck bezeichnet. Stand für mich zunächst die Frage nach dem Serienkiller im Vordergrund, so wurde dies im Verlauf immer mehr vom Schicksal der beiden Schwestern überlagert. Beides zusammen hat bei mir einen Sog ausgelöst, der mich das sehr flüssig geschriebene Buch nicht mehr aus der Hand legen ließ. Der Roman ist also – neben der Krimihandlung – vieles zugleich: ein Familienroman über eine erschreckend dysfunktionale Familie, ein schonungsloses Gesellschaftsdrama über desaströse Verhältnisse in einem von Drogen gefluteten Umfeld mit sehr atmosphärischen Ortsbeschreibungen und nicht zuletzt ein Roman über alleinerziehende Frauen und ihren täglichen Spagat zwischen Arbeit und Kinderbetreuung. Obwohl keines dieser Themen in Deutschland weniger aktuell ist, erschien mir das Buch sehr amerikanisch und in Teilen klischeehaft. Für die Spannung und das gekonnte Spiel der Ich-Erzählerin mit der Wahrheit war das jedoch von untergeordneter Bedeutung.

Liz Moore: Long Bright River. Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann. C.H. Beck 2020
www.beck.de

Hendrik Lambertus: Die Mission der tollkühnen Bücher

  Ein buchiges Fantasy-Abenteuer

Das Antiquariat Dinas Bücherhort in der Papyrusgasse 13 ist das Hauptquartier der Buchagenten und -agentinnen. Hier sind die tollkühnen Beschützer und Beschützerinnen der gesamten Buchheit zuhause, die bei Alarm unschuldige bekritzelte oder zerfledderte Bücher retten, verlorene Bücher unter dem Sofa hervorziehen, durcheinandergeratene Geschichten neu ordnen oder auch mal ein Taschentuch vorbeibringen, wenn ein Buch unter Staub-Allergie leidet. Alle Buchagenten und -agentinnen waren selbst einst normale Bücher, bevor sie von der machtvollen Magie des Buchvaters und Zauberers Hermes Trismegistos erfüllt und lebendig wurden, ausgestattet mit hauchdünnen Armen und Beinen und einem Gesicht auf dem Buchrücken.

Das Zauberbuch Hedy Hexensocke, das Piratenbuch Paulchen Piratenkind und die Detektivgeschichte Reginald Ratlos sind Nachwuchs-Buchagenten frisch vom Trainings-Parcours, als sie zu ihrer ersten richtigen Mission gerufen werden. Der vermeintliche Routinefall entpuppt sich schnell als Bedrohung für die gesamte Buchheit, denn ein geheimnisvoller Zensor geht um und liest unschuldige Bücher leer. Zurück bleiben Bücher, deren spannendste und fantasievollste Teile verschwunden sind, und zwar zugleich in allen Exemplaren auf der ganzen Welt. Als dann auch noch die Chefin des Antiquariats, die erste Buchagentin Tabula Smaragdina, entführt wird, herrscht Alarmstufe Rot. Statt der Regel Nummer zwei: „Menschen dürfen uns nicht sehen – wo immer wir auch schleichen und stehen“ gilt nun die Ausnahmeregel 27c: „Wird die Not am größten sein, weihen wir auch Menschenkinder ein“. Die buchbegeisterten Geschwister Melusine und Arthur Gutenberg unterstützen die Jungagenten tatkräftig bei ihrer Rettungsaktion.

Viele „buchige“ Stationen müssen die fünf Abenteurer besuchen, eine alte Klosterbibliothek, eine Buchhandlung, die Stadtbibliothek und meinen absoluten Lieblingsort, den „Zeichenwald in den Buchlanden“. Hier leben die gefährlichen „Papiertiger“, wachsen „Buchstablumen“, „Silbüsche“ und „Wortweiden“, von hier kommen auf dem „Schreibfluss“ Buchstaben, Silben und Wörter in die Menschenwelt und verursachen Biber die gefürchteten Schreibblockaden.

Das Fantasy-Abenteuer von Hendrik Lambertus ist in erster Linie ein Buch für Jungen und Mädchen ab acht Jahren, die beim Lesen kräftig miträtseln können. In einer zweiten, durchaus auch für Erwachsene interessanten Ebene geht es darüber hinaus um die Frage, ob man Texte vor der Fantasie ihrer Leserinnen und Leser bewahren muss, oder ob die Vorstellungskraft nicht vielmehr unbeschränkt bleiben soll, wie es der Buchvater Hermes Trismegistos vehement vertritt:

Aber sie [die Geschichten] sind nun einmal veränderlich, das ist ihre Natur – wie bei allem, was lebendig ist. Es gibt nicht nur den einen Robinson. Er wird jedes Mal neu erschaffen, wenn wieder ein Mensch seine Geschichte liest.

Die Mission der tollkühnen Bücher ist eine genau solche Geschichte, die die Fantasie kleiner wie großer Leserinnen und Leser anregt, nicht nur wegen des vielschichtigen Textes, sondern auch wegen der vielen detailreichen wie atmosphärisch passenden Illustrationen von Alica Räth. Deshalb hoffe ich, dass es nicht bei dieser einen Mission für die Buchagenten „mit und ohne Einband“ bleibt!

Hendrik Lambertus: Die Mission der tollkühnen Bücher. Mit Illustrationen von Alica Räth. Ueberreuter 2020
www.ueberreuter.de

Wolfgang Schorlau & Claudio Caiolo: Der freie Hund

  Commissario mit Utopie

Commissario Antonio Morello, Spitzname „Der freie Hund“, neuer Leiter der Abteilung für Gewaltverbrechen in Venedig, wird von den Kollegen nicht gerade warm empfangen. Vorurteile gegen Süditaliener, Misstrauen wegen seiner geheimnisvollen Versetzung von Sizilien in den Norden und Neid schlagen ihm entgegen. Auch Morello ist nicht begeistert, erscheint ihm doch die angeblich „schönste Stadt der Welt“ eher wie Dantes Inferno, „stinkig, kalt, nass und unfreundlich“. Er ist nicht freiwillig hierhergekommen, vielmehr dient die Maßnahme zumindest vorgeblich seinem Schutz, denn er hat mehr als 40 Mafiosi in den Knast gebracht, Bande zwischen der Cosa Nostra und der Politik aufgedeckt, privat bitter bezahlt und „steht auf der Todesliste von halb Cefalù und ganz Palermo“.

Der erste Mordfall
Beginnt sein erster Arbeitstag noch mit einem vergleichsweise harmlosen Taschendieb, so gibt es am zweiten bereits eine Leiche. Der Student Francesco Grittieri aus reicher venezianischer Familie, einer der Gründer des Studentenkomitees „Studenti contro navi da crociera“ wurde mit zahlreichen Messerstichen getötet. Dass er sich gegen die Kreuzfahrtschiffe im Herzen Venedigs, und gegen den Massentourismus engagierte, passte nicht jedem. Seine Familie, mit der er im Streit lag, ist Teilhaberin der Hafengesellschaft, Hafenarbeiter fürchten um ihre Jobs. Seine Freundin war krankhaft eifersüchtig, sein bester Freund zugleich Rivale in Liebesangelegenheiten und in der Führung der Protestbewegung. Die neuen Kollegen halten Moretti für paranoid und zwangsneurotisch, als er hauptsächlich in Richtung der Hafengesellschaft und der Familie Grittieri ermittelt und sogar seinen „Mafiaspleen“ auslebt – wo es doch nach ihrer Ansicht in Venedig zwar Korruption, aber keine ehrenwerte Gesellschaft gibt…

Noch nicht ganz rund
Das Autorenduo Wolfgang Schorlau und Claudio Caiolo verfolgt Commissario Morellos 17 erste Tage an neuer Wirkungsstätte und mischt den Kriminalfall mit viel venezianischer Geografie und Architektur, aktuellen politischen und ökologischen Problemen der Stadt, der Küche sowohl Venedigs als auch Siziliens, einer Liebesgeschichte und den Verflechtungen zwischen Mafia und Politik. Leider bleibt gerade Letzteres sehr an der Oberfläche und Morettis Monologe zu diesem Thema erschienen mir seltsam distanziert, obwohl er doch für seine Utopie, den Sieg über die Mafia, angeblich brennt. Dass die Investigativjournalistin und Mafia-Expertin Petra Reski ihre Nennung in der Danksagung gerichtlich untersagen ließ, stimmt mich ebenfalls nachdenklich. Der Fall des ermordeten Studenten tritt immer wieder sehr in den Hintergrund und konnte mich nicht so packen, wie ich es erwartet hatte, zumal relativ schnell klar war, worauf die Auflösung schließlich hinauslaufen würde. Überzeugt hat mich dann allerdings der Showdown, als es so richtig spannend und dramatisch wurde – mit einer gut eingefädelten, unerwarteten Wendung. Sprachlich eher einfach, hat das Buch mit den Seitenzahlen am jeweils äußeren Rand und der Coppola, Morellos geliebter Schiebermütze, als Trennung zwischen den Abschnitten ein originelles Layout, ist aber durch den Druck bis weit nach innen nur mit Kraft offen zu halten, was das Lesen erschwert.

Auch wenn mich dieser erste Fall Morellos in Venedig noch nicht überzeugen konnte, würde ich der Reihe vor allem wegen der interessanten Ermittlergruppe noch eine Chance geben, nun, wo sich das Team endlich zusammenzuraufen scheint.

Wolfgang Schorlau & Claudio Caiolo: Der freie Hund. Kiepenheuer & Witsch 2020
www.kiwi-verlag.de

Katya Apekina: Je tiefer das Wasser

  Familiensumpf

Zwölf Jahre haben Edith und Mae nichts von ihrem Vater Dennis Lomack gehört, als er sie nach dem Selbstmordversuch ihrer Mutter Marianne von New Orleans nach New York holt. Die 14-jährige Mae begrüßt die Befreiung aus der Umklammerung ihrer psychisch kranken Mutter und hofft auf einen Neuanfang bei ihrem fremden Vater, einem gefeierten Schriftsteller. Ganz anders die 16-jährige Edith, die noch weiß, wie der Vater nach Mariannes erstem Suizidversuch die Familie verließ. Sie misstraut ihm, gibt ihm die Schuld am Leiden der Mutter und wirft ihm vor, seine Töchter damit alleine gelassen zu haben. Nun fühlt sie sich vom Vater gekidnappt und möchte so schnell wie möglich zu ihren Freunden, vor allem aber aus Verantwortungsbewusstsein zu ihrer Mutter zurück. Als der Vater dies ablehnt, macht sie sich heimlich auf den Weg und lässt Mae allein bei ihm zurück. Für beide Schwestern nimmt das Verhängnis seinen Lauf.

Viele Stimmen, mehrere Zeitebenen und doch nie verwirrend
Der Debütroman Je tiefer das Wasser der in Moskau geborenen, mit drei Jahren in die USA eingewanderte Autorin Katya Apekina hat mich von der ersten Seite in Bann geschlagen. Anders als das eine Augenpaar auf dem dekorativen Cover suggeriert, wird hier aus der Sicht vieler erzählt. Am häufigsten hören wir Ediths und Maes Stimmen, Ediths im Präsens parallel zum Geschehen im Jahr 1997 aus unmittelbarer Betroffenheit, Maes dagegen aus der Rückschau 2012, ruhiger, abgeklärter und im Perfekt. Dazwischen erhebt sich ein polyfoner Chor aus mehr oder weniger direkt von der Familientragödie Betroffenen, ergänzt durch weit in die Vergangenheit zurückreichende Briefe, Gesprächsprotokolle und Tagebucheinträge. So ergibt sich ein farbiges Mosaik aus manchmal sich ergänzenden, manchmal sich widersprechenden Steinchen, mit dem ich mir allmählich ein eigenes Bild machen konnte. Interessant ist die Rolle der Kunst als Mittel der Unterdrückung für die einen, Weg in die Freiheit für andere.

Täter und Opfer
Marianne himmelte den wesentlich älteren, smarten Dennis schon als Kind an. Nach dem Tod ihres Vaters heiratete sie ihn mit 17 in der Hoffnung auf Rettung vor ihren Dämonen, ein Wunsch, der sich nie erfüllte. Stattdessen missbrauchte Dennis seine „Kindsbraut“, die selbst Gedichte schrieb, rücksichtslos als Muse für seine Kunst. Beide, Vater wie Mutter, beuteten die Kinder für ihre Bedürfnisse aus. In Mae, die ihrer Mutter verblüffend ähnelt, hoffte Dennis, erneut Inspiration zu finden – mit fatalen Folgen, wie Mae rückblickend erzählt:

Ich wollte ihm nur gefallen. Ich wollte ständig seine Aufmerksamkeit. Wenn seine Gedanken bei Mom waren – und das waren sie oft -, dann wurde ich eben Marianne. […] Und ich hatte ein unglaubliches Talent dafür, Dads Muse zu sein. Ich brauchte nicht viel Fantasie, um mir vorzumachen, dass seine Gefühle für Mom mir galten, weil ich ihre Zweitbesetzung war.

Bei der Lektüre habe ich fast atemlos verfolgt, wie unterschiedlich die beiden Schwestern mit den unheilvollen Familienabhängigkeiten umgehen und welch schwere Opfer sie bringen müssen für ein vergleichsweise hoffnungsvolles, aber sehr glaubwürdiges Ende.

Was für ein lesenswertes Debüt!

Katya Apekina: Je tiefer das Wasser. Aus dem amerikanischen Englisch von Brigitte Jakobeit. Suhrkamp 2020
www.suhrkamp.de