Milena Busquets: Auch das wird vergehen

Sex als Mittel der Überwindung von Trauer

In der Literatur gibt es unzählige Versuche, den Tod der Eltern zu verarbeiten: John von Düffel (Hotel Angst) reist nach dem Tod des Vaters nach Bordighera, wo die Familie ihre Sommerurlaube verbracht und der Vater seinen Lebenstraum gelebt hat, Helen Macdonald richtet in H wie Habicht im Gedenken an den verstorbenen Vater ein Habichtweibchen ab, Simone de Beauvoir reflektiert in Ein sanfter Tod das schwierige Verhältnis zur verstorbenen Mutter und Milena Busquets versucht, ebenfalls autobiografisch inspiriert, ihre ca. 40-jährige Romanheldin Blanca den Tod der Mutter im Sex vergessen zu lassen („Sex gefällt mir, weil er mich im Hier und Jetzt festzurrt.“)

Der kurze Roman beginnt und endet auf dem Friedhof von Cadaqués, einem katalanischen Ferienort an der Costa Brava, gut zwei Autostunden von Barcelona entfernt. Das Begräbnis zu Beginn und der erste Besuch am (geschlossenen) Friedhof rahmen die Handlung ein. Dazwischen liegen wilde Tage, die Blanca zusammen mit ihren beiden Söhnen, den beiden verflossenen Ehemännern, dem aktuellen Liebhaber und Freunden in ihrem Sommerhaus verbringt. Partys, Bootsausflüge, Drogen, Alkohol und Sex bestimmen die Tage. Die Ich-Erzählerin Blanca, von Trauer und Melancholie durchdrungen, begegnet in ihren Gedanken immer wieder der verstorbenen Mutter, reflektiert das nicht unproblematische gemeinsame Leben, die Krankheit und den Tod.

Doch trauert sie wirklich nur um die Mutter? Mir kamen ihre Orgien der Selbstbemitleidung und Jammerei („Manchmal fühle ich mich, als ob ich alles verloren hätte“) eher so vor, als ob sie um sich selbst trauert, den Verlust der Jugend. Wer sich wie sie nur über ihre Männer, ihre Affären und über ihr Aussehen definiert, den muss der Gedanke an das Alter und die Vergänglichkeit besonders schrecken.

Die Beurteilung dieses Romans fällt mir ausgesprochen schwer. Einerseits kann Milena Busquets wunderbar atmosphärisch und virtuos schreiben. Ihre Sätze sind eine Liebeserklärung an die Sprache und klingen nach. Auch mir kam immer wieder der Vergleich mit Françoise Sagan in den Sinn. Andererseits konnte mich die Protagonistin in ihrer Selbstbezogenheit und Oberflächlichkeit zu keiner Zeit überzeugen. Wann denkt sie jemals an andere, ihre Kinder zum Beispiel, die die Großmutter verloren haben? Welches Männer- und Frauenbild hat diese Frau, die scheinbar ohne arbeiten zu müssen und mit einem Kindermädchen ausgestattet, nur dem eigenen Vergnügen frönt? Hat die Generation der heute Vierzigjährigen wirklich so wenig aus der Emanzipationsbewegung mitgenommen?

Beim heftigen Schwanken zwischen drei und vier Sternen entscheide ich mich für vier, weil mich der Roman trotz aller Kritik gut unterhalten hat und ich schließlich nicht über die Protagonistin zu urteilen habe.

Milena Busquets: Auch das wird vergehen. Suhrkamp 2016
www.suhrkamp.de

Donna Milner: River

Wenn Geheimnisse mehr Schaden anrichten als die Wahrheit

River ist der Debütroman der kanadischen Autorin Donna Milner und eine Familiensaga aus dem Kanada der 1960er-Jahre.

Ich-Erzählerin ist Natalie Ward, die eine harmonische, geborgene  Kindheit bei ihren sehr unterschiedlichen Eltern und mit drei älteren Brüdern erlebt hat. Die Familie lebt auf einer Milchfarm, drei Kilometer von der amerikanischen Grenze entfernt.

Der Roman spielt in zwei Zeitebenen. 2003 ist Natalie um die 50 Jahre alt, ist zum dritten Mal verheiratet und macht sich mit dem Bus auf eine lange Reise ans Sterbebett ihrer Mutter. Sie hat die Farm mit 17 verlassen und ist kaum dorthin zurückgekehrt. Die Busreise ist eine Reise in die Vergangenheit. Aber was ist damals geschehen, das eine so intakte Familie derart spalten konnte?

220 Seiten müssen wir Leser durchhalten, bis die Geschehnisse aus dem Jahr 1966 allmählich Konturen annehmen. Verraten werden soll das hier natürlich nicht, nur so viel: Im Mittelpunkt der Ereignisse stand damals River, ein Kriegsdienstverweigerer und Hippie aus den USA, der als Helfer auf den Hof kam und den alle liebten. Trotzdem löste er eine solche Kettenreaktion von Katastrophen aus, dass das Leben der Familie Ward aus den Angeln gehoben wurde.

Donna Milner erzählt sehr amerikanisch und packend über das Leben in einer kanadischen Kleinstadt in den 1960er-Jahren als wäre sie ein schwäbisches Dorf. Sie versteht es, Spannung aufzubauen, und zeigt, wohin Sprachlosigkeit führen und was sie zerstören kann.

Unterhaltsam, emotional und keine schwere Kost.

Donna Milner: River. Piper 2010
www.piper.de

Stefan Moster: Neringa

Familienlegenden

Ein namenloser Protagonist in der Midlife-Krise, der seine unerfüllten Lebenswünsche auf den verstorbenen Großvater projiziert, steht im Mittelpunkt des Romans Neringa oder Die andere Art der Heimkehr von Stefan Moster.

Der Ich-Erzähler, 50 Jahre alt, lebt in London, arbeitet in der IT-Branche und bereitet Produkten, die sich noch in der Entwicklung befinden, einen Markt, indem er die potentiellen Käufer von deren Notwendigkeit überzeugt. Obwohl erfolgreich, ist er unzufrieden. Wie glücklich muss doch sein Großvater Jakob gewesen sein, der als Pflasterer in Mainz künstlerische Straßenmosaike entworfen hat und am Abend sein bleibendes Werk zufrieden betrachten konnte. Und was wird von ihm einmal bleiben?

In Rückblenden scheint die Vergangenheit auf: eine Kindheit bei lieblosen Eltern, ein angedeuteter Missbrauch durch einen Pfarrer, eine missglückte erste Liebe, eine jahrelange Psychotherapie während des Studiums und immer wieder der Großvater, Dreh- und Angelpunkt seiner Gedanken. Doch welche der Legenden um den Großvater halten einer Überprüfung stand?

Während sich der Protagonist in seinen einsamen Gedankengängen förmlich zu verheddern scheint, tritt plötzlich eine Frau in sein Leben. Es ist seine Putzhilfe, eine Litauerin mit Universitätsabschluss, die in ihrer Freizeit beim Figurentheater mitwirkt. Diese kluge junge Frau, die er erst entlassen muss, um sich ihr nähern zu können, hört ihm zu, ist vielleicht die Erste, die ihn versteht, und begleitet ihn auf seiner Suche nach dem Großvater. Je wichtiger Neringa für ihn wird, desto mehr Sinn verspürt er in seinem Leben und desto mehr kann er schließlich von den Überhöhungen des Großvaters lassen.

Stefan Mosters Roman ist sprachlich ein Meisterwerk, bei dem das Lesen schon aus diesem Grunde eine Freude ist. Inhaltlich hätte ich mir an der ein oder anderen Stelle gewünscht, die Sicht des Ich-Erzählers von neutraler Stelle bestätigt oder korrigiert zu bekommen – zu unglaublich oder verschleiernd klangen oft seine Ausführungen, vor allem rund um die Psychotherapie. Trotzdem ein wirklich empfehlenswerter Roman!

Stefan Moster: Neringa. mare 2016
www.mare.de

Isabel Allende: Die Insel unter dem Meer

Der Preis der Freiheit

Auch wenn ich Isabel Allendes chilenische Romane mit dem magischen Realismus und die Romane über ihre Familie noch lieber mag, so habe ich doch auch ihren 17. Roman, Die Insel unter dem Meer, einen opulenten historischen Roman und eine beeindruckende Familiensaga, mit Freude gelesen.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht die Mulattin Zarité, genannt Tété, die Ende des 18. Jahrhunderts als Sklavin zu Toulouse Valmorain kommt. Dieser hält sich unfreiwillig in Santo Domingo (= Haiti) auf, wo er die heruntergewirtschaftete Zuckerrohrplantage seines Vaters übernommen hat. Tété wird zunächst die Sklavin seiner geisteskranken Frau, später seine Geliebte. Von Anfang an strebt sie nach ihrer Freiheit, zunächst in ihrer Heimat, später in Louisiana, wohin sie nach den Sklavenaufständen gelangt.

Der gut recherchierte historische Roman in der Isabel Allende eigenen bildreichen, farbigen Sprache und ihrer mitreißenden Erzählweise führt den Leser durch eine turbulente Zeit: die Sklavenaufstände in Santo Domingo, die Sezessionskriege in den amerikanischen Südstaaten, die Französische Revolution und die Zeit der Schmuggler auf Kuba. Für Unterhaltung und Spannung ist also gesorgt.

Isabel Allende: Die Insel unter dem Meer. Suhrkamp 2011
www.suhrkamp.de

Shilpi Somaya Gowda: Der goldene Sohn

Zwischen Tradition und Moderne

Bereits in ihrem empfehlenswerten Erstling Geheime Tochter hat die indisch-kanadische Autorin Shilpi Somaya Gowda vom Leben in zwei Welten erzählt, von der Zerrissenheit zwischen Indien und den USA. Auch in ihrem neuen Roman, der wieder in einer sehr einfachen Sprache, aber packend und gekonnt erzählt ist, spielt diese Zerrissenheit eine zentrale Rolle. Gleichzeitig ist es ein Roman über zwei Lebensschicksale im modernen Indien, über althergebrachte Traditionen, über Heimat und den Aufbruch zu neuen Ufern.

Anil und Leena sind im gleichen (fiktiven) indischen Dorf Panchanagar aufgewachsen und waren schon immer Freunde, obwohl Anils Familie als größere Landbesitzer über Leenas Eltern standen. Anils Vater, Streitschlichter des Dorfes und dadurch hoch angesehen, hat früh die herausragenden schulischen Fähigkeiten seines ältesten, „goldenen“ Sohnes erkannt und gefördert. So konnte Anil, anders als seine drei Brüder, studieren und wird Arzt . Anschließend wird ein Traum für ihn wahr: Er erhält als einer der ganz wenigen Ausländer eine Facharztstelle am (ebenfalls fiktionalen) Parkview Hospital in Dallas. Die Schilderung der harten Assistenzarztzeit hat mich sehr an den ebenfalls empfehlenswerten Roman Rückkehr nach Missing von Abraham Verghese erinnert.

Leena dagegen wird nach alter Sitte und gegen die indischen Gesetze mit Hilfe einer hohen Mitgift und der Unterstützung von Anils Vater an einen scheinbar ehrenhaften Mann verheiratet. Ihr Schicksal ist besonders bewegend.

Obwohl mich Indien als Reiseland nicht reizt, haben es mir indische Romane in letzter Zeit angetan. Neben Die Farben der Hoffnung von Lavanya Sankaran und Die Glückssucher von Tishani Doshi kann auch Der goldene Sohn allen empfehlen, die anhand eines spannenden, leicht zu lesenden Romans mehr über dieses Land erfahren möchten.

Shilpi Somaya Gowda: Der goldene Sohn. Kiepenheuer & Witsch 2016
www.kiwi-verlag.de

Christa Wolf: Kindheitsmuster

Kontinuität der Grausamkeit

In drei Ebenen erzählt Christa Wolf (1929 – 2011) ihren autobiografischen Roman Kindheitsmuster.

Da ist einmal die Kindheit der Nelly Jordan im Dritten Reich, geprägt durch unerschütterlichen Führerglauben, die nie für möglich gehaltene Niederlage, Flucht, wechselnde Besatzungen und schwierigen Neubeginn.

Eine zweite Ebene bildet die Reise 1971 in das nun polnische Heimatdorf, eine dritte die Gegenwart 1975 mit Vietnamkrieg und Putsch in Chile, die für die Kontinuität der Grausamkeit stehen.

Die Autorin liest ihren leicht gekürzten Roman auf diesen acht CDs monotoner und distanzierter als ausgebildete Sprecher, dafür aber umso eindrücklicher.

Christa Wolf: Kindheitsmuster. DAV 2009
www.der-audio-verlag.de

Ute Krause: Minus Drei wünscht sich ein Haustier

Aus dem Alltagsleben einer Dinofamilie

Wer hätte gedacht, dass Dinoeltern sich mit den gleichen Problemen herumschlagen müssen wie wir?

Der kleine Dino Minus wünscht sich sehnlichst ein Haustier, nur einen winzigen Bronto oder einen klitzekleinen Flugsaurier. Mutter Dino aber bleibt stur: „Das kommt mir nicht in die Höhle!“.  Denn wer soll so ein Tier schließlich versorgen und ausführen? Da kommt Minus auf eine tolle Idee: Er bietet auf Plakaten Haustierbetreuung an. Doch der Job ist anstrengender als gedacht und nach drei Einsätzen ist Minus völlig gerädert. Und gerade da haben seine Eltern eine tolle Überraschung für ihn…

Über dieses Erstlesebuch mit den witzigen, detailreichen und liebevoll gemalten Illustrationen habe ich mich köstlich amüsiert. Aufgrund der geringen Textmenge in großer Schrift ist es trotz der komplizierten Dinosauriernamen, die vielen Kindern aber geläufig sein dürften, für Erstleser geeignet. Genauso gut kann man es aber Kindern ab 5 Jahren vorlesen.

Ute Krause: Minus Drei wünscht sich ein Haustier. cbj 2014
www.randomhouse.de

Alice Greenway: Schmale Pfade

Inseln und Vögel

Es gab gleich mehrere Gründe, warum ich dieses Buch unbedingt lesen wollte: das farblich zurückhaltende Cover, das im wahrsten Sinne federleicht wirkt, der geheimnisvolle Titel, der nichts über den Inhalt verrät, der Handlungsort Maine, der Übersetzer Klaus Modick, den sogar der gestrenge Dennis Scheck zu den „großen Erzählern der Bundesrepublik“ zählt, und der mare Verlag, der mich noch nie enttäuscht hat. Nach der Lektüre kann ich feststellen, dass mein Gefühl mich nicht getäuscht hat. Ich habe diesen Roman von der ersten bis zur letzten Seite inhaltlich, atmosphärisch sowie sprachlich genossen und das erstaunt mich umso mehr, als ich für den Helden  nur Mitleid, aber keine Sympathie empfinde.

Der Roman beginnt in den 1970er-Jahren, als Jim Kennoway, geboren 1903, ein alter, verbitterter Mann ist, geheimniskrämerisch, schlecht gelaunt, abweisend und unfreundlich. Er trinkt und raucht im Übermaß, weshalb ihm zu seinem großen Groll ein Bein oberhalb des Knies amputiert werden musste. Er hat seine Arbeit in der ornithologischen Abteilung des American Museum of Natural History in New York aufgegeben und sich in das Sommerhaus seiner Familie auf eine Insel vor der Küste von Maine zurückgezogen. Doch auch dort findet er nicht die gewünschte Ruhe, denn sein alter Freund Stillman und sein Sohn Fergus bemühen  sich trotz seiner Zurückweisung um ihn. Und dann kündigt sich auch noch Cadillac an, Tochter seines Kriegsfreunds Tosca Baketi von den Salomonen, wo er 1942/43 gegen die Japanern gekämpft hat. Cadillac hat einen Studienplatz für Medizin in Yale und möchte zuvor einige Zeit bei Jim verbringen. Schafft sie es, mit ihrer Unbefangenheit und Direktheit Jims Panzer aufzuweichen? Auf jeden Fall weckt sie lange verdrängte Erinnerungen.

Ein despotischer Großvater und ein mitverschuldeter Unglücksfall überschatteten Jims Kindheit. Doch dem naturbegeisterten Jungen eröffnete sich in einer neuen Umgebung auf Cumberland Island/Georgia eine neue Lebensperspektive. Er machte die Ornithologie zu seinem Beruf und heiratete die fröhliche, lebensfrohe Helen, die er über alles liebte. Und doch konnte er sein Glück nicht festhalten: Die freiwillige Meldung zur Armee als Marineoffizier in der Südsee traumatisierte ihn nicht nur, sondern zerstörte auch seine Familie.

Sehr gut gefallen hat mir das Leitmotiv „Insel“, das den ganzen Roman durchzieht: als  geografische Inseln, als innerer Rückzugsort oder in Form der Schatzinsel von Robert Louis Stevenson, mit der Jim intensiv beschäftigt. Daneben haben mich, der ich bisher ornithologisch kaum interessiert war, die Natur- und Vogelbeschreibungen begeistert.

Der präzise komponierte Aufbau der Geschichte lässt trotz dreier Zeitebenen und mehrerer Schauplätzen keine Verwirrung aufkommen. Die Sprache ist einfühlsam, melancholisch und klar.

Wer sich auf den Roman einlassen und dem langsamen Duktus der Autorin folgen mag, dem verspreche ich ein unvergessliches Leseerlebnis.

Alice Greenway: Schmale Pfade. mare 2016
www.mare.de

Birgit Vanderbeke: Das Muschelessen

Fast ohne Punkt und Komma

Die Rückkehr des Vaters von einer Dienstreise und dessen voraussichtliche Beförderung sollen um 18 Uhr mit einem gemeinsamen Muschelessen der ganzen Familie – Vater, Mutter, Sohn und Tochter – gefeiert werden. Als der stets pedantisch pünktliche Vater auch einige Minuten nach 18 Uhr noch nicht zu Hause ist, beginnt sich eine Unruhe auszubreiten. Die von den dreien als eklig empfundenen Muscheln vor sich, die nur ihm zuliebe zubereitet werden, wird der Patriarch erst zögernd und dann immer unverblümter kritisiert. Sein bisher unangefochtener Machtanspruch, die emotionale Kälte in der Familie und das Denunziantentum kommen erstmals offen zur Sprache. Je weiter der Abend fortschreitet und je mehr die drei der Spätlese zusprechen, desto direkter wird die Anklage, desto mehr wird der gewalttätige Terror des Vaters, dessen Lebensziel es ist, die Fassade einer intakten Musterfamilie aufrecht zu erhalten, entlarvt.

Ich-Erzählerin in dieser in den späten 1970er-Jahren angesiedelten Geschichte ist die ca. 18-jährige Tochter, die ohne Absatz und Kapiteleinteilung und mit sparsam gesetzten Punkten in ungeordneter Struktur und ohne Chronologie heraussprudelt, was ihr durch den Kopf geht. Die Wiederholungen und die oft naiv wirkenden, resigniert erzählten Episoden haben mich in Bann gezogen. Die erzählte Zeit von ca. 4 Stunden entspricht der Erzählzeit und lädt dazu ein, das Buch in einem Rutsch zu lesen.

Birgit Vanderbeke, geboren 1956, hat mit ihrem Erstling Das Muschelessen 1990 sofort den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen und seither zahlreiche weitere Romane veröffentlicht. Zentrale Themen ihres Werks sind Familienstrukturen, Liebe und Spießertum.

Birgit Vanderbeke: Das Muschelessen. Piper 2012
www.piper.de

Christa Holtei & Gerda Raidt: In die neue Welt

Ein Auswandererschicksal

Vor zwei Jahren habe ich das Auswanderermuseum in Bremerhaven besucht, eine der museumpädagogisch für Kinder und Erwachsene am besten aufbereiteten Ausstellungen, die ich kenne.

Ähnlich gut gemacht ist das Bilderbuch In die neue Welt, das mit dem Text von Christa Holtei und den Illustrationen von Gerda Raidt das Thema Auswanderung für Kinder ab ca. sechs Jahren konkret am Beispiel einer Familie sehr gut verständlich aufbereitet.

Die vierköpfige Familie Peters entschließt sich 1869 wegen ihrer Armut aus der preußischen Provinz Hannover in die USA auszuwandern. Wir erleben sehr kindgerecht, aber auch für Erwachsene ansprechend, ihre Reisevorbereitungen und den schweren Abschied, die zweiwöchige Überfahrt im Zwischendeck der Teutonia, die Weiterreise auf dem Mississippi, die Ankunft in Nebraska, die Fahrt mit dem Planwagen, die Ankunft in der Prärie und den Neubeginn im fremden Land.

150 Jahre später recherchieren Nachfahren die Geschichte und besuchen die alte Heimat Deutschland.

Interessant ist außerdem ein Vergleich der Farm und des Hamburger Hafens früher und heute, wobei es für Groß und Klein viel zu entdecken gibt.

Dieses Bilderbuch ist einerseits aufgrund der heutigen Flüchtlingsbewegung hochaktuell, andererseits als Geschichts- und Geografiebuch für Kinder und Erwachsene äußerst spannend und anregend.

Christa Holtei & Gerda Raidt: In die neue Welt. Beltz & Gelberg 2013
www.beltz.de