Caroline Bernard: Rendezvous im Café de Flore

Monter à Paris

„Monter à Paris“, „nach Paris aufsteigen“, nannte man es, wenn die Menschen früher ihre Dörfer verließen, um in der französischen Hauptstadt ihr Glück zu machen. Zwei Frauen tun das auf ganz unterschiedliche Weise im Roman Rendezvous im Café de Flore von Caroline Bernard.

Vianne Renard verlässt 1928 ihr Heimatdorf in den Cevennen, wo sie keine Chance auf ein selbstbestimmtes Leben und auf eine Arbeit als Botanikerin hat. Ihr Preis ist die völlige Trennung von den Eltern und Brüdern, nur der Briefkontakt zur Mutter bleibt bestehen. Nach jahrelanger Arbeit als Wäscherin wird ihr Traum von einer Stelle im botanischen Institut Wirklichkeit. In dem britischen Maler David Marlowe Scott findet sie die Liebe ihres Lebens und er in ihr seine geliebte Muse, die er wieder und wieder zeichnet, doch für die Ehe und eine Familie ist er, für den seine Kunst an erster Stelle steht, nicht bereit.

Über 70 Jahre nach Vianne kommt Marlène mit einem Stipendium für zwei Semester Kunstgeschichte aus Sète an die Sorbonne. Sie teilt Viannes Begeisterung für die Stadt, liebt ihr Studienfach und den gutaussehenden Julien, doch die Krankheit ihrer Mutter lässt sie nach Hause zurückkehren und nach Juliens Schlussstrich fehlt ihr der Mut zur Rückkehr nach Paris. Erst ein verunglückter Kurzurlaub dort mit ihrem Mann Jean-Louis 16 Jahre später, die Begegnung mit einem Porträt von Vianne aus dem Jahr 1939 im Musée d’Orsay, das ihr verblüffend ähnelt, und die Bekanntschaft mit dem Kunsthistoriker Étienne machen ihr schließlich klar, dass es nie zu spät ist, nach Paris zurückzukehren.

Während mir der Teil über Vianne vom Prolog an und ganz besonders im letzten Teil, als es um ihre Rolle im Krieg geht, ausgesprochen gut gefallen hat, fand ich Marlènes Selbstmitleid zu Beginn eher anstrengend und den Ablauf dieses Handlungsstrangs vorhersehbar. Erst im zweiten Teil des Romans konnte ich mich mehr für ihr Schicksal erwärmen. Der große Pluspunkt des Buches und das, was mir nachdrücklich in Erinnerung bleiben wird, ist jedoch das Leben der mutigen Vianne.

Ich habe mir dieses Buch zur Lektüre in einer stressigen Zeit ausgesucht, als leichteren Unterhaltungsroman oder, wie ich es gerne nenne, als „Roman für die Hängematte“. Es war das perfekte Buch für diesen Zweck, aber genauso gut passt es zu einem Strandurlaub oder natürlich am allerbesten zu einem Aufenthalt in Paris!

Caroline Bernard: Rendezvous im Café de Flore. Aufbau 2016
www.aufbau-verlag.de

Irmgard Lindner: Krümel und Rosine in Schwierigkeiten

Jede Menge Kuddelmuddel

Band zwei um die zehnjährige Marianne, genannt Krümel, und die kleine Fee in Ausbildung, Rosine, nimmt den letzten Teil des ersten Bandes noch einmal auf und erzählt, wie Rosine in die Rolle der Tochter von Krümels Nachbarn schlüpfen konnte.

Rosine, die eine gravierende Merkschwäche für Zaubersprüche hat und sich deshalb im Feenreich überhaupt nicht wohlfühlt, möchte so gerne auf die Erde und zu ihrer Freundin Krümel zurückkehren, und auch Krümel, die unter der Trennung ihrer Eltern leidet, vermisst die kleine Fee. Da kommt Rosine auf die Idee, sich als Marlena, die Tochter von Krümels Nachbarn auszugeben, was so lang gutgeht, bis die echte Tochter plötzlich bei ihrem Vater wohnen möchte…

Wie es die drei Mädchen dank der Wetterhexe Aurelia und Krümels tollem Großvaters trotz des ganzen Kuddelmuddels doch noch zu einem Happy End bringen, erzählt Irmgard Lindner sehr unterhaltsam in ihrem Mädchenbuch ab acht Jahren, zu dem Dagmar Geisler wieder witzige Schwarz-Weiß-Illustrationen beigesteuert hat.

Irmgard Lindner: Krümel und Rosine in Schwierigkeiten. Thienemann 2002
www.thienemann-esslinger.de

Irmgard Lindner: Krümel und Rosine

Besuch aus dem Feenreich

Krümel heißt eigentlich Marianne, ist zehneinhalb Jahre alt, ziemlich klein und hat viele Probleme. Ihre Eltern haben sich getrennt und der Start im Gymnasium verläuft alles andere als reibungslos. Einziger Lichtblick ist ihr Großvater, aber der wohnt nicht nah genug, um Krümels Einsamkeit zu vertreiben.

Als sie eines Abends alleine im Wohnzimmer sitzt, sieht sie plötzlich viele bunte Sterne auf dem Balkon und Rosine erscheint, ein Mädchen im Abendkleid mit Goldschuhen, das aus dem Feenreich kommt. Nach kurzem Angiften schließen die beiden Mädchen Freundschaft. Rosine, die eigentlich Rosalinde heißt, hat beim Zaubern ähnliche Probleme wie Krümel in der Schule, und so richtet sie mehr Chaos an, als Krümel lieb ist. Sie möchte gerne auf der Erde bleiben, doch die Feen arbeiten mit allen Tricks, um sie zurückzuholen, und als Krümel schon befürchtet, dass sie Rosine nie wiedersieht, entdeckt sie plötzlich hinter der Tochter des neuen Nachbars ganz viele bunte Sterne…

Krümel und Rosine ist ein nett geschriebenes Mädchenbuch zum Selberlesen ab der dritten Klasse. Zwar werden viele Probleme, wie z. B. Scheidung oder Alleinsein, aber der Ton bleibt sehr positiv, bisweilen lustig, wozu auch die leider wenigen peppigen Schwarz-Weiß-Illustrationen von Dagmar Geisler beitragen.

Irmgard Lindner: Krümel und Rosine. Thienemann 2001
www.thienemann-esslinger.de

Joseph Jefferson Farjeon: Geheimnis in Weiß

Mörderische Weihnachten

Die Fahrt einer bunt zusammengewürfelten Reisegruppe an einem 24. Dezember in einem Zugabteil der dritten Klasse von Euston nach Manchester wird jäh durch einen Schneesturm gestoppt. Als einige Passagiere aussteigen, um sich zu Fuß zum nächsten Bahnhof durchzuschlagen, müssen sie in einem Landhaus Unterschlupf suchen. Sie finden es geöffnet vor, ein Kaminfeuer brennt, der Tisch im Salon ist gedeckt, die Speisekammer gefüllt, das Teewasser kocht und auf dem Küchenboden liegt ein Brotmesser, nur findet sich weit und breit kein Gastgeber.

Dass es, wie ein Inspektor später feststellt, innerhalb eines halben Tages vier Morde zu beklagen gibt, und er sich seine Weihnachtsgans redlich verdient hat, mag bei diesem gruseligen Ambiente vielleicht gar nicht so verwundern. Noch spannender als die Mordfälle und deren Aufklürung fand ich allerdings die Zusammensetzung der Gruppe sowie ihre Interaktionen und Gespräche. Da sind zunächst der schon ältere, vornehme Mr. Edward Maltby mit seinem analytischen Gehirn, Mitglied der Königlich-Parapsychologischen Gesellschaft, der mich sehr an Hercule Poirot erinnert hat, das jüngere Geschwisterpaar David und Lydia aus der gehobeneren Gesellschaft, Mr. Thomson, ein farbloser Buchhalter, eine Revuetänzerin ohne Engagement namens Jessie Noyes, die gerne gesellschaftlich aufsteigen würde, ihre Grenzen aber durchaus erkennt, der notorische Nörgler Mr. Hopkins, ein Emporkömmling, dem es an Manieren und Kombinationsgabe fehlt, sowie der durch seinen Cockney-Akzent und seine kräftigen Hände, flache Stirn und Stumpfheit von Hinterkopf und Nacken eindeutig als Angehöriger der Unterklasse erkenntliche Smith, der bald darauf verschwindet.

Während sich die Gruppe organisiert, den fiebernden Mr. Thomson und die fußverletzte Jessie zu Bett bringt, Lydia die Krankenpflege, Küche und Weihnachtsvorbereitungen übernimmt und David penibel Buch führt über die an den Hausherrn zu erstattenden Kosten, kombiniert Mr. Maltby messerscharf, legt Indiz zu Indiz und fahndet nach Beweisstücken. Doch erst als zwei verspätete Neuankömmlinge endlich die Geschichte des Hauses und ihrer Bewohner enthüllen, kommt Licht ins Dunkel.

Joseph Jefferson Farjeon (1883 – 1955) hatte schon zahlreiche Krimis veröffentlicht, als Mystery in White 1937 erstmals erschien. Dem Verlag Klett-Cotta ist es zu verdanken, dass die mörderische Weihnachtsgeschichte, die sich fast wie ein Kammerspiel liest, nun erstmals auf Deutsch vorliegt. Die wunderschön gestaltete flexible Leinenausgabe mit dem Lesebändchen liegt angenehm in der Hand und passt so genau zur Atmosphäre und zum herrlich klassisch-britischen Stil des Büchleins, dass schon alleine das Betrachten und Anfassen ein Genuss ist, von der Lektüre ganz zu schweigen.

Joseph Jefferson Farjeon: Geheimnis in Weiß. Klett-Cotta 2016
www.klett-cotta.de

Katherine Boo: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Ein Grenzgänger zwischen Roman und Reportage

Katherine Boo, amerikanische Journalistin und Pulitzer-Preisträgerin, hat für ihr zwischen Reportage und Roman angesiedeltes Buch Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben drei Jahre im Mumbaier Slum Annawadi recherchiert. Das Elendsviertel, direkt neben dem Mumbaier Flughafen gelegen, entstand ursprünglich während dessen Bau und gehört zu den kleineren seiner Art.

Anhand von real existierenden Personen und Geschehnissen stellt Kathrine Boo die großen Probleme Indiens dar: die extrem ungleiche Verteilung des Wohlstands, die an der unmittelbaren Nachbarschaft von Slum und Luxushotels eindrucksvoll deutlich wird, die allgegenwärtige Korruption, die fehlende Solidarität unter den Slumbewohnern und die Auswirkungen der Globalisierung bis hinunter zu den Müllsammlern. Trotzdem liest sich das Buch viel mehr wie ein Roman als wie ein Sachbuch.

2012 wurde Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben von der New York Times unter die zehn besten Bücher des Jahren gewählt, und da sich seitdem leider nichts zum besseren verändert hat, ist es nach wie vor empfehlenswert. Ich habe vor allem daraus gelernt, wie Weltpolitik ganz unten ankommt.

Katherine Boo: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben. Droemer 2012
www.droemer-knaur.de

Rosamund Lupton: Lautlose Nacht

Ein Hörerlebnis mit unterschiedlichen Seiten

Ich bin bei der Bewertung dieses Hörbuchs zu Lautlose Nacht von Rosamund Lupton sehr zweigespalten. Einerseits habe ich nicht unerhebliche Kritikpunkte, andererseits hat es mich doch auch gut unterhalten, so dass ich die Drei-Sterne-Bewertung keineswegs als ein Abraten verstanden wissen möchte. Lediglich sollte man vorher wissen, worauf man sich gefasst machen muss.

Die Geschichte wird aus zwei Perspektiven erzählt, einmal als Ich-Erzählung im Präsens von der zehnjährigen, durch ihre Taubheit weit über ihr Alter reife Ruby und einmal durch ihre Mutter Yasmin in personaler Erzählweise und in der Vergangenheit. Die beiden sind auf dem Weg von England nach Alaska, um Matt, Yasmins Mann und Rubys Vater, zu besuchen, der dort als Tierfilmer in der arktischen Tundra arbeitet. Als sie in Fairbanks landen, teilt man ihnen mit, dass Matts Dorf Anaktue durch eine Brandkatastrophe vollkommen zerstört wurde und alle Einwohner ums Leben gekommen sind. Da man Matts Ehering und sein Handy gefunden hat, geht die Polizei davon aus, dass er die 24. Leiche neben den 23 toten Dorfbewohnern ist.

Yasmin, die sich zuletzt im Streit mit Matt wegen einer Frau aus Anaktue befunden hat, glaubt von Anfang an unerschütterlich nicht an Matts Tod, genau wie Ruby. Beide sind überzeugt, dass er während des Feuers nicht im Dorf war. Zusammen brechen sie zu einer absolut halsbrecherischen Tour Richtung Norden auf, um die abgebrochene Suche der Polizei wiederaufzunehmen, in deren Folge Yasmin nicht nur einen Sattelzug stehlen und fahren, sondern auch einen Polarsturm, die Verfolgung durch einen Unbekannten in einem Tanklastzug und das Einbrechen ins Eis überstehen muss.

Mein Hauptkritikpunkt an dieser Geschichte ist die für mich enorme Unglaubwürdigkeit, die im Laufe der Handlung immer mehr zunimmt. Die Beschreibung, wie Mutter und Tochter den Naturgewalten und anderen Bedrohungen trotzen, war mir einfach zu unrealistisch.

Andererseits fand ich die Schilderungen der Natur, den umweltpolitischen Hintergrund des Romans und vor allem alles, was mit Rubys Taubheit zu tun hatte, ausgesprochen interessant. Die Auseinandersetzungen zwischen Yasmin und Matt über den richtigen Umgang damit und den besten Weg für die Tochter, mit der Behinderung in einer Welt von Hörenden zurechtzukommen, sowie die Strategien von Ruby waren für mich der stärkste Teil des Hörbuchs und werden mir in Erinnerung bleiben.

Tanja Geke liest die sechs CDs mit angenehmer Stimme und ohne allzu viel Schauspielerei sehr unaufgeregt-ruhig und so, dass die Erzählperspektive zu jeder Zeit klar ist.

Rosamund Lupton: Lautlose Nacht. argon hörbuch 2016
www.argon-verlag.de

Gesine Schulz: Eine Tüte grüner Wind

Denkste!

Wie traurig, wenn ein Scheidungskind in den Ferien „untergebracht“ werden muss, weil beide Eltern andere Pläne haben. Genauso ergeht es der zehnjährigen Lucy, deren Mutter Urlaub mit dem neuen Freund und der Vater mit seiner zweiten Familie machen will. Lucy soll eine ihr unbekannte Tante in Irland besuchen, die in der Familie als verrückt und als schwarzes Schaf gilt, Widerstand zwecklos. Doch ganz überraschend wird der Urlaub dann doch klasse, denn Tante Paula zeigt viel Verständnis und Einfühlungsvermögen und Lucy findet nicht nur neue Freunde, sondern verliebt sich wider Erwarten auch in die grüne Insel.

Eine Tüte grüner Wind erschien erstmals 2002 und ist das Kinderbuchdebüt von Gesine Schulz, eine ruhige Geschichte, sehr einfühlsam geschrieben und mit schönen Beschreibungen Irlands. Lucy war mir spontan genauso sympathisch wie das sommersprossige Mädchen auf dem Cover, und bin mir sicher, dass kleine Leserinnen ab ca. neun Jahre sich gut mit ihr identifizieren können.

Gesine Schulz: Eine Tüte grüner Wind. Carlsen 2005
www.carlsen.de

Arnold Lobel: Das große Buch von Frosch und Kröte

Allerbeste Freunde

Ein Klassiker der amerikanischen Kinderliteratur gehört auch zu meinen liebsten Vorlesebüchern: Das große Buch von Frosch und Kröte von Arnold Lobel (1933 – 1987), nacherzählt von der deutschen Kinderbuchautorin Tilde Michels (1920 – 2012).

Der Sammelband enthält die vier Einzeltitel Frosch und Kröte – Dicke Freunde, Frosch und Kröte – Der Liebesbrief, Frosch und Kröte – Unzertrennlich und Frosch und Kröte – Ende gut, alles gut und begleitet die beiden ungleichen Freunde durch das Jahr.

Die kindgerechte Themenpalette umfasst Freundschaft, Mut, Geduld, gute Vorsätze, Angst, Scham, Freude und vieles mehr. Die kurzen Geschichten eignen sich zum Vorlesen ab ca. fünf Jahren und für das ganze Grundschulalter, aber aufgrund der großen Schrift, der kurzen Zeilen und des geringen Textumfangs auch für Leseanfänger. Sind sind liebevoll und warmherzig erzählt, mal witzig, mal nachdenklich, immer tiefgründig und nahzu auf jeder Seite vom Autor wunderschön illustriert.

Das große Buch von Frosch und Kröte ist für mich ein Buch, das in keinem Kinderzimmer fehlen sollte.

Arnold Lobel: Das große Buch von Frosch und Kröte. dtv junior 2015
www.dtv.de

Ian McEwan: Nussschale

Auf Leben und Tod

Nein, dieses Buch war leider überhaupt nichts für mich, obwohl ich viele Romane von Ian McEwan, Abbitte, Am Strand oder Kindeswohl, zu meinen Lieblingsbüchern zähle, der Diogenes Verlag einer meiner bevorzugten Verlage ist und Bernhard Robben zu den von mir meistgeschätzten Übersetzern gehört.

Die Geschichte ist schnell erzählt: Ein Embryo wird im Mutterleib Zeuge der Planung und Durchführung des Giftmords an seinem Vater, begangen von seiner ehebrecherischen Mutter und dem Onkel. Selbstredend ist der Fötus zur Untätigkeit verdammt und kann das Verbrechen nicht verhindern.

Prinzipiell hätte ich mir eine gelungene Umsetzung dieses Hamlet-Stoffs vorstellen können, speziell von einem Autor wie Ian McEwan, aber was ich dann gelesen habe, hat mich zu keiner Zeit überzeugt. Nicht nur, dass der unerträglich neunmalkluge Embryo, geschult durch nächtelanges Radiohören, alle den Autor beschäftigenden Themen vom Klimawandel über den Terrorismus, die Flüchtlingskrise usw. wie auf einer To-do-Liste abarbeitet, ein bisschen philosophiert und sein Expertenwissen über Weinsorten mitteilt. Beim Erzählen werden die Grenzen zwischen dem Hören, das ihm möglich ist, und dem Sehen, das ihm nicht möglich ist, immer wieder verwischt und führen so ständig zu logischen Brüchen in seinem Monolog.

In vielen Rezensionen wird der Humor dieses Romans gerühmt. Nun ist bekanntlich Humor eine Sache, über die sich trefflich streiten lässt. Ich für meinen Teil konnte der Geschichte so gar nichts Komisches abgewinnen, eher hat mich die wiederholte Beschreibung des Geschlechtsverkehrs aus der Sicht des Fötus extrem abgestoßen und der manierierte, altkluge Monolog genervt und sogar gelangweilt. Ich habe den Roman auch nicht als geistreich empfunden, eher wurde eine Vielzahl von Themen kurz angerissen und wirkte dadurch für mich platt.

Am Ende nimmt das Buch mit dem Auftauchen von Chief Inspector Allison doch noch ein wenig Fahrt auf, stellt sich etwas wie Spannung ein. Zu wenig allerdings, um mein Urteil noch zu ändern.

Ian McEwan: Nussschale. Diogenes 2016
www.diogenes.ch

Max Küng: Wenn du dein Haus verlässt, beginnt das Unglück

Ein Puppenhaus oder Am Ende ist jeder allein

Wer würde es sich nicht ab und zu wünschen, bei fremden Menschen Mäuschen zu spielen und sie in ihrem privaten Umfeld unbemerkt zu beobachten? Der Schweizer Journalist und Autor Max Küng gibt uns in seinem zweiten Roman Wenn du dein Haus verlässt, beginnt das Unglück die Möglichkeit dazu, die Bewohner der Züricher Lienhardstraße 7 hemmungslos auszuspionieren. Wie ein Riese, der das Dach und die Stockwerke eines Puppenhauses anhebt, bekommen wir Einblick in das Mietshaus mit seinen fünf so unterschiedlichen Parteien und werden während eines halben Jahres Zeugen ihres Alltags und ihrer kleinen und großen Tragödien. Am Ende dieser Zeit hat sich vieles verändert hat, ist manches besser geworden ist, ohne dass allerdings die zu Beginn an alle ausgesprochene Kündigung einen entscheidenden Einfluss darauf genommen hätte.

Eingerahmt wird die Geschichte von einem jeweils besonders gut gelungenen Prolog und Epilog, der uns gekonnt ins Thema einführt bzw. Bilanz und Ausblick liefert. Hier wird deutlich, wo für mich die größte Stärke des Romans liegt: in der Fähigkeit von Max Küng, Menschen zu beobachten und unaufgeregt über sie zu erzählen. Dabei entlarvt er die Schwächen seiner Protagonisten schonungslos und manchmal mit einem hintergründigen Humor. Ein banaler Vorgang wie das Staubsaugen wird bei ihm zu einer bildreich beschriebenen Szenerie, die ein ganz neues Licht auf diese vielleicht bisher gänzlich unterschätzte Tätigkeit wirft.

Da die Bewohner des Hauses nahezu durchweg für mich alles andere als Sympathieträger waren, ist es mir nicht gelungen, Empathie zu entwickeln. Ich habe ihr Leben interessiert beobachtet, ihr Wohlergehen hat mich aber größtenteils kaltgelassen. Ich habe mich über ihr Verhalten und ihre Wohlstandsprobleme sowie über ihre Unfähigkeit, etwas aus ihrem Leben zu machen, gewundert, wo sie doch eigentlich in jeder Hinsicht zu den Privilegierten unserer Gesellschaft gehören, und konnte so gut wie kein Mitleid für sie aufbringen.

Etwas verwundert war ich, dass die Kündigung der Mietverträge, die am Anfang des Romans steht, so wenig Einfluss auf die Handlung genommen hat. Hier hat der Autor in meinen Augen Potential verschenkt – oder wollte er uns gerade anhand dieses Beispiels zeigen, wie wenig sich die Protagonisten von äußeren Ereignissen zur Interaktion bringen lassen?

Alles in allem habe ich den Roman, der auch herstellungstechnisch vom Kein & Aber Verlag wie immer sehr schön gemacht ist, gerne gelesen, habe mich gut unterhalten gefühlt und war am Ende dankbar, nicht in einer solchen Nachbarschaft leben zu müssen.

Max Küng: Wenn du dein Haus verlässt, beginnt das Unglück. Kein & Aber 2016
keinundaber.ch