Lisa-Marie Dickreiter: Vom Atmen unter Wasser

Wenn die Zeit die Wunden nicht heilt

Vor einigen Monaten habe ich Justins Heimkehr des US-Amerikaners Bret Anthony Johnston gelesen, in dem ein entführter Elfjähriger nach vier Jahren plötzlich wieder auftaucht. Im Mittelpunkt steht dabei nicht die kriminelle Tat, sondern das Innenleben der Familie vor und nach seiner Heimkehr.

Im Debütroman der 1978 geborenen Autorin Lisa-Marie Dickreiter Vom Atmen unter Wasser gibt es keine glückliche Heimkehr, jedoch weist die gewählte Perspektive trotz aller Unterschiede gewisse Parallelen auf. Die 16-jährige Tochter Sarah der Freiburger Familie Bergmann ist vor einem knappen Jahr auf dem Nachhauseweg von einer Party ermordet worden, zurück bleiben die Eltern Anne und Jo und der ältere Bruder Simon, die in ihrer Trauer jedoch nicht zueinander finden, sondern sich immer mehr voneinander entfernen. Nach diesem ersten Jahr begeht Anne einen erfolglosen Suizidversuch, denn die wohlmeinenden Versprechungen „Die Zeit heilt alle Wunden“,  „Die Zeit wird euch helfen“ oder „Die Zeit arbeitet für euch“ sind nicht eingetreten. Sie kann nicht mehr in ihrem Beruf als Krankenschwester arbeiten aus Angst, „dass eines Tages ein Mädchen kommt, das überlebt“, joggt bis zur Erschöpfung, bricht trotz ihrer Instabilität eine Therapie ab und schläft im Bett der Tochter. Sie leidet darunter, dass Sarah jeden Tag mehr aus ihrem Leben verschwindet und beschuldigt Jo und Simon, ihr Sarah wegnehmen zu wollen. Selbstvorwürfe quälen sie, weil sie zunächst kein zweites Kind wollte: „Ich habe sie nicht genug gewollt. Deswegen ist sie mir weggenommen worden.“ Ihre Recherchen über die letzten Stunden im Leben ihrer Tochter werden zur Obsession. Gleichzeitig beschuldigt sie ihren Mann, einen Sozialarbeiter, der ihr weniger unter dem Verlust zu leiden scheint: „Dir ist doch alles egal! Du lebst dein schieß Leben weiter, als wäre nichts passiert!“, doch auch Jo leidet auf seine Weise. Im Gegensatz zu seiner Frau versucht er, mit Aktionismus über die Trauer hinwegzukommen: „Anne, das Leben geht weiter! Und die Müllabfuhr kommt morgen trotzdem, ob’s uns nun passt oder nicht.“ Er hat nicht nur seine Tochter, sondern auch seine Frau verloren. Simon dagegen, der Medizinstudent, der in der Familie immer nur zweite Wahl hinter Sarah war, zieht auf Wunsch des Vaters nach Annes Selbstmordversuch wieder zuhause ein, um die Mutter unter Kontrolle zu haben. Auch er kämpft mit seinen Dämonen, denn er stand Sarah nicht besonders nah und ist überzeugt: „Wenn Sarah noch am Leben wäre und ich tot, dann hätte sie nicht versucht, sich umzubringen.“

Vom Atmen unter Wasser war für mich nicht nur wegen des für Eltern fast unerträglichen Themas, sondern auch wegen des emotional schwer auszuhaltenden, sehr intensiven und beklemmenden Stils eine Herausforderung. Die Erzählweise im Präsens unterstreicht den nicht nachlassenden Schmerz und die grenzenlose Einsamkeit der drei übriggebliebenen Familienmitglieder nachdrücklich, die kurzen Sätze vermitteln eine Form von Atemlosigkeit. Abwechselnd erzählt Lisa-Marie Dickreiter in personaler Form über die drei Protagonisten, wobei jeweils der Name als Kapitelüberschrift dient.

Als Außenstehende hätte ich erwartet und mir natürlich auch gewünscht, dass Anne, Jo und Simon in dieser schwierigen Situation anders miteinander umgehen, zueinander finden, sich gegenseitig stützen und Trost spenden können, doch leider ist das Gegenteil hier der Fall. Langsam und zunächst widerstrebend habe ich mich im Laufe der Geschichte mit dem Gedanken angefreundet, dass getrennte Wege manchmal die bessere Alternative sind. Denn erst dadurch kommt am Ende doch noch so etwas wie Hoffnung auf eine vielleicht wieder freiere Atmung auf.

Nicht besonders angenehm zu lesen finde ich die Taschenbuchausgabe des Verlags Bloomsbury, die sich der Lektüre förmlich zu widersetzen scheint und entweder brutal „aufgebrochen“ oder mit zwei Händen gelesen werden muss.

Lisa-Marie Dickreiter: Vom Atmen unter Wasser. Bloomsbury Verlag 2012
www.piper.de/berlin-verlag

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