Bernd Gunthers: Die Kuh kennt keinen Galgen

  Die Vergangenheit ist nie vorbei

2019 hatte ich viel Spaß mit dem Hohenloher Krimi-Debüt von Bernd Gunthers, Die Kuh kennt keinen Feiertag, bei dem Lokalkolorit, Sprachwitz und Krimihandlung auf originelle Art zusammenfanden. Der zweite Band, Die Kuh kennt keinen Galgen, gefiel mir nun sogar noch besser, stilistisch und aufgrund der Rückblenden in eine weit zurückliegende Vergangenheit.

Man muss den Vorgängerband zum Verständnis nicht gelesen haben, aber mich freute es, den sympathischen alten Bekannten wieder zu begegnen: der resoluten Landwirtin Milka Mayr mit dem Riecher für Kriminalfälle, ihrem Freund, dem Schwäbisch Haller Kriminalhauptkommissar Paul Eichert, dem pensionierten Kreisjägermeister Sebastian Wild mit seinem Deutsch Kurzhaar und dem Kunsthistoriker Professor Lothar Ebert mit seinem Hang zu ausschweifenden Vorträgen.

Milka Mayr, die Frau mit dem Mordsinstinkt
Kaum hat Milka ihren Jagdschein erworben und nimmt als Treiberführerin an einer Drückjagd an der Sauklinge, westlich von Dörrenzimmern, teil, kommt auch schon ein Teilnehmer ums Leben. Unfall oder Mord? Adolph Nagel, 64 Jahre alt und mittelständischer Unternehmer im Bereich Metallverarbeitung, war beruflich erfolgreich und ein typischer schwäbischer Tüftler, galt im zwischenmenschlichen Bereich jedoch als ausgesprochen schwierig. Weder seine Frau Sabine noch sein Bruder Richard zeigen echte Trauer und ein Mitbewerber bezichtigte ihn gar des Erfindungsdiebstahls. Wer Milka Mayr kennt, weiß, dass sie unter diesen Bedingungen nicht zu halten ist, auch wenn ihr Freund Paul damit seine liebe Not hat:

„Milkas unbändiger Drang sich einzumischen, dabei auch vor kritischen Alleingängen nicht zurückschreckend, brachte ihn in einen permanenten und schier unlösbaren Widerstreit mit seinen Vorschriften.“

Zupass kommt Milka, dass sie inzwischen von der Stallarbeit entbunden ist. Ihre Bürotätigkeit sowie die Planungen für den Hofladen, das Hoffest und den Online-Vertrieb lassen ihr mehr zeitliche Freiheit, sehr zum Verdruss ihres Vaters. Paul dagegen muss neidlos anerkennen, dass Milka wieder einmal den richtigen Riecher hat. Viel Arbeit gibt es für die beiden, denn Adolph Nagel bleibt bei weitem nicht das einzige Opfer in diesem immer verzwickter erscheinenden Fall, der schließlich so weit in die Hohenloher Historie zurückführt, dass auch Professor Ebert wieder zum Einsatz kommt…

Mehr als ein Krimi
Zusätzliche Spannung erzeugen kurze Abschnitte aus der Ich-Perspektive eines rätselhaften Täters und Milkas halsbrecherische Aktionen, bei denen Paul immer wieder rettend eingreifen muss. Doch nicht nur die komplexe Krimihandlung hat mir sehr gut gefallen, auch der regionale Bezug zu Schwäbisch Hall und der Umgebung – genannt seien hier stellvertretend das Kloster Großcomburg oder die Burgruine Hohenrechberg bei Schwäbisch Gmünd – ist wieder bestens gelungen. Aber nicht nur hier zeigt der Autor sein Talent für genaue Beschreibungen, auch die äußere und innere Charakterisierung der Personen gelingt ihm wieder so gut, dass das Geschehen wie in einem Film vor mir ablief. Und natürlich kommt auch die Küche wieder nicht zu kurz. Hatten es mir im ersten Band die Alblinsen im Ochsen in Geifertshofen angetan, so möchte ich nun unbedingt das Café Ableitner in Schwäbisch Hall kennenlernen. Ob ich beides schaffe, bevor hoffentlich bald Band drei erscheint?

Bernd Gunthers: Die Kuh kennt keinen Galgen. Gmeiner 2020
www.gmeiner-verlag.de


     Bd. 1

Vicki Baum: Vor Rehen wird gewarnt

  Eine Frau, die bekommt, was sie will

Vicki Baum (1888 – 1960) war eine der erfolgreichsten Schriftstellerinnen der Weimarer Republik. Als Jüdin emigrierte sie bereits 1931 nach Kalifornien und schrieb im Exil nur noch auf Englisch. Zwölf Jahre nach ihrem größten Romanerfolg Menschen im Hotel erschien 1951 Vor Rehen wird gewarnt, soeben vom Arche Verlag in einer sehr schönen Hardcover-Ausgabe neu aufgelegt.

Das Reh
Ann Ambros
, geborene Ballard, verwitwete Hopper, ist das titelgebende „Reh“, nicht nur wegen ihrer sanften Augen, sondern auch wegen ihres zarten, hilflosen, herzerweichenden Auftretens, einer perfekten Selbstinszenierung. Kaum jemand durchschaut, was hinter dieser Fassade steckt: eine Frau, die mit stählerner Sanftmut Menschen aus dem Wege räumt, die bei aller zur Schau gestellten Bescheidenheit stets im Mittelpunkt steht und eine psychopathische Lügnerin ist, bewandert darin, Mitleid zu erregen und sich selbst zu bemitleiden – kurz: eine faszinierende Person für alle, die nicht unmittelbar mit ihr zu tun haben und die ihr nur, wie ich als Leserin, bei ihrem Treiben staunend zusehen.

Rahmenhandlung…
Alle drei Teile des Romans beginnen mit der Rahmenhandlung, einer Zugfahrt von San Francisco nach Boston, die die 65-jährige Ann mit ihrer Stieftochter Joy unternimmt. Joys jüngerer Halbbruder wird aus dem Krieg zurückerwartet und die Mutter möchte ihn persönlich empfangen. Joy ist eines der Hauptopfer von Anns versteckten Intrigen und inzwischen hasserfüllt. Die Absicht ihrer Stiefmutter, die Ehe ihres vergötterten Bruders zu zerstören, bringt das Fass zum Überlaufen und kurzerhand wirft Joy Ann zu Beginn des Romans aus dem fahrenden Zug:

Wie hält man eine Ann Ambros davon ab, Unheil zu stiften? Nicht durch Überredung, nicht durch Vernunft, noch weniger durch einen Appell an ihre Anständigkeit. Mit Gewalt also?  (S. 33)

… und Rückblenden
In Rückblenden erzählt Vicki Baum von Anns Leben und der Spur der Verwüstung, die sie überall hinterließ. Sie manipulierte die Menschen in ihrem Umfeld, überzeugt, im Recht zu sein, bekam fast immer, was sie wollte, und wurde doch nie glücklich. Selbst als sie nach dem Tod ihrer Schwester endlich ihren Schwager, den Wiener Geiger Florian Ambros, heiraten kann, bemerkt der bitter:

… aber du interessierst dich ja für nichts als für dich selbst, das steht immer zwischen dir und deinem Glücklichsein, deinem und meinem und unserem. (S. 87)

Anns Trickkiste scheint unerschöpflich, wenn es darum geht, ihren Willen durchzusetzen, Skrupel sind ihr fremd. Und doch ist sie keine Figur von Ingrid Noll, ihr manipulatives Geschick, ihre Fähigkeit, Menschen zu zerbrechen, und ihre geschickte Tarnung reichen aus, um bestehende Hindernisse aus dem Weg zu räumen:

Im Allgemeinen war sie viel zu egozentrisch, um sich zu bekümmern oder zu begreifen, was in anderen Menschen vorging; aber mit einem unheimlichen Instinkt wusste sie immer die verwundbare Selle zu finden, dort, wo der schärfste Schmerz und der dauerndste Schaden zugefügt werden konnte. (S. 326)

Vor Rehen wird gewarnt ist eine meiner schönsten Entdeckungen in diesem Literaturfrühling, ein äußerst unterhaltsamer, psychologisch raffinierter, spannender, bisweilen humorvoller Roman über eine ungewöhnliche Frau und ein amerikanisches Gesellschaftsporträt der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Vicki Baum: Vor Rehen wird gewarnt. Aus dem amerikanischen Englisch von Carl Heinz Ostertag. Arche 2020
www.buecherwege.de/arche.htm

15. Pressemesse der Kinder- und Jugendbuchverlage in Stuttgart

Am 19. Februar 2020 fand in Stuttgart die 15. Pressemesse der Kinder- und Jugendbuchverlage unter dem Motto „Sieben Verlage – ein Tag – ein Ort“ statt. Gastgeber waren die Verlage Ueberreuter/Annette Betz, Arena, Beltz & Gelberg, Jumbo, Knesebeck, Kosmos und Schneiderbuch. Gut vorbereitete, charmante Verlagsvertreterinnen, eine freundliche Atmosphäre, informative Gespäche über spannende Neuerscheinungen und den Buchmarkt, tolle Buchentdeckungen und die gute Verpflegung machten die Veranstaltung zu einem rundum gelungenen Tag für mich. Meine Leseliste hat sich wieder einmal deutlich verlängert…

Herzlichen Dank für die Einladung!

© B. Busch

www.ueberreuter.de
www.arena-verlag.de
www.beltz.de
www.jumboverlag.de
www.knesebeck-verlag.de
www.kosmos.de
www.schneiderbuch.de

Markus Thiele: Echo des Schweigens

  Lebenskreise mit Schnittmengen

Angelehnt an den Fall des 2005 in einer Gefängniszelle in Dessau verbrannten Sierra-Leoners Oury Jalloh ist der Roman Echo des Schweigens von Markus Thiele. Dass der Autor selbst Rechtsanwalt ist, macht das Buch für mich besonders wertvoll, denn im Mittelpunkt steht der Interessenskonflikt des Anwalts Dr. Hannes Jansen, der sich zwischen Recht und Gewissen entscheiden muss. Das Dilemma tut sich bereits auf den ersten Seiten auf: Während seines Abschlussplädoyers im Schwurgerichtssaal des Landgerichts Magdeburg erhält Jansen den Beweis für die Schuld seines Mandanten zugespielt, doch ist ihm als Strafverteidiger der „Parteiverrat“ gesetzlich untersagt.

Ein neues Gutachten sorgt für ein Wiederaufnahmeverfahren
Nur einer Ausnahmeregelung ist es zu verdanken, dass das Verfahren gegen den Vorzeigekommissar mit tadellosem Führungszeugnis und liebevollen Familienvater Maik Winkler nach dem ursprüngichen Freispruch überhaupt wiederaufgenommen werden kann, denn eigentlich gilt „Ne bis in idem“, der Grundsatz aus Artikel 103 des Grundgesetzes, nach dem dieselbe Tat nicht zweimal angeklagt werden darf. Ein neues Gutachten aus der Rechtsmedizin der Charité beweist jedoch zweifelsfrei, dass das Opfer, der in seiner Zelle verbrannte, offenbar zuvor misshandelte und an Armen und Beinen gefesselte Senegalese Abba Okeke, sich nicht wie zuvor angenommen selbst angezündet haben kann. Als einziger Tatverdächtiger gilt trotz des angeblichen Alibis Kriminaloberkommissar Winkler.

Für Hannes Jansen, den ehrgeizigen Anwalt mit Geldsorgen und Aufstiegsambitionen, ist der Prozess die große Chance, auf die er lange gewartet hat. Bei einem Sieg in diesem von den Medien und der Politik gleichermaßen beachteten Verfahren winkt die lukrative und prestigeträchtige Teilhaberschaft in der Kanzlei. Erst spät erfährt er, dass die Gutachterin ausgerechnet Dr. Sophie Tauber ist, die Frau, in die er sich soeben erst verliebt hat. Sie wird nun zu seiner schäfsten Gegnerin im Prozess.

Mehrere Handlungsstränge
Nach einem kurzen Blick in den Gerichtssaal am letzten Prozesstag, der gerade so viel verrät, wie die Spannung erfordert, wird das Geschehen um das Verfahren, die Liebesgeschichte von Sophie und Hannes und Sophies Recherchen bezüglich ihrer eigenen Familiengeschichte, ausgelöst durch den Tod ihrer Mutter, vom September 2017 bis September 2018 chronologisch erzählt.

Unterbrochen wird die chronologische Abfolge der mit einer Zeitangabe überschriebenen Kapitel von Abschnitten aus den Jahren 1938 bis 1942 sowie 1948 und 1979. Eine jüdische Großmutter, die in Auschwitz ums Leben kam, ein Verrat unter Brüdern, der erzwungene „Parteiverrat“ eines Anwalts vor einem NS-Gericht und eine späte Rache haben mehr mit Sophie Tauber und Hannes Jansen zu tun, als die beiden sich in ihren kühnsten Träumen vorstellen konnten…

Ein Roman mit Thrillerqualitäten
Die Frage nach der Postition des Verteidigers im Strafprozess war für mich als juristischem Laien mit einer Vorliebe für Gerichtskrimis von besonderem Interesse, doch habe ich die Rückblicke in das Leben von Sophies Großmutter und Mutter fast genauso gerne gelesen. Einzig die allzu großen Zufälle haben mich an der ein oder anderen Stelle gestört. Davon abgesehen kann ich den flüssig geschriebenen Roman mit dem angenehm großzügigen Layout als ausgesprochen spannende und informative Lektüre empfehlen.

Markus Thiele: Echo des Schweigens. Benevento 2020
www.beneventopublishing.com

Lesung mit der LesekünstlerIn des Jahres 2019: Silke Schlichtmann bei den Kinder- und Jugendbuchwochen in Stuttgart

© Börsenverein Baden-Württemberg

Im Rahmen der derzeit stattfindenden Kinder- und Jugendbuchwochen in Stuttgart gibt es unter anderem sieben Lesungen der Kinderbuchautorin Silke Schlichtmann. Als erwachsener Fan ihrer Kinderbücher und Lesungen hatte ich das große Glück, eine davon am 18.02. in der Stadtteilbibliothek Untertürkheim zu erleben, zusammen mit aufmerksamen, engagierten und begeisterten Drittklässlern.

© B. Busch

Silke Schlichtmann, 2019 auf der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet als LesekünstlerIn des Jahres und 2018 mit Bluma und das Gummischlangengeheimis nominiert für den Deutschen Jugendliteraturpreis, las aus Mattis und das klebende Klassenzimmer, dem ersten Band einer Reihe für fortgeschrittene Leseanfänger aus dem Carl Hanser Verlag.

© B. Busch

Es wurde aber nicht nur vorgelesen, auch wenn die kleinen Zuhörerinnen und Zuhörer davon gar nicht genug bekommen konnten, es wurde wie immer bei Silke Schlichtmanns Lesungen auch gemeinsam gesungen. Mit Hilfe der an die Wand projezierten Illustrationen von Maja Bohn konnten die Kinder den gehörten Text anschließend reflektieren. Eine sehr lebhafte Fragerunde schloss die Veranstaltung ab.

 

Danke an den Börsenverein Baden-Württemberg, an die Stadtteilbibliothek Untertürkheim und natürlich an Silke Schlichtmann für den rundum gelungenen Nachmittag!

Silke Schlichtmann: Mattis und das klebende Klassenzimmer. Carl Hanser 2019

Matthias Brandt: Blackbird

  Freundschaft, Liebe und Verlust

Ich schätze Matthias Brandt als hervorragenden Schauspieler und bedauere sehr, dass ich seinen 2016 erschienenen Erzählband Raumpatrouille noch immer nicht gelesen habe. Vielleicht waren meine Erwartungen an seinen ersten Roman Blackbird deshalb einfach zu hoch, denn das Buch hat mich leider nicht in dem Maße erreicht, wie ich es bei diesem Thema, dem Zeithintergrund und dem Autor gehofft hatte.

Einer, der es schwer hat
In einer namenlosen Kleinstadt irgendwo in der Bundesrepublik der Jahre 1977/78 erlebt der anfangs 15-, später 16-jährige Morton Schumacher, genannt Motte, seine Pubertät. Als hätte er nicht schon genug mit sich selbst und seinen Hormonen zu kämpfen, löst sich gerade seine „Firma“, die Familie Schumacher, auf, der Vater zieht zu seiner Freundin und die Mutter ist nur noch traurig. Parallel dazu endet Mottes erstes Date im Desaster und sein bester Freund Bogi erkrankt lebensbedrohlich an Lymphdrüsenkrebs:

Wie hört sich das denn an, Non-Hodgkin-Lymphom? Doch so, als ob es keine Krankheit sei, oder? Bestimmt wäre es besser gewesen, es hätte Hodgkin-Non-Lymphom geheißen. Besonders für Bogi.
Aber eigentlich war ich sauer auf ihn, weil ich mein altes Leben wiederhaben wollte, inklusive ihm, Bogi. Ich fand einfach, dass ich auch ohne den Mist schon genug um die Ohren hatte, keine Ahnung, hatte ich mir ja nicht ausgesucht, dass ich das jetzt dachte.

Schwächen…
Als Leser bzw. Leserin erfahren wir von all diesen Vorgängen aus der Ich-Perspektive und inneren Monologen Mottes in einer slanghaften, auf mich etwas bemüht wirkenden und unnötig derben Jugendsprache, die ich als anstrengend empfand. Zu meinen eigenen Erinnerungen wollte die Ausdrucksweise eher nicht passen, mag aber sein, dass dies aus männlicher Perspektive anders wahrgenommen wird, genauso wie das Rauchen, Kiffen und der Alkohol. Immer wieder hatte ich Mühe, die zwischen kindlicher Unbedarftheit und messerscharf analysierendem Denken pendelnde Persönlichkeit mit einem 16-Jährigen in Einklang zu bringen, manche Szenen waren mir zu sehr in die Länge gezogen. Kann es sein, dass Motte und seine Kameraden sich beim Besuch des schwer erkrankten Freundes Gedanken über das Flachlegen von Krankenschwestern machen? Muss jeder Lehrer ein Stereotyp erfüllen, sei es der Altnazi-Sporttyrann oder der kumpelhafte Sozialkundelehrer, der mit Schülerinnen ins Bett geht? Und manches ist bei Morton beeindruckend moderner, als ich es erlebt habe: Hufeisenform im Klassenzimmer und Kiwi waren mir zu dieser Zeit jedenfalls unbekannt.

… und Stärken
Andere Aspekte des Romans, dessen Stärken für mich vor allem im letzten Drittel liegen, haben dagegen dafür gesorgt, dass ich ihn trotz dieser Kritikpunkte gerne gelesen habe. Die spürbare Unwilligkeit Mottes, Gefühle zuzulassen, seine merklich zunehmende Hilflosigkeit, die sich beim Lesen gut überträgt, die trotz allen Zerfalls um ihn herum immer spürbare Komik und die vielen gut gewählten Metaphern, allen voran der Sprung vom Zehnmeterturm, zeigen die schriftstellerischen Qualitäten von Matthias Brandt. Dass ein Roman, der mit einer Beerdigung endet, so viel Hoffnung ausstrahlen kann, war eine positive Überraschung für mich. Ganz allein, wie die leere Bank auf dem Cover suggeriert, ist Motte nämlich glücklicherweise nicht.

Matthias Brandt: Blackbird. Kiepenheuer & Witsch 2019
www.kiwi-verlag.de

George Saunders: Lincoln im Bardo

  Ein unbeschreibliches Leseerlebnis

Als der elfjährige Sohn des amerikanischen Präsidenten Lincoln im Februar 1862 an Typhus stirbt, tobt der Sezessionskrieg. Die tiefe Trauer des gramgebeugten Vaters ist der Anknüpfungspunkt für den 2017 mit dem Man Booker Prize ausgezeichneten Debütroman des 1958 geborenen US-Amerikaners und Kurzgeschichtenautors George Saunders. Es ist inhaltlich wie formal das ungewöhnlichste, irrwitzigste, innovativste und skurrilste Buch, das ich jemals gelesen habe.

Ein äußerst lebendiger Friedhof
Der Haupterzählstrang spielt in der Nacht nach Willies Begräbnis auf dem Washingtoner Friedhof, wo der Sarg in einer Gruft beigesetzt worden war. Noch befindet sich der Junge in einer Zwischenwelt zum Totenreich, im tibetanischen Buddhismus Bardo genannt. Die Geister der Verstorbenen, die sich dort eingerichtet haben, weil sie nicht loslassen können und ihre Angst vor dem Jenseits übermächtig ist, verursachen ein aberwitziges Stimmengewirr. Kuriose Sterbeanekdoten werden wieder und wieder erzählt, es herrscht Langeweile. Ein Abbild der Gesellschaft hat sich dort versammelt, in prunkvollen Grüften oder Massengräbern, Sklavenhalter, Sklaven, Fabrikanten, Verbrecher, Arme, Reiche, Soldaten, und jedem verleihen Saunders und sein Übersetzer Frank Heibert eine eigene charakteristische Stimme. Nur das Thema Tod ist tabu, denn in allen glimmt Hoffnung auf Rückkehr ins Leben und der Sarg ist eine „Kranken-Kiste“, der Leichenwagen „Kranken-Wagen“, die Gruft „Heimstätte“. Die Vorgänge in dieser ungewöhnlichen Nacht befeuern ihre Sehnsüchte und ihren Selbstbetrug, denn Lincoln kehrt auf den Friedhof zurück, um Willie noch einmal zu liebkosen und zu versprechen, dass er wiederkommen wird – ein Umstand, der den Sohn daran hindert, wie alle Kinder umgehend ins Jenseits überzutreten:

Vater hat mir sein Versprechen gegeben, sagte der Junge. Wie wäre das denn, wenn er zurückkäme und mich nicht mehr anträfe?

Die Katastrophe verhindern
Drei Geister von etwa 15 „unstofflichen Wesen“ stehen im Mittelpunkt des Geschehens: Roger Bevins III, der sich als junger Homosexueller aus Liebeskummer die Pulsadern aufschnitt und dies zu spät bereute, Hans Vollmann, Drucker im fortgeschrittenen Alter, der kurz vor dem lange aufgeschobenen Vollzug seiner Ehe von einem Balken erschlagen wurde und deshalb mit einer Dauererektion im Bardo weilt, und der hochbetagt verstorbene Referend Everly Thomas, der vom Jenseits mehr weiß, als ihm lieb ist. Sie alle möchten Willie zum Verlassen des Bardos überreden, da dessen gegen alle Vorschriften verzögerter Aufenthalt zur Katastrophe führen muss – gespenstische Tragödie wie Komödie zugleich.

Unzuverlässige Quellen
Auch der zweite, weitaus kürzere Handlungsstrang ist kein Fließtext, aber anstatt Geisterstimmen reiht Saunders hier kurze Texte aus historischen Quellen, manche wohl auch fiktiv, aneinander. Sie berichten über die Geschehnisse rund um Willies Tod, das Bankett, während er bereits todkrank war, die Beerdigung, Lincolns Reputation, den Krieg, oft mit widersprüchlichen Aussagen und so genial montiert, dass ich mühelos von einer zur anderen gesprungen bin, fast als wäre es ein fortlaufender Text.

Lincoln im Bardo zu lesen, war Herausforderung und Abenteuer für mich. Ich habe mich an Vokabeln wie „gehschweben“, „trabschweben“, „flitzschweben“ oder dem Übertritt ins Jenseits mit einem „Feuerknall und dem Phänomen der Materienlichtblüte“ erfreut, bin in die Vater-Sohn-Geschichte genauso eingetaucht wie in die politischen Geschehnisse und habe mit Lincoln gelitten.

Was für ein Leseerlebnis!

George Saunders: Lincoln im Bardo. Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert. btb 2019
www.randomhouse.de

Isabelle Autissier: Klara vergessen

  Nur ein Sandkorn

Isabelle Autissiers Klara vergessen ist neben Pascal Merciers Das Gewicht der Worte die Neuerscheinung, auf die ich mich in diesem Frühjahr besonders gefreut habe. Nach Herz auf Eis, einem absoluten Lieblingsbuch, waren meine Erwartungen hoch und wurden erfüllt. Zwar ist der Roman ganz anders ist als sein Vorgänger, doch geht es wieder um existentielle Bedrohungen und darum, wozu Menschen angesichts solcher fähig sind.

Eine Rückkehr wider Willen
Der Roman nimmt uns mit in den Norden Russlands von der Stalinzeit bis zu Gorbatschows Perestroika und spannt einen Bogen über drei Generationen der Familie Bondarew: die Großmutter Klara, ihren 1945 geborenen Sohn Rubin sowie den Enkel Juri, der zu Beginn 46 Jahre alt. Vor 23 Jahren ist er vor der Familie in die USA geflohen und hat sich ein Leben als renommierter Professor für Ornithologie in Ithaka, N.Y. aufgebaut. Auf den dringenden Wunsch seines verhassten Vaters kehrt er nun an dessen Sterbebett nach Murmansk zurück. Juri soll vollbringen, was Rubin aus Feigheit nie gewagt hat: die Wahrheit über das Verschwinden von Klara ans Licht bringen, die als Abteilungsleiterin des Labors für angewandte Geologie und Mineralogie in Murmansk vor den Augen von Mann und Sohn 1950 im Zuge der Massendeportationen von Stalins Schergen verhaftet wurde und wie so viele andere verschwand.

Nur kurz ist Juri versucht, den Wunsch des Vaters zurückzuweisen:

Rubin hatte ihn ein letztes Mal in eine Falle gelockt. Obwohl er unausstehlich und gewalttätig war, war er nun das Opfer, dem man helfen musste. Juri wappnete sich innerlich, um den Vorschlag abzulehnen, den er kommen sah. Doch da war Klara, seine Großmutter, und diese Geschichte, die er nie wieder aus dem Kopf bekommen würde, ein winziges Steinchen im großen historischen Zusammenhang, aber der Grundstein seiner eigenen Familiengeschichte, ein Name in der Liste der Opfer, aber der Name, den er selbst trug. (S. 34/35)

Wege in die Freiheit
Es ist eine emotional aufgeladene Erzählung. Klaras Verhaftung war das „Sandkorn“, welches das Leben mehrerer Generationen außer Kontrolle geraten ließ und aus Rubin nicht nur den Sohn einer Volksverräterin, sondern auch einen brutalen Mann und Vater machte. Kompromisslos konsequent verfolgen alle drei Protagonisten unterschiedliche Wege in die Freiheit: Juri als Ornithologe, Rubin als Kapitän eines sowjetischen Fischtrawlers auf dem Meer und Klara mit der Wissenschaft, der sie allerdings auch die Gefangenschaft verdankt.

Das Besondere dieses Romans
Neben der überaus spannenden Handlung, den dichten Charakteren, dem Blick in die russische Geschichte des 20. Jahrhunderts und auf die Umweltfrevel in Nordrussland ist es noch etwas anderes, was die Weltumseglerin und Vorsitzende des französischen WWF Isabelle Autissier für mich zu einer so herausragenden Autorin macht. Ihre Beschreibungen des Meeres, der Tundra oder der Lebensweise der Nenzen, indigener Rentiernomaden, sind einzigartig und wunderbar übersetzt von Kirsten Gleinig. Aber auch ihre Fähigkeit, einerseits von unvorstellbarer Brutalität auf dem Fischtrawler, bei den Verhören oder in Juris Familie, andererseits mit großer Zartheit vom Erwachen der Liebe Juris zu einem Ferienbetreuer zu erzählen, ist großartig.

Nicht nur für mich als begeisterte Leserin, auch für Juri hat sich der schmerzliche Ausflug in die Vergangenheit gelohnt:

Am Ende der Suche nach seiner Großmutter stand die Rückkehr zu ihm selbst. (S. 302)

Isabelle Autissier: Klara vergessen. Aus dem Französischen von Kirsten Gleinig. mare 2020
www.mare.de

Patrik Svensson: Das Evangelium der Aale

Ein sonderbares Tier

Bis zum Blick in die aktuelle Frühjahrsvorschau des Carl Hanser Verlags hatte ich mich nie für Aale interessiert. Weder bin ich Anglerin, noch habe ich jemals Aal gegessen, aber das auffallend schöne Cover und die originelle Idee, die Natur- und Kulturgeschichte dieses Fisches mit der eigenen Sohn-Vater-Geschichte zu verbinden, hat mich sofort fasziniert.

So viele „Aalfragen“…
Aale gibt es seit mindestens 40 Millionen Jahren und bis heute sind trotz hartnäckigster Bemühungen zahlloser Meeresforscher nicht alle seine Geheimnisse gelüftet. Drei Metamorphosen durchläuft der Aal, bevor aus dem kleinen, durchsichtigen Weidenblattlarven zunächst der durchsichtige kleine Glasaal, dann der braun-gelb-graue Gelbaal und zuletzt der Blankaal wird. Unterschiedlich lang können die einzelnen Stadien dauern und erst im letzten bilden sich Geschlechtsorgane aus, was Naturforscher wie Aristoteles oder den jungen Sigmund Freud zu Fehlannahmen bzw. zur Verzweiflung brachte. Erst im 19. Jahrhundert fand man weibliche und männliche Tiere und zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnte der Däne Johannes Schmidt nach 20-jährigen Forschungsreisen die Sargassosee im nordwestlichen Teil des Atlantiks nahe den Bahamas als Geburtsstätte der europäischen Aale ausmachen, wobei bis heute weder ein lebender noch ein toter ausgewachsener Aal dort beobachtet wurde. Ungeklärt blieb bisher auch, was die Aale zu ihren langen Wanderungen bewegt und wie sie den Weg zurück zu ihrem eigenen Ursprung finden.

Das Ende der Aale?
War es jahrhundertelang nur die Neugier, die Forscher der „Aalfrage“ nachgehen ließ, so scheint es heute zur Überlebensfrage für diese durch Krankheiten, Umweltverschmutzung, Gewässerverbauung, Fischerei und die sich durch den Klimawandel verändernden großen Meeresströmungen bedrohte Gattung zu gehen:

Alle seriösen Berechnungen sprechen dafür, dass die Anzahl neu ankommender Glasaale in Europa heute nur noch ein bis fünf Prozent dessen beträgt, was aus den 1970er-Jahren bekannt ist. Wo in meiner Kindheit jedes Jahr einhundert kleine, durchsichtige Glasrütchen den Fluss hinaufschwammen, tritt heute nur noch eine knappe Handvoll diese Reise an.

Wie lange werden also Väter mit ihren Söhnen noch an schwedischen Flüssen oder anderswo Aale angeln, wie es Patrik Svensson in seiner Kindheit erlebt hat, ein Erlebnis, ohne das er und sein Vater „zusammen nicht dieselben“ gewesen wären? Werden, wie diese beiden, mit Langleinen, mit der alten Fangtechnik des „Plödderns“ oder mit Reusen experimentieren und Aale fangen, die zuvor über Tausende von Kilometern gewandert sind?

Überall Aale
Biologie und Familiengeschichte, aber auch die Bedeutung des Fischens als Kulturerbe in verschiedenen Regionen Europas, die EU-Fischereipolitik oder die Auftritte des Aals in Günter Grass‘ Die Blechtrommel, Boris Vians Die Gischt der Tage oder Graham Swifts Wasserland sind längst nicht alle Themen in diesem außergewöhnlichen Sachbuch. Nur ab und zu schießt Svensson über das Ziel hinaus, wenn er dem Aal zu sehr vermenschlicht – und sich dann meist selbst bremst -, das Rätselhafte des Aals zum Echo der Fragen nach dem eigenen Sein erklärt oder wenn ihn, den Atheisten, ein fälschlich für tot gehaltener Aal an das Wunder der christlichen Auferstehung denken lässt.

Davon abgesehen ist dieses kenntnisreiche Buch aus dem Bereich Nature Writing rundum empfehlenswert, eine gleichermaßen informative wie unterhaltsame Lektüre, die mich mit der jahrtausendealten Neugier auf dieses geheimnisvolle Tier angesteckt hat.

Patrik Svensson: Das Evangelium der Aale. Aus dem Schwedischen von Hanna Granz. Carl Hanser 2020
www.hanser-literaturverlage.de

Milena Agus: Eine fast perfekte Welt

  Jeder ist seines Glückes Schmied

Aus drei Personenporträts setzt Milena Agus ihren Generationenroman Eine fast perfekte Welt zusammen. Die erste im Reigen ist Ester, eine Frau, die sich ihr Leben lang sehnt und nie den perfekten Ort findet, an dem sie leben und glücklich sein kann. Weder auf ihrer Heimatinsel Sardinien noch auf dem Festland findet sie ihr gelobtes Land.

Eine Lebenskünstlerin ist dagegen ihre gutmütige, aber keineswegs naive Tochter Felicita, die, obwohl vom Schicksal nicht verwöhnt, überall und in jeder Lebenslage das Positive erkennt. Viel mehr als Ester hätte sie Grund zur Klage, und doch ist sie als alleinerziehende Mutter ihres sonderlichen, verträumten Sohnes Gregorio in einer ärmlichen Wohnung im Hafenviertel von Cagliari so zufrieden, dass sie auch für die Menschen in ihrer Umgebung zur „Glücksbereiterin“ wird. Ihre Lebensphilosophie fasst sie in Sätzen über den italienischen Dichter und Philologen Giacomo Leopardi zusammen:

Das ist auch mein Lieblingsdichter, ich mag ihn wirklich sehr, ich kenne viele seiner Gedichte auswendig, finde aber, dass er nicht immer recht hat. Zum Beispiel in seinem „Dialog zwischen der Natur und einem Isländer“: Es gibt keinen Ort auf der Welt, wo sich dieser arme Isländer wohlfühlt. Er ist genau wie meine Mutter. Bei allem Respekt gegenüber Leopardi finde ich, dass genau das Gegenteil der Fall ist, nämlich dass es keinen Ort auf der Welt gibt, wo man sich nicht wohlfühlen kann.

Gregorio ist der erste in der Familie, der radikal seinen Träumen folgt. Weder sein Vater noch sein Großvater haben sich getraut, ihrer Liebe zur Musik nachzugeben, doch unterstützt von seiner Mutter macht Gregorio sich auf nach New York, um als Jazzpianist sein Glück zu finden.

Das gelobte Land
Terre promesse heißt der nur gut 200 Seiten umfassende Roman im italienischen Original und nach diesem versprochenen gelobten Land und dem Glück suchen alle Figuren der Geschichte mit unterschiedlichem Erfolg, nicht nur Ester, Felicita und Gregorio. Die drei Teile sind mit „Das Festland“, „Amerika“ und „Sardinien“ überschrieben, doch wie Felicita richtig erkannt hat, sind es nicht die Orte, die über Glück und Unglück entscheiden, es ist die Einstellung zum Leben, der Wille, Schicksalsschläge zu überwinden, und der Mut, den eigenen Weg zu gehen.

Starke Figuren
Obwohl die Grundstimmung des Buches so melancholisch ist wie die Frau auf dem Schwarz-Weiß-Cover und die Schicksalsschläge gegen Ende etwas zu zahlreich werden, hat sich die Tristesse beim Lesen nicht auf mich übertragen, ein Umstand, den ich vor allem Felicitas feinem Humor und ihrem Pragmatismus verdanke. Bedauert habe ich, dass Milena Agus‘ Heimat Sardinien nicht eine größere Rolle spielt; gerne hätte ich mehr über die Landschaft, die Geschichte und die Menschen erfahren. Dafür werden mir die eigenwilligen Romanfiguren und ihre Sehnsucht nach Glück im Gedächtnis bleiben.

Milena Agus: Eine fast perfekte Welt. Aus dem Italienischen von Monika Köpfer. dtv 2020
www.dtv.de