Tarjei Vesaas: Die Vögel

  Ängste und Gedanken eines „Dussels“

Mattis ist anders, ein 37-Jähriger mit dem Gemüt eines Kindes. Für die Menschen im Dorf ist er der „Dussel“, für seine drei Jahre ältere, pragmatisch-nüchterne Schwester Hege Verpflichtung, Last und Sorge. Er taugt mit seinen Gedanken, die „sich während der Arbeit verirrten, kreuz und quer gingen, ihn lähmten“ (S. 52) nicht zum geregelten Broterwerb, empfindet schmerzlich seine Abhängigkeit von der unermüdlich für Geld strickenden Hege und hat gleichzeitig eine Heidenangst, sie zu verlieren. So fein sein Gespür für erlittene Geringschätzung ist, so unsensibel und ich-bezogen tritt er ihr gegenüber auf:

„Denk auch ein bisschen an andere“, sagte sie. „Das muss man als Erwachsener.“
„Was für andere?“ fragte er hilflos, und sie erschrak. (S. 205)

„Warum ist es so, wie es ist?“ (S. 68)
Mattis leidet unter seiner Einsamkeit, fühlt sich verloren, beobachtet neidvoll fremdes Liebesglück, sehnt sich nach Menschen, die ihm vorurteilsfrei begegnen, und pflegt eine intime, ganz eigene Naturverbundenheit. Als eine Waldschnepfe mehrmals im Balzflug über ihr ärmliches Haus in einer moorigen Senke unweit von Wald und See streift, ist er zutiefst ergriffen und fühlt einen Wendepunkt seines Schicksals. Während sein Umgang mit Menschen kompliziert ist, kommuniziert er federleicht mit der Natur und nimmt Zeichen wahr, die allein er deuten kann.

© B. Busch

Eine veränderte Hege
Früh schleichen sich in die Handlung böse Vorzeichen ein, doch blieb die Art der sich abzeichnenden Katastrophe für mich lange spannend. Ihren Anfang nimmt sie, als ausgerechnet Mattis einen Fremden, den Holzfäller Jørgen, mit nach Hause bringt, und das geschwisterliche Duo zum Trio wird:

Mattis fragte mühsam:
„Seid ihr ein Liebespaar? […]
„Ja, sind wir“, sagte sie zu ihm. Und ob sie es nun vorhatte oder nicht, in ihrem Gesicht leuchtete ein großes Lächeln, größer als jedes, das Mattis je an ihr gesehen hatte. (S. 199/200)

Für Mattis steht fest: Er hat Hege verloren.

Die überfällige Wiederentdeckung eines modernen Klassikers
Die Vögel aus dem Jahr 1957 gehört neben Das Eis-Schloss zu den bekanntesten Romanen des mehrfach für den Literaturnobelpreis nominierten Norwegers Tarjei Vesaas (1897 – 1957). Wie sein von der Westküste stammender Landsmann Edvard Hoem schrieb auch der in der Provinz Telemark geborene Vesaas seine Bücher in der Minderheitensprache Nynorsk, einer auf westnorwegischen Dialekten beruhenden, vor allem von Arbeitern und Bauern benutzten Sprache. Wie Hoem verzichtete auch Vesaas als ältester Sohn auf sein Hoferbe, um zu schreiben. Dass seine beiden wichtigsten Romane inzwischen wieder auf Deutsch vorliegen, verdanken wir dem außergewöhnlichen Guggolz Verlag und dem Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel, der für die Übertragung von Die Vögel 2021 für den Preis der Leipziger Buchmesse in der Kategorie Übersetzung nominiert war.

2020 gehörte Das Eis-Schloss zu meinen absoluten Lieblingsbüchern, nun hat sich Die Vögel dazugesellt, ein berückend schöner, einfühlsamer, schlichter und trotzdem poetischer Roman über die andersartige Gedankenwelt eines geistig einfachen Mannes, der so gern wie alle wäre, und seine tüchtige Schwester, der ein spätes Glück winkt.

Das ausgezeichnete, wertvoll erläuternde Nachwort von Judith Hermann und die Auszeichnung von Karl Ove Knausgård als “bester norwegischer Roman, der je geschrieben wurde“ würdigen den Roman in angemessener Weise.

Tarjei Vesaas: Die Vögel. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Mit einem Nachwort von Judith Hermann. Guggolz 2020
www.guggolz-verlag.de

 

Weitere Rezension zu einem Roman von Tarjei Vesaas auf auf diesem Blog:

 

Weitere Rezensionen zu Romanen mit geistig behinderten Protagonisten auf diesem Blog:

 

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert