Sabine Rennefanz: Die Mutter meiner Mutter

Die Sünden der Väter reichen bis ins dritte oder vierte Glied

„Ich habe etwas über deinen Großvater herausgefunden, flüsterte meine Mutter“ – mit diesem ungeheuerlichen Satz beginnt der Roman Die Mutter meiner Mutter, der mich von der ersten bis zur letzten Seite gefesselt, berührt und bis jetzt, einige Tage nach dem Ende des Lesens, nicht mehr losgelassen hat.

Mit der Eröffnung der Mutter beginnt die Spurensuche der Enkelin, die nicht mehr länger dem in der Familie sorgsam gehegten „Skript, in dem allen Rollen zugeschrieben werden, an die sie sich zu halten haben“ folgen will. Demnach war der Großvater der Held, der treusorgende Familienvater, der vorbildliche Ehemann, der barmherzige Patriarch und die Großmutter die harte, missmutige, unnahbare Frau, die vor jeder Berührung zurückschreckte und scheinbar nicht lieben konnte. So hat auch die Enkelin ihre Großeltern erlebt – und nun soll auf einmal alles ganz anders sein, das Drehbuch der Familie umgeschrieben werden?

Die Großmutter, Anna, gebürtig in Schlesien, musste nach dem Krieg als Vierzehnjährige zusammen mit ihrer Stiefmutter und den Stiefbrüdern fliehen, nachdem die Russen ihren Vater abgeholt hatten. Nach traumatischen Wochen kam die Familie in einem Dorf in der sowjetisch besetzten Zone an, von der einheimischen Bevölkerung alles andere als freundlich aufgenommen. Anna hatte das Glück, bei einer freundlichen Bauernfamilie als Magd unterzukommen. Vielleicht wäre ihr Leben doch noch gut verlaufen, hätte es da nicht den verspäteten Kriegsheimkehrer Friedrich Stein und den verhängnisvollen Schlachttag im Jahr 1949 gegeben…

Sabine Rennefanz erzählt eine autobiografische Geschichte über eine Familienlüge, über ein archaisch anmutendes Dorfgefüge, über das verhängnisvolle Schweigen und über die Frage von Schuld und Vergebung. Trotz oder vielleicht gerade bewusst wegen ihrer eigenen Betroffenheit wählt sie einen nüchternen, distanzierten, sachlichen, unaufgeregten und doch sehr sensiblen Stil, dessen Wirkung auf mich umso emotionaler und berührender war. Einfühlsam beschreibt sie, wie „die Sünden der Väter bis ins dritte oder vierte Glied reichen“, der Schatten eines Verbrechens auf ihrer Großmutter, ihrer Mutter, deren Schwestern und ihr selber liegen, und doch alle völlig unterschiedlich damit umgehen.

Für mich ist dieses mit einem besonders gelungenen, ruhigen Cover und der wunderbaren Farbgebung sehr passend gestaltete Buch ein Lesehighlight des Jahres 2015 und ein Buch, das im Gedächtnis bleibt.

Sabine Rennefanz: Die Mutter meiner Mutter. Luchterhand 2015
www.randomhouse.de

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert