Stefan Hertmans: Der Aufgang

  Belgische Geschichtsstunde

 

Aus einem Impuls heraus erwirbt der Ich-Erzähler 1979 ein altes Patrizierhaus im Genter Altstadtviertel Patershol, einem Stadtteil, gegen dessen Abriss er in den 1960er-Jahren protestierte. Den heruntergekommenen Zustand nimmt er zur Kenntnis, doch halten Schimmel, Feuchtigkeit, Moder, ein vollgelaufener Keller und Ratten ihn nicht ab:

Das alles nahm ich mit Schrecken und mit Begeisterung wahr, denn etwas in mir ahnte bereits, dass ich dem Haus nicht würde widerstehen können. (S. 165)

Ein geschichtsträchtiges Haus
Erst nachdem er es 20 Jahre später wieder verkauft hat, beginnt er, sich intensiver mit einem der früheren Mieter auseinanderzusetzen, dem SS-Mann, Kollaborateur und Kriegsverbrecher Willem Verhulst, Vater seines ehemaligen Geschichtsprofessors. Fortan lässt ihn die Lebensgeschichte von Willem Verhulst und seiner Familie nicht mehr los. Er sucht dessen noch lebende Töchter auf, liest Gerichtsakten, Tagebücher und Lebenserinnerungen verschiedener Familienmitglieder und bereist wichtige Schauplätze aus deren Biografie. Der Aufgang ist daher mehr Dokumentation als Roman und spürbar das Ergebnis jahrelanger akribischer Recherchearbeit.

Äußerer Rahmen ist die Hausbegehung mit dem Verkäufer, dem Notar De Potter, dessen Vater nicht nur Verhulsts Vermieter, sondern auch sein Anwalt im Kriegsverbrecherprozess von 1947 war. So wird der Gang von unten nach oben durchs Haus zu einem Gang durch ein bewegtes Leben.

Vom Flaminganten zum SS-Spitzel
Willem Verhulst wurde 1898 bei Antwerpen als Sohn eines Diamantschleifers geboren. Der Verlust der Sehkraft auf einem Auge, der frühe Tod der Mutter und die Rivalität mit den franko-belgischen Bürgersöhnen begründeten seinen Minderwertigkeitskomplex, der ihn  anfällig für radikale Ideen machte. Sein Hass auf den belgischen Staat führte ihn in radikale proflämische Kreise, seine Sympathien für ein großgermanisches Reich unter deutscher Führung nach der Besetzung Belgiens zur SS. Als „Schreibtischtäter“, Spion und V-Mann schickte er eine unbekannte Anzahl von Juden, Widerständlern und Freimaurern in den Tod. Obwohl zunächst zum Tode verurteilt, saß er nach dem Krieg nur wenige Jahre in Haft, radikalisierte sich dort sogar noch und blieb bis zu seinem Tod 1975 unbelehrbar.

© B. Busch

Verhulst und seine Frauen
Nach dem frühen Tod seiner jüdischen Frau Elsa Meissner heiratete er die niederländische Großbauerntochter Harmina Wijers, genannt Mientje. Obwohl sie als streng gläubige Calvinistin und Pazifistin Willems politische Überzeugungen nicht teilte und unter dessen langjähriger Geliebter Greta Latomme, genannt Griet, litt, blieb sie ihm bis ihrem Tod 1968 verbunden. Anders als der Egozentriker, Blender und zum Jammern neigende Verhulst war Mientje warmherzig, gütig, zupackend und intelligent und sorgte aufopferungsvoll für die drei Kinder, die „mit der Bürde des Vaters auf den Schultern“ (S. 177) leben mussten.
Dritte Ehefrau wurde nach Mientjes Tod seine Geliebte Griet, eine Gesinnungsgenossin, die ihm die von Mientje versagte Bewunderung schenkte. Sie starb 2003 mit einem Hitler-Porträt an ihrer Wand, von belgischen Rechtsradikalen betrauert.

Empfehlenswert
Ich habe Der Aufgang gern gelesen als klar strukturiertes, sehr informatives Zeugnis über einen belgischen Nazi-Kollaborateur, inhaltlich vergleichbar mit Vergesst unsere Namen nicht von Simon Stranger über einen ähnlichen Fall in Norwegen. Der Wechsel zwischen atmosphärischer Hausbeschreibung und nüchterner Biografie gefiel mir gut. Obwohl der knapp 380 Seiten starke Roman mit zahlreichen Schwarz-Weiß-Bildchen in Deutschland sicher nicht die gleiche Aufmerksamkeit bekommt wie in Belgien, halte ich das Thema für relevant und mit dem bis heute schwelenden flämisch-wallonischen Konflikt leider auch für aktuell.

Stefan Hertmans: Der Aufgang. Aus dem Niederländischen von Ira Wilhelm. Diogenes 2022
www.diogenes.ch

Anna Burns: Amelia

  Kollateralschäden

Amelia ist bei Ausbruch der Unruhen in Nordirland 1969 sieben Jahre alt, genau wie die 1962 in Belfast geborene Autorin Anna Burns, und wächst wie diese im katholischen, irisch-nationalistisch geprägten Arbeiterviertel Ardoyne auf. Schlagartig verändert sich das Leben aller Nordiren, Gewalt und Gegengewalt werden allgegenwärtig, zuerst auf den Straßen, dann auch innerhalb der Familien. 1971 soll ihre Schulklasse ein Friedensgedicht schreiben:


Amelia war genauso verwirrt wie die anderen. Nicht, dass sie etwas gegen Frieden gehabt hätte. Nur hatte sie auch nichts dafür. Was wusste sie denn? Wen konnte sie denn fragen? Niemanden. Niemand, den sie kannte, wusste irgendwas über Frieden. (S. 46)

In 23 lose zusammenhängenden Kapiteln mit Jahresangaben von 1969 bis 1994 geht es um Amelia, ihre Familie und ihre Freunde. Viele sind aktiv in den Konflikt verwickelt, einige kommen um, alle leiden unter psychischen Störungen:

Alles wurde in den Schatten gestellt, immer aufs Neue, vom nächsten, jüngsten, burtalsten Todesfall. (S. 128)

Im Trommelfeuer aus Gewalt, Hass und Rachegedanken flüchten sie in Alkohol, Drogen oder Essstörungen, entwickeln eine Borderline-Symptomatik, Depressionen oder Psychosen. Anders als bei Familienmitgliedern und Freunde löst die Gewalt bei Amelia „nie einen Kick“ aus. Obwohl sie das verhasste Ardoyne verlässt und 1989 gar nach London geht, verfolgen sie die Geister der Verstorbenen.

Eine Rückkehr zur Normalität scheint den Überlebenden sogar im Friedensprozess 1994 unmöglich:

Trotz aller Hoffnung und der vorübergehenden Besserung ihrer Laune fiel es ihnen daher schwer, das vertraute Grauen abzulegen […].  (S. 368)

Allgemeingültigkeit statt Nordirland-Problematik
Manchmal beginne ich ein Buch mit völlig falschen Erwartungen und werde trotzdem nicht enttäuscht. Leider war das bei Anna Burns Debütroman Amelia aus dem Jahr 2001, der  nach dem großen Erfolg ihres 2018 mit dem Man Booker Prize ausgezeichneten Romans Milchmann nun auf Deutsch erschien, anders. Ich hatte auf einen politischen Roman zum Nordirlandkonflikt gehofft, einem Thema, das mich nicht erst seit einer Reise nach Londonderry und Belfast 2018 sehr interessiert, und das leider als Folge des Brexits aktuell wieder an Brisanz gewinnt. Bekommen habe ich stattdessen einen Episodenroman über Kollateralschäden von Krieg für die betroffene Bevölkerung, wie es sie an jedem Konfliktherd gibt. Dass Gewalt dramatische Folgen für die psychische Gesundheit aller, besonders aber für Heranwachsende hat, ist keine überraschende Neuigkeit, führt aber noch einmal die absolute Notwendigkeit der Aufnahme von Kriegsflüchtlingen vor Augen.

Entlang des Peace Walls in West-Belfast heute. © M. Busch

Ein sehr durchwachsenes Fazit
Eine abschließende Bewertung dieses bei seinem ersten Erscheinen in Großbritannien hoch gelobten Romans fällt mir schwer. Einerseits habe ich mich durch viele der Kapitel gequält, vermisste schmerzlich politische Hintergrundinformationen und einen Anhang zu den Abkürzungen bürgerkriegswichtiger Organisationen und der Bedeutung von Straßen und Bezirken. Auf manches brutale Detail zu oft eher zufälligen Morden, Kniescheibenzerschießungen, unvorstellbaren häuslichen Gewaltexzessen, Vergewaltigungen oder außer Kontrolle geratenen Teenager-Gangs hätte ich gerne verzichtet. Einige Episoden waren mir zu ausschweifend, zu übertrieben oder eindeutig (absichtlich?) unrealistisch. Andererseits ist der Romanaufbau mit den in sich abgeschlossenen, aber immer wieder aufgenommenen Handlungssträngen durchdacht, der distanziert-unsentimentale Stil macht die Geschichten umso eindrücklicher und die fast völlige Beschränkung auf die Folgen der Gewalt verleiht dem Buch Allgemeingültigkeit. Trotzdem hätte ich wesentlich lieber ein Buch mit einem stärkeren Bezug zur Nordirland-Frage gelesen.

Anna Burns: Amelia. Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll. Tropen 2022
www.klett-cotta.de/buecher/tropen

 

Weitere Rezension zu einem Roman zum Nordirland-Konflikt auf diesem Blog:

Kristine Bilkau: Nebenan

  Landleben heute

Dorfromane haben nicht erst Konjunktur, seit die Städte durch Corona-Lockdown und Homeoffice-Pflicht an Attraktivität eingebüßt haben. In diesem Genre treffen Neuzugezogene und Alteingesessene aufeinander, Traum und Alptraum liegen oft eng beieinander.

Der dritte Roman Nebenan der Hamburgerin Kristine Bilkau gehört in dieses Genre, sticht aber zugleich angenehm heraus. Nach ihrem Debüt Die Glücklichen von 2015 über ein junges, von Abstiegsängsten gelähmtes Paar und Eine Liebe in Gedanken von 2018 über eine Tochter auf den Spuren ihrer verstorbenen Mutter spielt Nebenan in einem namenlosen Dorf am, genauer rechts und links vom Nord-Ostsee-Kanal und in der fünf Kilometer entfernten Kreisstadt.

© B. Busch

Zwei Frauen
Julia und ihr Mann Chris, eine mit ihrer beruflichen Situation in Hamburg unglückliche Kunsthistorikerin und ein Biologe, beide Ende 30, versuchen im Dorf einen Neuanfang. Im efeuumrankten kleinen Backsteinhaus von 1921 mit Garten soll die Familiengründung endlich klappen.

Astrid, Ärztin kurz vor der Rente mit eigener Praxis, wuchs im Haus ihrer Tante Elsa neben dem Efeuhaus auf. Sie arbeitet und lebt mit ihrem Mann Andreas in der Kreisstadt. Die drei Söhne haben die Heimat längst hinter sich gelassen.

Für Kindergarten, Schule und Einkäufe sind die Dörfler auf die Kreisstadt angewiesen, doch auch dort bröckelt die Infrastruktur. Läden schließen, das leerstehende Kaufhaus wird abgerissen und das Jugendzentrum wegen Einsturzgefahr geräumt:

Ladenflächen bleiben leer und Häuser verfallen, weil es für wenige steuerlich von Vorteil ist […]. (S. 110)

Julias neueröffneter Keramikladen scheint ein Hoffnungsschimmer, lebt aber hauptsächlich vom Onlinehandel.

Keine heile Provinzwelt
Wer hier Idylle erwartet, wird enttäuscht. Astrid findet bei einer Leichenschau Spuren von Misshandlung, leidet unter einer zerbrochenen Frauenfreundschaft, anonymen Drohbriefen und der Sorge um ihre alte Tante. Julias Kinderwunsch bleibt trotz Kinderwunschklinik vorläufig unerfüllt, Chris deckt einen Umweltskandal auf und das Einleben wird nicht zuletzt wegen Julias Menschenscheu schwieriger als gedacht:

[…], in diesem Dorf, in dem einige Leute aufeinander achten, aber nur einige, und zu denen gehören sie hier noch nicht. (S. 244)

So ist es erstaunlicherweise die Zugezogene, die sich die meisten Gedanken um das plötzliche Verschwinden der Patchworkfamilie im hässlichen Gelbklinker gegenüber macht.

Auf den ersten Blick scheinen die beiden Frauen gegensätzlich, einerseits die verzagte Julia mit ihrer Zurückgezogenheit, ihrem „wartenden Zimmer“ und ihrem sehnsüchtigen Stöbern nach Familienidylle in pastellfarbenen Internetforen, andererseits die tatkräftige, zugewandte Astrid mit dem nach außen perfekten Leben. Doch bei genauerer Betrachtung erkennt man ihre unerfüllten Sehnsüchte, ihre Ängste und Nöte, die sie auch vor ihren durchaus empathischen Männern verbergen.

Ein bunter Themenstrauß und Raum für Fantasie
In 42 Kapiteln, meist abwechselnd aus personaler Sicht der Protagonistinnen erzählt, zeigt die detailgenaue Beobachterin Kristine Bilkau zwei Frauenleben und die Veränderungen auf dem Land, unterschiedlichste Familienmodelle einschließlich Jugendwohngruppe, Grenzen zwischen Kümmern und Übergriffigkeit, Niedergang dörflicher und kleinstädtischer Strukturen, Leere und Einsamkeit, pastellfarbene Social-Media-Scheinwelten und das Unheimliche, das überall lauern kann.

Während mir bei der ersten Lektüre viele Erzählstränge offen und in der Schwebe vorkamen, wie es das immer wiederkehrende Motiv des Wassers nahelegt, fügte sich bei der zweiten alles wie von selbst. Ob die Fantasie da zu sehr mit mir durchgegangen ist? Nun schien mir das Ende dieses melancholisch-stillen, stilsicher geschriebenen und absolut empfehlenswerten Romans hoffnungsvoll:

Manches ist offenbar ganz von allein miteinander verbunden, ohne dass man etwas dafür tun muss. (S. 267)

Kristine Bilkau: Nebenan. Luchterhand 2022
www.penguinrandomhouse.de

 

Weitere Rezensionen zu Romanen von Kristine Bilkau auf diesem Blog:

Margaret Laurence: Eine Laune Gottes

  Schrei nach Freiheit


Margaret Laurence (1926 – 1987)
gehört zu den wichtigsten Autorinnen Kanadas und beeinflusste maßgeblich Alice Munro und Margaret Atwood. Letztere schildert in ihrem vorzüglichen Nachwort zu Eine Laune Gottes eine unvergessliche Begegnung mit ihrem literarischen Idol anlässlich der Verleihung des Governor Generals’s Award 1967 und begründet, warum sie ihn für deren besten Roman hält.


Die Manawaka-Serie

Zentral im Werk von Margaret Laurence sind die fünf Romane der Manawaka-Serie, jener fiktiven Kleinstadt in Manitoba, die ihrer 170 Kilometer von Winnipeg entfernten Geburtsstadt Neepawa ähnelt. 2020 erschien der erste Teil aus dem Jahr 1964 in neuer Übersetzung von Monika Baark im Eisele Verlag unter dem Titel Der steinerne Engel, nun der zweite, gänzlich unabhängig zu lesende, aus dem Jahr 1966, der somit fast zeitgleich mit John Williams‘ Stoner erschien. Sowohl in Stoner als auch in Eine Laune Gottes sind die Protagonisten in einer klaustrophobischen Welt gefangen. In Stoner wird das ganze Leben eines Mannes erzählt, in Eine Laune Gottes von einer kurzen Spanne im Leben einer Frau, die zum Wendepunkt werden könnte.

© B. Busch

Ewig Tochter
Rachel Cameron, 34 Jahre alt und Ich-Erzählerin, sah sich nach dem Tod des Vaters gezwungen, ihren Ausbruchsversuch zum Studium nach Winnipeg abzubrechen und fortan die hypochondrische, sanft auftretende, aber anmaßende und hochgradig manipulative Mutter zu umsorgen:

Ihre Waffen sind unsichtbar, und sie würde nie zugeben, welche zu tragen, geschweige denn, zu ihnen zu greifen. (S. 61/62)

Rachel kehrte als Lehrerin an ihre frühere Grundschule zurück, bezog ihr unverändertes Kinderzimmer und nahm ihre Rolle als braves, schüchternes, wegen ihrer überdurchschnittlichen Körpergröße linkisches Mädchen wieder ein, dem inzwischen bereits etwas Altjüngferliches anheftet. Das Feststecken in der engen Welt ihrer Kindheit und die erdrückende Konventionalität des Präriestädtchens ließen sie bitter werden. Nach außen still und angepasst, herrschen in ihrem Kopf ganz andere Gefühle und Gedanken vor: Enttäuschung, Verzweiflung, Ängste, Einsamkeit, Selbstironie, beißender Spott und Wut gegen alles und alle in ihrer Umgebung, aber auch erotische Fantasien. Trotz ihrer analytischen Klarheit und Intelligenz kann sie sich nicht von fremden Erwartungen und der bösartigen Mutter lösen:

Derlei Worte bleiben mir im Gedächtnis hängen wie Kletten in den Haaren, und ich schaffe es irgendwie nie, sie rauszubürsten, wie ich es eigentlich tun sollte. (S. 189) 

Eine überraschende Chance
Als ihr früherer Schulkamerad Nick Kazlik, Sohn des ukrainischen Milchmanns, die Sommerferien in Manawaka verbringt, gehen die beiden mit unterschiedlichen Erwartungen eine sexuelle Beziehung ein. Während sich Rachel erstmals mütterlichen Wünschen widersetzt, klammert sie sich zugleich wie die oben zitierte Klette an Nick. Kann die Affäre so zum Tor in die Freiheit werden oder führt sie zu einer weiteren Niederlage?

Zeitloser Klassiker
2020 mochte ich Der steinerne Engel mit der 90-jährigen Ich-Erzählerin Hagar Shipley, nun gefiel mir Eine Laune Gottes sogar noch besser. Die ebenso raffiniert wie borniert und rücksichtslos um ihre Autonomie kämpfende Hagar ist zwar als literarische Figur interessant, konnte aber nicht wie Rachel mein Mitgefühl wecken. Beide Romane sind elegant geschrieben, voller Anspielungen und Bilder, meiden jede Sentimentalität, bestechen durch ihre verblüffende Zeitlosigkeit und sind absolut lesenswert. Die Wendungen in Eine Laune Gottes bis hin zum glaubhaften Ende sind allerdings noch meisterhafter.

Margaret Laurence: Eine Laune Gottes. Aus dem kanadischen Englisch von Monika Baark. Eisele 2022
eisele-verlag.de

 

Weitere Rezension zu einem Roman von Margaret Laurence auf diesem Blog:

Christoph Poschenrieder: Ein Leben lang

  Was macht Freundschaft aus?

Der sogenannte Münchner „Parkhausmord“ von 2006 an einer Millionärin lieferte Christoph Poschenrieder die Anregung zu seinem fiktionalen Roman Ein Leben lang. Was zunächst wie einer der derzeit beliebten True-Crime-Krimis wirkt, ist vielmehr das Psychogramm einer Clique, der lauten Freundesgruppe des Tatverdächtigen, deren Treue über den Schuldspruch mit dem Prädikat „besondere Schwere der Schuld“ hinaus währt. Erst in zweiter Linie interessiert sich Poschenrieder für die brutale Tat selbst und das Whodunit.

Die fiktive Bearbeitung
15 Jahre nach dem Mord an einem reichen Unternehmer und 13 Jahre nach der Verurteilung seines Neffen in einem langwierigen Indizienprozess lässt eine Journalistin die fünf Mitglieder seiner engsten Freundesgruppe in getrennten Sitzungen für ein eventuelles Buchprojekt erzählen:

Fünf Blickwinkel, fünf Mal Vergessen, fünf Mal Erinnern, fünf Mal das Gleiche und am Ende doch nicht dasselbe. (S. 22)

Sebastian („der Boss“), Till („der Stellvertreter“), Benjamin („der Beflissene“), Sabine („die schnippische Altkluge“) und Emilia („die Allesumsorgende“, S. 91) waren sofort fest von der Unschuld ihres im Roman namenlosen Freundes („der Spaßmacher“) überzeugt. Obwohl sie zum Zeitpunkt des Mordes bereits um die Dreißig und nur noch in loser Verbindung waren, formierten sie sich spontan neu:

Wir haben uns – quasi ein Reflex – darauf verständigt, dass er es nicht war. Eigentlich ohne Worte. Es war klar, und keiner musste das sagen. (Benjamin, S. 59)

© B. Busch


Ein Roman in Montagetechnik
Die kurzen Erzählsequenzen, überschrieben mit dem Namen des Berichtenden, werden von Beiträgen des Anwalts, des Gefangenen sowie Memos der Journalistin unterbrochen. Man erfährt von ihrer Freundschaft in einer typischen Vorstadtsiedlung und vom Alleinstellungsmerkmal des Freundes: dem reichen Erbonkel, Fluch und Segen zugleich, denn er mischte sich maßgeblich und unangenehm in sein Leben ein.

Nach der Festnahme setzten die Freunde auf der Suche nach dem „wahren Täter“ Himmel und Hölle in Bewegung, versuchten, die Berichterstattung zu beeinflussen, und erklärten den Justizapparat zum befangenen Feind.

Den euphorischen Tatendrang stellte ein zermürbender Prozess auf eine lange Geduldsprobe, dessen von der Clique empfundene Kleinteiligkeit sich beim Lesen sehr gut überträgt. Erschreckende Indizien tauchten auf, aber auch unerklärliche Fakten, die den Optimismus immer wieder anheizten. Trotzdem und trotz des bestehenden Drucks innerhalb der Gruppe ließen sich aufkommende Zweifel nicht verhehlen, insbesondere als überraschend andere Unaufrichtigkeiten des Freundes ans Tageslicht kamen.

Viele offene Fragen
Obwohl ich zusammenhängende Texte in Romanen bevorzugen, sorgt die geschickt eingesetzte Montagetechnik mit den sich immer wieder in Nuancen widersprechenden Aussagen für einen Sog, dem ich mich nicht entziehen konnte. Natürlich schwebt die Frage von Schuld oder Unschuld des Freundes über allem, doch stand die Gruppendynamik für mich deutlich im Vordergrund: Was ist Freundschaft? Wie weit muss Loyalität gehen? Kann ein Mörder ein Freund bleiben? Kämpft die Clique nur um des Freundes oder auch um ihrer selbst willen? Sabine, promovierte Astronomin, klug, reflektiert, direkt, sarkastisch und für mich das ehrlichste Gruppenmitglied, stellt nach dem Prozess die vielleicht interessanteste Frage:

Wäre das vielleicht alles anders gelaufen, wenn wir unserem Freund nicht von Anfang an den Heiligenschein verpasst hätten? Könnte es sein, dass wir ihn in diese Rolle [..] hineingezwungen haben? (S. 276)

Ein Leben lang ist ein empfehlenswerter Roman mit viel Diskussionspotential, der einen garantiert grübelnd zurücklässt.

Christoph Poschenrieder: Ein Leben lang. Diogenes 2022
www.diogenes.ch

Jonathan Lee: Der große Fehler

  Andrew Haswell Green, der vergessene Vater von Greater New York

 

Wie kann ein Mann, der New York in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts so maßgeblich veränderte, derart in Vergessenheit geraten? Jonathan Lee, 1981 in Großbritannien geborener Autor, stieß im Central Park auf eine Bank mit einer Inschrift, die ihn zu jahrelangen Recherchen und schließlich zu diesem Roman veranlasste:

IN HONOR OF ANDREW HASWELL GREEN
DIRECTING GENIUS OF CENTRAL PARK IN ITS FORMATIVE PERIOD
FATHER OF GREATER NEW YORK […]

Aufstieg eines Außenseiters
Andrew Green kam 1820 in Massachusetts auf der Farm einer angesehenen, jedoch in Schulden geratenen kinderreichen Familie zur Welt. Früh verhielt er sich anders als andere Kinder, las, nachdem er kurz vor seinem 15. Geburtstag endlich eine Brille bekommen hatte, wie ein Besessener, war schmächtig und ein Ordnungsfanatiker. Wegen seiner gesellschaftlich nicht akzeptierten Zuneigung zu einem Freund schickte der Vater ihn mit 15 Jahren als Lehrling in eine Gemischtwarenhandlung nach New York. Die Begegnung mit dem sechs Jahre älteren aufstrebenden Juristen und späteren demokratischen Präsidentschaftskandidaten Samuel Tilden aus reichem Hause veränderte Greens Leben und ermöglichte ihm nach diversen anfänglichen Rückschlägen den Aufstieg. Er studierte Jura und setzte sich für seine Herzensanliegen ein: öffentlicher Raum für jedermann, Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit für Schwarze. Auf ihn gehen viele, teils umstrittene stadtplanerische Maßnahmen zurück, unter anderem der Central Park, das Metropolitan Museum of Art, das American Museum of Natural History, die New York Public Library und die Vereinigung von fünf Bezirken, wodurch Brooklyn seine Unabhängigkeit verlor, für manche ein großer Fehler, einer von mehreren im Roman.

Der „Mordfall des Jahrhunderts“
Der Roman beginnt mit der Ermordung des 83-jährigen Green 1903 mittels fünf Schüssen auf offener Straße. Die Suche nach dem Motiv des Schwarzen Cornelius Williams zieht sich durch den gesamten Roman und Inspector McClusky gerät mächtig unter Druck. Trotzdem ist Der große Fehler kein Krimi, denn im Mittelpunkt stehen Episoden aus Greens Leben, aber auch unzählige, oft bizarre Anekdoten wie die eines Elefanten, der mit New Yorker Stadtplan das Cover schmückt. Die von Green erdachten Tor-Namen des Central Park, „jeder Name eine Perspektive auf den Charakter der Stadt“ (S. 53), dienen, mal mehr, mal weniger passend, als Kapitelüberschriften.

Mehr Anekdoten als Fakten
So interessant die Figur Andrew Green ist, so wenig überzeugte mich die Konzeption des Romans. Anekdoten dürfen einen biografischen Roman schmücken, aber wenn, wie hier, der Porträtierte zu ihren Gunsten aus dem Fokus gerät, der Text kapitelweise zerfasert und dahinplätschert, geht die Balance verloren. Viele Fragen blieben deshalb leider unbeantwortet: Wie konnte jemand mit lückenhafter Schulkarriere Jura studieren? Wie wurde Green vom Anwalt zum Stadtplaner? Auf welche Weise engagierte er sich für Bildungsgerechtigkeit und gegen Rassendiskriminierung? Wie kam es zu Samuel Tildens Präsidentschaftskandidatur? Hätte ich nicht parallel das Internet bemüht, der Wissenszuwachs wäre enttäuschend gewesen.

Dagegen gefiel mir die ebenso empathisch wie diskret beschriebene lebenslange Sehnsucht Greens nach Liebe, die er als Kind schmerzlich vermisste und als Erwachsener nicht ausleben durfte, um seine und Tildens Lebensprojekte nicht zu gefährden:

Wenn wir uns nicht auf Zehenspitzen bewegen müssten, es uns nicht so wichtig wäre, etwas zu leisten, wir uns nicht immer gegenseitig über die Schulter sehen müssten, um Fehltritte zu vermeiden? (S. 284)

Leider verschenkt der biografische Roman über einen interessanten Visionär in bewegter Zeit insgesamt viel Potential.

Jonathan Lee: Der große Fehler. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. Diogenes 2022
www.diogenes.ch

Markus Orths: Max

  Ein Künstlerroman zum Hören

Max Ernst (1891 – 1976) gehört zu den bedeutendsten Malern, Grafikern und Bildhauern des 20. Jahrhunderts. Der Autodidakt war 1919 Mitbegründer der Kölner Dada-Gruppe und gehörte ab 1922 zu den Surrealisten um den Dichter André Breton. Geboren im Rheinland, kam er Anfang der 1920er-Jahre nach Frankreich. 1941 floh er von dort mit Unterstützung des berühmten Fluchthelfers Varian Fry vor der Gestapo in die USA. 1953 kehrte er nach Frankreich zurück, wo er bis zu seinem Tod am Tag vor seinem 85. Geburtstag lebte.

Egal wo er sich aufhielt, welcher Strömung er folgte, in welcher Technik und mit welchem Material er arbeitete, Max Ernst war kein Mann, der alleine blieb. Zahlreiche Frauen begleiteten ihn ab seinem 19. Lebensjahr. Die sechs wichtigsten stellt der Autor Markus Orths in seinem biografischen Roman Max neben dem Künstler in den Mittelpunkt und benennt nach ihnen die sechs Kapitel, denen ein kurzer Prolog vorausgeht. Mit vier der Frauen war Max Ernst verheiratet. Fünf begleiteten ihn während 33 Jahren, die letzte weitere 33 Jahre bis zu seinem Tod.

© B. Busch

Kapitel „Lou“ und „Galapaul“
Den Reigen der Frauen eröffnet Luise Straus, genannt Lou, die Max Ernst 1918 heiratete, Mutter seines einzigen Kindes, dem Sohn Hans-Ulrich, genannt Jimmy. Als selbstbewusste, durchsetzungsfähige und intelligente Frau konnte die promovierte Kunsthistorikerin und Journalistin für sich und ihren Sohn sorgen, nachdem Max Ernst sie verließ. Doch weder er noch der Sohn konnten die Jüdin vor der Deportation aus ihrem französischen Exil und der Ermordung in Auschwitz retten.

Die erste Ehe tauschte Max Ernst 1922 gegen eine Ménage-à-trois mit dem Lyriker Paul Éluard und dessen Frau Gala, der späteren Frau von Salvador Dalí, ein.

Kapitel „Marie-Berthe“ und „Leonora“
Ehefrau Nummer zwei des mittlerweile 35-jährigen Künstlers wurde 1927 überstürzt die 21-jährige Marie-Berthe Aurenche, die psychisch nie über die Trennung hinwegkam. Leonora Carrington, eine britische Künstlerin, war 20, als der 46-jährige Max Ernst sie 1937 kennenlernte. Sie war seine große Liebe, mit der er zeitweise in einem gemeinsamen Haus in Saint-Martin-d’Ardèche lebte.

Kapitel „Peggy“ und „Dorothea“
Als die Beziehung zu Leonora in den Kriegswirren zerbrach, wurde 1941 die reiche, kapriziöse US-amerikanische Kunstsammlerin Peggy Guggenheim Ernsts dritte Ehefrau, eine Verbindung, die sich schnell als Irrtum erwies. Erst als er 1943 die Malerin Dorothea Tanning kennenlernte, die 1946 seine vierte und letzte Ehefrau wurde, kam er zur Ruhe.

Mehr als schmückendes Beiwerk
Markus Orths gibt jeder der Frauen breiten Raum, stellt ihre Biografien, ihre Stärken, Ambitionen und Schwächen in den Mittelpunkt und reduziert sie nicht zum Anhängsel des berühmten Künstlers. Fast alle waren auf ihre Art beeindruckende Frauen, wobei Luise Straus für mich herausragt.

Leider gekürzt
Der Sprecher Torben Kessler liest das Hörbuch auf sechs CDs mit 456 Minuten ausgesprochen angenehm, allerdings bedauere ich sehr, dass es sich um eine gekürzte Fassung handelt. Sind die auf nur einer, der letzten, CD zusammengefassten Jahre ab 1941 eine Folge dieser Kürzung? Gerne hätte ich den vollständigen Text gehört. Trotzdem ist auch das Hörbuch empfehlenswert, gewährt es doch nicht nur Einblicke in das Leben des unermüdlichen Kunst-Erneuerers Max Ernst, sondern auch in das seiner Partnerinnen und vieler zeitgenössischer Künstlerkollegen eines überaus spannenden Jahrhunderts.

Markus Orths: Max. Sprecher: Torben Kessler. Audiobuch 2017
www.sagaegmont.com/germany/

 

Weitere Rezension zu einem Kinderbuch von Markus Orths auf diesem Blog:

Roxanne Bouchard: Die Korallenbraut

  Loyalitäten

Im Südosten der kanadischen Provinz Québec liegt zwischen der Mündung des Sankt-Lorenz-Stroms und der Baie des Chaleurs eine ganz besondere Landzunge: die Halbinsel Gaspésie mit dem Hauptort Gaspé, vermutlich abgeleitet vom Mi’kmaq-Wort „Gespeg“, „Landesende“. Umrundet man sie auf der Route 132, ist diese „Tour de la Gaspésie“ 800 Kilometer lang und bietet eine spektakulär schroffe Nord- und eine lieblichere Südküste, Leuchttürme, kleine Dörfer mit Holzhäusern, den Parc national de Forillou, Wale, Seevögel, Seehunde, den berühmten Felsen von Percé und viel Ruhe.

© B. Busch

Alles beginnt mit einem Vermisstenfall
Nachdem ich diese touristisch nicht überlaufene Idylle 2014 kennenlernen durfte, mag ich mir kaum vorstellen, dass auch dort Verbrechen geschehen. Für ihre Aufklärung sorgt Sergeant Joaquín Morales, 52, 1976 mit 22 Jahren der Liebe wegen von Mexiko nach Kanada übersiedelt. Nach turbulenten Zeiten bei der Kriminalpolizei Montréal möchte er es nun in der Polizeistation von Bonaventure ruhiger angehen lassen. In seinem neu gekauften, kleinen gemütlichen Haus mit Veranda und Meerblick in Caplan erwartet er seine Frau. Doch statt Sarah, die inzwischen andere Pläne hat, trifft überraschend sein älterer Sohn Sébastien ein, ohne seine langjährige Partnerin, aber mit dem festen Vorsatz, seinen Vater für alle Pannen seines Lebens verantwortlich zu machen und mit ihm abzurechnen.

Ein schlechter Zeitpunkt für eine Vater-Sohn-Aussprache, denn einerseits liegt Morales‘ bester Freund, der Fischer Cyrille Bernard, im Sterben, andererseits schickt ihn seine Vorgesetzte nach Gaspé, wo er die dortige Polizeistation bei einem Vermisstenfall unterstützen soll. Man sucht nach der 32-jährigen Angel Roberts, einer von nur zwei Hummerfischerinnen der Gaspésie, die samt ihrem Kutter in der Nacht verschwunden ist. Während Morales noch auf die Flucht einer ehemüden Frau hofft, finden ihr Vater und ihre Brüder zunächst ihr Schiff, dann taucht ihre Leiche unter erschütternden Umständen auf: im Brautkleid, das sie anlässlich ihres zehnten Hochzeitstags trug. Selbstmord? Raffiniert inszenierter Mord? Rachegeschichte unter Fischern? Vertuschung von Schwarzfischerei? Ehedrama? Familienfehde? Morales‘ Ermittlungen kommen nur schleppend voran und sein provisorisches Team, der außendienstuntaugliche Wachtmeister Érik Lefebvre, die widerborstige Fischereiaufseherin Simone Lord und die maximal unkooperative Rezeptionistin Thérèse Roch, machen ihm die Arbeit nicht einfach. Noch dazu, wo er wenig über Fischerei und das Meer weiß…

Eine Ode an das Meer und die Gaspésie
Im Mittelpunkt von Band zwei der Sergeant-Morales-Reihe im Verlag Atrium der 1972 geborenen franko-kanadischen Autorin Roxanne Bouchard, den ich ohne Kenntnis des ersten problemlos gelesen habe, stehen neben dem Kriminalfall und der Vater-Sohn-Geschichte die Landschaft, die Fischerei und ganz besonders das Meer, Sehnsuchts-, Gefahren- und Illusionsort gleichermaßen:

„Wenn sich der Mond im Ozean spiegelt, ist da weder Silber noch eine Straße. Versuch ruhig, irgendetwas zu erhaschen, und du wirst sehen: Alles rinnt dir durch die Finger! Der Mond ist trügerisch und das Meer eine einzige Täuschung.“ (S. 9)

Langjährige Fehden, eine starke Frau im knallharten, männerdominierten Fischereigewerbe, das Moratorium für den Kabeljaufang von 1992, die Geheimnisse der Gezeiten, Strömungen und Nautik, ebenso kantige wie einprägsame und ambivalente Haupt- und Nebencharaktere, Loyalität als Lebensmaxime und vor allem eine große Liebe zur Gaspésie und zum Meer sind die Zutaten, aus denen dieser gelungene, in Kanada preisgekrönte literarische Krimi gestrickt ist. Es wird nicht mein einziger Morales-Krimi bleiben!

Roxanne Bouchard: Die Korallenbraut. Aus dem Québec-Französischen von Frank Weigand. Atrium 2022
www.w1-media.de

Tania Blixen: Babettes Gastmahl

  Eine vollkommene Novelle

1937 erschien mit Afrika, dunkel lockende Welt der bekannteste Roman von Tania Blixen (1885 – 1962), verfilmt 1985 unter dem Titel „Jenseits von Afrika mit Meryl Streep, Robert Redford und Klaus Maria Brandauer, stark angelehnt an ihre Jahre als Kaffeefarmerin in Kenia 1914 bis 1931 und mit einem Oscar prämiert. Ebenfalls mit einem Oscar ausgezeichnet wurde die Verfilmung von Tania Blixens später und bekanntester Novelle Babettes Fest aus dem Jahr 1987. Der Manesse Verlag hat diese Erzählung nun erstmals in ihrer vollständigen Fassung von 1958 aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg übersetzen und kommentieren lassen. Wie man dem ebenso informativen wie unterhaltsamen, 37 Seiten umfassenden Nachwort von Erik Fosnes Hansen entnimmt, ist diese spätere Version „der deutlich reichere, opulentere und weitaus vollkommenere Text“ (S. 78) im Vergleich zu dem bisherigen deutschen Ausgaben zugrundeliegenden englischsprachigen Text aus dem US-amerikanischen Ladies‘ Home Journal von 1950. Die wunderschöne Leinenausgabe mit schwarzer Fadenheftung, Lesebändchen und entzückenden Kapitelzählungen mit aus Essbesteck geformten römischen Ziffern heißt nun wesentlich passender Babettes Gastmahl.

Stockfisch statt Haute Cuisine
Mit Babettes Gastmahl führt uns die Dänin Tania Blixen in die nordnorwegische Finnmark ins Fischerdorf Berlevaag. Die dortige sehr fromme pietistische Gemeinde hat sich ganz der Genügsamkeit verschrieben. Martine und Philippa, die beiden einst sehr schönen Töchter des Propstes und Gründers der strengen Bewegung, haben in ihrer Jugend zwei wohlmeinende Bewerber abgewiesen. Einer von ihnen, der Pariser Sänger Achille Papin, schickt den beiden inzwischen vaterlosen Frauen 16 Jahre nach seiner glücklosen Werbung im Juni 1871 die Köchin Babette. Bis zu ihrem Engagement als Kommunardin im französischen Bürgerkrieg war sie gefeierte Küchenchefin im besten Restaurant von Paris, ihre Gäste und Bewunderer die von ihr bekämpfte aristokratische Klasse.

Martine und Philippa gewähren der Papistin nicht ohne ein gewisses inneres Beben Asyl und Babette akzeptiert dankbar ihr neues Los: die Zubereitung von Stockfisch und Brotsuppe.

Einmal noch richtig kochen
Nach 14 Jahren als treue Haushälterin der frommen Tugendschwestern ereignet sich 1885 etwas Ungeheuerliches: Babette gewinnt 10.000 Francs in der französischen Lotterie und äußert erstmals einen Wunsch. Sie möchte zum bevorstehenden 100. Geburtstag des verstorbenen Probstes die Gemeinde bekochen – mit ihrem eigenen Geld und auf ihre ganz eigene Weise. Zögernd willigen die Schwestern ein und noch einmal kann Babette ihre gesammelten Kochkünste entfalten. Doch angesichts der unerhörten Fülle exotischer Speisen und Getränken weiß nur einer der zwölf Gäste ihr Künstlertum zu schätzen: Martines abgewiesener und zufällig in Berlevaag weilender Bewerber General Löwenhielm, der Babette aus ihrer Glanzzeit im Café Anglais kennt.

© B. Busch

Jedes Wort und jede Szene sitzen in Tania Blixens vorzüglicher, märchenhaft-magisch anmutender Novelle am richtigen Platz, religiöse Genügsamkeit und weltliche Verschwendung prallen aufeinander und Babettes Dilemma macht sie zur tragischen Figur: Sie selbst hat zur Vertreibung der Menschen aus Paris beigetragen, die allein ihr Künstlertum wertschätzten. Der Lotteriegewinn versetzt sie in die Lage, noch einmal ihre Meisterschaft unter Beweis zu stellen, besonders für sich selbst:

Es ist fürchterlich für einen Künstler, für sein Zweitbestes Beifall zu bekommen. […] Durch die Welt geht ein langer Schrei aus dem Herzen der Künstler: Gebt mir die Erlaubnis, gebt mir die Gelegenheit, mein Allerbestes zu liefern. (S. 66)

Tania Blixen: Babettes Gastmahl. Aus dem Dänischen übersetzt und kommentiert von Ulrich Sonnenberg. Mit einem Nachwort von Eric Fosnes Hansen. Manesse 2022
www.penguinrandomhouse.de

Tanguy Viel: Das Mädchen, das man ruft

  Fische derselben und anderer Gattung

Es gibt Geschichten, die sind simpel und altbekannt, können aber trotzdem nicht oft genug erzählt werden. Sie gleichen sich fatal und doch verfolgt man das Geschehen gebannt, immer in schlechter Vorahnung, aber auch in der Hoffnung, der Ausgang könnte gerade dieses eine Mal ein anderer sein.

Eine solche Geschichte erzählt der 1973 geborene, mehrfach preisgekrönte bretonische Autor Tanguy Viel in Das Mädchen, das man ruft, der wörtlichen Übersetzung des englischen Wortes Callgirl. Der französische Originaltitel La fille qu’on appelle, eigentlich exakt wiedergegeben, ist dank der Satzstellung und der Doppelbedeutung von „appeler“ als „rufen“ und „nennen“ noch origineller, fordert er doch dazu auf, eine Bezeichnung für die Protagonistin Laura zu ergänzen: das Flittchen, die Unschuldige, das naive Opfer, die Verführerin, die Strategin?

Alles hat einen Preis
Laura Le Corre ist mit 20 Jahren in ihre bretonische Heimatstadt am Meer zu ihrem Vater Max, einem Ex-Boxchampion, zurückgekehrt, ohne Schulabschluss, ohne Ausbildung. Jahre vorher hatte ihre Mutter mit ihr den zwischen Boxring und exzessivem Nachtleben pendelnden Ehemann verlassen. Mit 16 wurde die attraktive, dunkelhäutige Teenagerin vor dem Gymnasium angesprochen, es folgte ein Intermezzo in Rennes als Model für Dessous und in Zeitschriften „die im Kiosk dann in der obersten Regalreihe stehen“ (S. 25). Nun ist sie überraschend wieder da und Max, seit drei Jahren Chauffeur des Bürgermeisters, vermittelt ihr zur Beschleunigung ihrer Wohnungssuche einen Termin bei seinem Chef. Quentin Le Bars, knapp 50, mit dem für französische Bürgermeister typischen einschüchternden Büro im Stil des Ancien Régime und dem Blick Richtung Paris und Ministeramt, zeigt sich sofort kooperativ. Er verspricht sogar Hilfe bei der Jobsuche, allerdings nicht ohne Gegenleistung:

Und da spürte sie, so wie sich in der Tektonik irgendwann die Spannung entlädt, wie seine Hand sich auf ihre legte und er zugleich zu ihr sagte:
Ich werde tun, was ich kann, um dir zu helfen. (S. 35)

© B. Busch

Der narzisstische Le Bars lässt seine Kontakte spielen unter den „Fischen derselben Gattung“ (S. 39), wo jeder jedem einen Gefallen schuldet und alles miteinander verwoben ist. Er bringt Laura als Hostess bei seinem Freund Franck Bellec, Ex-Manager ihres Vaters, im Casino unter, wo er zukünftig kommt und geht, wann es ihm behagt, stets chauffiert vom ahnungslosen, kurz vor seinem Comeback stehenden Max.

Altbekannt und topaktuell
Während die Figuren allen denkbaren Klischees entsprechen, was ich nicht für eine Schwäche des Romans, sondern für eine bewusste Wahl halte, schließlich folgt auch die Handlung einem altbekannten Drehbuch, sind Viels Sprache, seine von Hinrich Schmidt-Henkel sehr gut übersetzten Endlossätze und die enorme Fülle an Metaphern ausgesprochen originell und für mich ganz klar die Stärke des 2021 in die Auswahlliste für den Prix Goncourt aufgenommenen Romans. Aus Lauras polizeilicher Zeugenaussage, ergänzt durch die Stimme einer allwissenden Erzählerin oder eines Erzählers, erfahren wir von den Mechanismen patriarchaler Machtentfaltung, den Klüngeln in gesellschaftlichen Hinterzimmern, dem Wegducken der Justiz und dem Entstehen einer missbräuchlichen Beziehung, die durch ein fehlendes Nein nicht weniger verwerflich wird. Am Ende können wir selbst über Laura richten: Flittchen, Unschuldige, naives Opfer, Verführerin oder Strategin?

Eine leider zeitlose Geschichte über Machtmissbrauch, gesellschaftliche Hierarchien, Abhängigkeit und Schuld im neuen Kleid und ein lesenswerter Beitrag zur aktuellen MeToo-Debatte.

Tanguy Viel: Das Mädchen, das man ruft. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Wagenbach 2022
www.wagenbach.de