Margaret Laurence: Eine Laune Gottes

  Schrei nach Freiheit


Margaret Laurence (1926 – 1987)
gehört zu den wichtigsten Autorinnen Kanadas und beeinflusste maßgeblich Alice Munro und Margaret Atwood. Letztere schildert in ihrem vorzüglichen Nachwort zu Eine Laune Gottes eine unvergessliche Begegnung mit ihrem literarischen Idol anlässlich der Verleihung des Governor Generals’s Award 1967 und begründet, warum sie ihn für deren besten Roman hält.


Die Manawaka-Serie

Zentral im Werk von Margaret Laurence sind die fünf Romane der Manawaka-Serie, jener fiktiven Kleinstadt in Manitoba, die ihrer 170 Kilometer von Winnipeg entfernten Geburtsstadt Neepawa ähnelt. 2020 erschien der erste Teil aus dem Jahr 1964 in neuer Übersetzung von Monika Baark im Eisele Verlag unter dem Titel Der steinerne Engel, nun der zweite, gänzlich unabhängig zu lesende, aus dem Jahr 1966, der somit fast zeitgleich mit John Williams‘ Stoner erschien. Sowohl in Stoner als auch in Eine Laune Gottes sind die Protagonisten in einer klaustrophobischen Welt gefangen. In Stoner wird das ganze Leben eines Mannes erzählt, in Eine Laune Gottes von einer kurzen Spanne im Leben einer Frau, die zum Wendepunkt werden könnte.

© B. Busch

Ewig Tochter
Rachel Cameron, 34 Jahre alt und Ich-Erzählerin, sah sich nach dem Tod des Vaters gezwungen, ihren Ausbruchsversuch zum Studium nach Winnipeg abzubrechen und fortan die hypochondrische, sanft auftretende, aber anmaßende und hochgradig manipulative Mutter zu umsorgen:

Ihre Waffen sind unsichtbar, und sie würde nie zugeben, welche zu tragen, geschweige denn, zu ihnen zu greifen. (S. 61/62)

Rachel kehrte als Lehrerin an ihre frühere Grundschule zurück, bezog ihr unverändertes Kinderzimmer und nahm ihre Rolle als braves, schüchternes, wegen ihrer überdurchschnittlichen Körpergröße linkisches Mädchen wieder ein, dem inzwischen bereits etwas Altjüngferliches anheftet. Das Feststecken in der engen Welt ihrer Kindheit und die erdrückende Konventionalität des Präriestädtchens ließen sie bitter werden. Nach außen still und angepasst, herrschen in ihrem Kopf ganz andere Gefühle und Gedanken vor: Enttäuschung, Verzweiflung, Ängste, Einsamkeit, Selbstironie, beißender Spott und Wut gegen alles und alle in ihrer Umgebung, aber auch erotische Fantasien. Trotz ihrer analytischen Klarheit und Intelligenz kann sie sich nicht von fremden Erwartungen und der bösartigen Mutter lösen:

Derlei Worte bleiben mir im Gedächtnis hängen wie Kletten in den Haaren, und ich schaffe es irgendwie nie, sie rauszubürsten, wie ich es eigentlich tun sollte. (S. 189) 

Eine überraschende Chance
Als ihr früherer Schulkamerad Nick Kazlik, Sohn des ukrainischen Milchmanns, die Sommerferien in Manawaka verbringt, gehen die beiden mit unterschiedlichen Erwartungen eine sexuelle Beziehung ein. Während sich Rachel erstmals mütterlichen Wünschen widersetzt, klammert sie sich zugleich wie die oben zitierte Klette an Nick. Kann die Affäre so zum Tor in die Freiheit werden oder führt sie zu einer weiteren Niederlage?

Zeitloser Klassiker
2020 mochte ich Der steinerne Engel mit der 90-jährigen Ich-Erzählerin Hagar Shipley, nun gefiel mir Eine Laune Gottes sogar noch besser. Die ebenso raffiniert wie borniert und rücksichtslos um ihre Autonomie kämpfende Hagar ist zwar als literarische Figur interessant, konnte aber nicht wie Rachel mein Mitgefühl wecken. Beide Romane sind elegant geschrieben, voller Anspielungen und Bilder, meiden jede Sentimentalität, bestechen durch ihre verblüffende Zeitlosigkeit und sind absolut lesenswert. Die Wendungen in Eine Laune Gottes bis hin zum glaubhaften Ende sind allerdings noch meisterhafter.

Margaret Laurence: Eine Laune Gottes. Aus dem kanadischen Englisch von Monika Baark. Eisele 2022
eisele-verlag.de

 

Weitere Rezension zu einem Roman von Margaret Laurence auf diesem Blog:

Christoph Poschenrieder: Ein Leben lang

  Was macht Freundschaft aus?

Der sogenannte Münchner „Parkhausmord“ von 2006 an einer Millionärin lieferte Christoph Poschenrieder die Anregung zu seinem fiktionalen Roman Ein Leben lang. Was zunächst wie einer der derzeit beliebten True-Crime-Krimis wirkt, ist vielmehr das Psychogramm einer Clique, der lauten Freundesgruppe des Tatverdächtigen, deren Treue über den Schuldspruch mit dem Prädikat „besondere Schwere der Schuld“ hinaus währt. Erst in zweiter Linie interessiert sich Poschenrieder für die brutale Tat selbst und das Whodunit.

Die fiktive Bearbeitung
15 Jahre nach dem Mord an einem reichen Unternehmer und 13 Jahre nach der Verurteilung seines Neffen in einem langwierigen Indizienprozess lässt eine Journalistin die fünf Mitglieder seiner engsten Freundesgruppe in getrennten Sitzungen für ein eventuelles Buchprojekt erzählen:

Fünf Blickwinkel, fünf Mal Vergessen, fünf Mal Erinnern, fünf Mal das Gleiche und am Ende doch nicht dasselbe. (S. 22)

Sebastian („der Boss“), Till („der Stellvertreter“), Benjamin („der Beflissene“), Sabine („die schnippische Altkluge“) und Emilia („die Allesumsorgende“, S. 91) waren sofort fest von der Unschuld ihres im Roman namenlosen Freundes („der Spaßmacher“) überzeugt. Obwohl sie zum Zeitpunkt des Mordes bereits um die Dreißig und nur noch in loser Verbindung waren, formierten sie sich spontan neu:

Wir haben uns – quasi ein Reflex – darauf verständigt, dass er es nicht war. Eigentlich ohne Worte. Es war klar, und keiner musste das sagen. (Benjamin, S. 59)

© B. Busch


Ein Roman in Montagetechnik
Die kurzen Erzählsequenzen, überschrieben mit dem Namen des Berichtenden, werden von Beiträgen des Anwalts, des Gefangenen sowie Memos der Journalistin unterbrochen. Man erfährt von ihrer Freundschaft in einer typischen Vorstadtsiedlung und vom Alleinstellungsmerkmal des Freundes: dem reichen Erbonkel, Fluch und Segen zugleich, denn er mischte sich maßgeblich und unangenehm in sein Leben ein.

Nach der Festnahme setzten die Freunde auf der Suche nach dem „wahren Täter“ Himmel und Hölle in Bewegung, versuchten, die Berichterstattung zu beeinflussen, und erklärten den Justizapparat zum befangenen Feind.

Den euphorischen Tatendrang stellte ein zermürbender Prozess auf eine lange Geduldsprobe, dessen von der Clique empfundene Kleinteiligkeit sich beim Lesen sehr gut überträgt. Erschreckende Indizien tauchten auf, aber auch unerklärliche Fakten, die den Optimismus immer wieder anheizten. Trotzdem und trotz des bestehenden Drucks innerhalb der Gruppe ließen sich aufkommende Zweifel nicht verhehlen, insbesondere als überraschend andere Unaufrichtigkeiten des Freundes ans Tageslicht kamen.

Viele offene Fragen
Obwohl ich zusammenhängende Texte in Romanen bevorzugen, sorgt die geschickt eingesetzte Montagetechnik mit den sich immer wieder in Nuancen widersprechenden Aussagen für einen Sog, dem ich mich nicht entziehen konnte. Natürlich schwebt die Frage von Schuld oder Unschuld des Freundes über allem, doch stand die Gruppendynamik für mich deutlich im Vordergrund: Was ist Freundschaft? Wie weit muss Loyalität gehen? Kann ein Mörder ein Freund bleiben? Kämpft die Clique nur um des Freundes oder auch um ihrer selbst willen? Sabine, promovierte Astronomin, klug, reflektiert, direkt, sarkastisch und für mich das ehrlichste Gruppenmitglied, stellt nach dem Prozess die vielleicht interessanteste Frage:

Wäre das vielleicht alles anders gelaufen, wenn wir unserem Freund nicht von Anfang an den Heiligenschein verpasst hätten? Könnte es sein, dass wir ihn in diese Rolle [..] hineingezwungen haben? (S. 276)

Ein Leben lang ist ein empfehlenswerter Roman mit viel Diskussionspotential, der einen garantiert grübelnd zurücklässt.

Christoph Poschenrieder: Ein Leben lang. Diogenes 2022
www.diogenes.ch

Jonathan Lee: Der große Fehler

  Andrew Haswell Green, der vergessene Vater von Greater New York

 

Wie kann ein Mann, der New York in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts so maßgeblich veränderte, derart in Vergessenheit geraten? Jonathan Lee, 1981 in Großbritannien geborener Autor, stieß im Central Park auf eine Bank mit einer Inschrift, die ihn zu jahrelangen Recherchen und schließlich zu diesem Roman veranlasste:

IN HONOR OF ANDREW HASWELL GREEN
DIRECTING GENIUS OF CENTRAL PARK IN ITS FORMATIVE PERIOD
FATHER OF GREATER NEW YORK […]

Aufstieg eines Außenseiters
Andrew Green kam 1820 in Massachusetts auf der Farm einer angesehenen, jedoch in Schulden geratenen kinderreichen Familie zur Welt. Früh verhielt er sich anders als andere Kinder, las, nachdem er kurz vor seinem 15. Geburtstag endlich eine Brille bekommen hatte, wie ein Besessener, war schmächtig und ein Ordnungsfanatiker. Wegen seiner gesellschaftlich nicht akzeptierten Zuneigung zu einem Freund schickte der Vater ihn mit 15 Jahren als Lehrling in eine Gemischtwarenhandlung nach New York. Die Begegnung mit dem sechs Jahre älteren aufstrebenden Juristen und späteren demokratischen Präsidentschaftskandidaten Samuel Tilden aus reichem Hause veränderte Greens Leben und ermöglichte ihm nach diversen anfänglichen Rückschlägen den Aufstieg. Er studierte Jura und setzte sich für seine Herzensanliegen ein: öffentlicher Raum für jedermann, Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit für Schwarze. Auf ihn gehen viele, teils umstrittene stadtplanerische Maßnahmen zurück, unter anderem der Central Park, das Metropolitan Museum of Art, das American Museum of Natural History, die New York Public Library und die Vereinigung von fünf Bezirken, wodurch Brooklyn seine Unabhängigkeit verlor, für manche ein großer Fehler, einer von mehreren im Roman.

Der „Mordfall des Jahrhunderts“
Der Roman beginnt mit der Ermordung des 83-jährigen Green 1903 mittels fünf Schüssen auf offener Straße. Die Suche nach dem Motiv des Schwarzen Cornelius Williams zieht sich durch den gesamten Roman und Inspector McClusky gerät mächtig unter Druck. Trotzdem ist Der große Fehler kein Krimi, denn im Mittelpunkt stehen Episoden aus Greens Leben, aber auch unzählige, oft bizarre Anekdoten wie die eines Elefanten, der mit New Yorker Stadtplan das Cover schmückt. Die von Green erdachten Tor-Namen des Central Park, „jeder Name eine Perspektive auf den Charakter der Stadt“ (S. 53), dienen, mal mehr, mal weniger passend, als Kapitelüberschriften.

Mehr Anekdoten als Fakten
So interessant die Figur Andrew Green ist, so wenig überzeugte mich die Konzeption des Romans. Anekdoten dürfen einen biografischen Roman schmücken, aber wenn, wie hier, der Porträtierte zu ihren Gunsten aus dem Fokus gerät, der Text kapitelweise zerfasert und dahinplätschert, geht die Balance verloren. Viele Fragen blieben deshalb leider unbeantwortet: Wie konnte jemand mit lückenhafter Schulkarriere Jura studieren? Wie wurde Green vom Anwalt zum Stadtplaner? Auf welche Weise engagierte er sich für Bildungsgerechtigkeit und gegen Rassendiskriminierung? Wie kam es zu Samuel Tildens Präsidentschaftskandidatur? Hätte ich nicht parallel das Internet bemüht, der Wissenszuwachs wäre enttäuschend gewesen.

Dagegen gefiel mir die ebenso empathisch wie diskret beschriebene lebenslange Sehnsucht Greens nach Liebe, die er als Kind schmerzlich vermisste und als Erwachsener nicht ausleben durfte, um seine und Tildens Lebensprojekte nicht zu gefährden:

Wenn wir uns nicht auf Zehenspitzen bewegen müssten, es uns nicht so wichtig wäre, etwas zu leisten, wir uns nicht immer gegenseitig über die Schulter sehen müssten, um Fehltritte zu vermeiden? (S. 284)

Leider verschenkt der biografische Roman über einen interessanten Visionär in bewegter Zeit insgesamt viel Potential.

Jonathan Lee: Der große Fehler. Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence. Diogenes 2022
www.diogenes.ch

Markus Orths: Max

  Ein Künstlerroman zum Hören

Max Ernst (1891 – 1976) gehört zu den bedeutendsten Malern, Grafikern und Bildhauern des 20. Jahrhunderts. Der Autodidakt war 1919 Mitbegründer der Kölner Dada-Gruppe und gehörte ab 1922 zu den Surrealisten um den Dichter André Breton. Geboren im Rheinland, kam er Anfang der 1920er-Jahre nach Frankreich. 1941 floh er von dort mit Unterstützung des berühmten Fluchthelfers Varian Fry vor der Gestapo in die USA. 1953 kehrte er nach Frankreich zurück, wo er bis zu seinem Tod am Tag vor seinem 85. Geburtstag lebte.

Egal wo er sich aufhielt, welcher Strömung er folgte, in welcher Technik und mit welchem Material er arbeitete, Max Ernst war kein Mann, der alleine blieb. Zahlreiche Frauen begleiteten ihn ab seinem 19. Lebensjahr. Die sechs wichtigsten stellt der Autor Markus Orths in seinem biografischen Roman Max neben dem Künstler in den Mittelpunkt und benennt nach ihnen die sechs Kapitel, denen ein kurzer Prolog vorausgeht. Mit vier der Frauen war Max Ernst verheiratet. Fünf begleiteten ihn während 33 Jahren, die letzte weitere 33 Jahre bis zu seinem Tod.

© B. Busch

Kapitel „Lou“ und „Galapaul“
Den Reigen der Frauen eröffnet Luise Straus, genannt Lou, die Max Ernst 1918 heiratete, Mutter seines einzigen Kindes, dem Sohn Hans-Ulrich, genannt Jimmy. Als selbstbewusste, durchsetzungsfähige und intelligente Frau konnte die promovierte Kunsthistorikerin und Journalistin für sich und ihren Sohn sorgen, nachdem Max Ernst sie verließ. Doch weder er noch der Sohn konnten die Jüdin vor der Deportation aus ihrem französischen Exil und der Ermordung in Auschwitz retten.

Die erste Ehe tauschte Max Ernst 1922 gegen eine Ménage-à-trois mit dem Lyriker Paul Éluard und dessen Frau Gala, der späteren Frau von Salvador Dalí, ein.

Kapitel „Marie-Berthe“ und „Leonora“
Ehefrau Nummer zwei des mittlerweile 35-jährigen Künstlers wurde 1927 überstürzt die 21-jährige Marie-Berthe Aurenche, die psychisch nie über die Trennung hinwegkam. Leonora Carrington, eine britische Künstlerin, war 20, als der 46-jährige Max Ernst sie 1937 kennenlernte. Sie war seine große Liebe, mit der er zeitweise in einem gemeinsamen Haus in Saint-Martin-d’Ardèche lebte.

Kapitel „Peggy“ und „Dorothea“
Als die Beziehung zu Leonora in den Kriegswirren zerbrach, wurde 1941 die reiche, kapriziöse US-amerikanische Kunstsammlerin Peggy Guggenheim Ernsts dritte Ehefrau, eine Verbindung, die sich schnell als Irrtum erwies. Erst als er 1943 die Malerin Dorothea Tanning kennenlernte, die 1946 seine vierte und letzte Ehefrau wurde, kam er zur Ruhe.

Mehr als schmückendes Beiwerk
Markus Orths gibt jeder der Frauen breiten Raum, stellt ihre Biografien, ihre Stärken, Ambitionen und Schwächen in den Mittelpunkt und reduziert sie nicht zum Anhängsel des berühmten Künstlers. Fast alle waren auf ihre Art beeindruckende Frauen, wobei Luise Straus für mich herausragt.

Leider gekürzt
Der Sprecher Torben Kessler liest das Hörbuch auf sechs CDs mit 456 Minuten ausgesprochen angenehm, allerdings bedauere ich sehr, dass es sich um eine gekürzte Fassung handelt. Sind die auf nur einer, der letzten, CD zusammengefassten Jahre ab 1941 eine Folge dieser Kürzung? Gerne hätte ich den vollständigen Text gehört. Trotzdem ist auch das Hörbuch empfehlenswert, gewährt es doch nicht nur Einblicke in das Leben des unermüdlichen Kunst-Erneuerers Max Ernst, sondern auch in das seiner Partnerinnen und vieler zeitgenössischer Künstlerkollegen eines überaus spannenden Jahrhunderts.

Markus Orths: Max. Sprecher: Torben Kessler. Audiobuch 2017
www.sagaegmont.com/germany/

 

Weitere Rezension zu einem Kinderbuch von Markus Orths auf diesem Blog:

Roxanne Bouchard: Die Korallenbraut

  Loyalitäten

Im Südosten der kanadischen Provinz Québec liegt zwischen der Mündung des Sankt-Lorenz-Stroms und der Baie des Chaleurs eine ganz besondere Landzunge: die Halbinsel Gaspésie mit dem Hauptort Gaspé, vermutlich abgeleitet vom Mi’kmaq-Wort „Gespeg“, „Landesende“. Umrundet man sie auf der Route 132, ist diese „Tour de la Gaspésie“ 800 Kilometer lang und bietet eine spektakulär schroffe Nord- und eine lieblichere Südküste, Leuchttürme, kleine Dörfer mit Holzhäusern, den Parc national de Forillou, Wale, Seevögel, Seehunde, den berühmten Felsen von Percé und viel Ruhe.

© B. Busch

Alles beginnt mit einem Vermisstenfall
Nachdem ich diese touristisch nicht überlaufene Idylle 2014 kennenlernen durfte, mag ich mir kaum vorstellen, dass auch dort Verbrechen geschehen. Für ihre Aufklärung sorgt Sergeant Joaquín Morales, 52, 1976 mit 22 Jahren der Liebe wegen von Mexiko nach Kanada übersiedelt. Nach turbulenten Zeiten bei der Kriminalpolizei Montréal möchte er es nun in der Polizeistation von Bonaventure ruhiger angehen lassen. In seinem neu gekauften, kleinen gemütlichen Haus mit Veranda und Meerblick in Caplan erwartet er seine Frau. Doch statt Sarah, die inzwischen andere Pläne hat, trifft überraschend sein älterer Sohn Sébastien ein, ohne seine langjährige Partnerin, aber mit dem festen Vorsatz, seinen Vater für alle Pannen seines Lebens verantwortlich zu machen und mit ihm abzurechnen.

Ein schlechter Zeitpunkt für eine Vater-Sohn-Aussprache, denn einerseits liegt Morales‘ bester Freund, der Fischer Cyrille Bernard, im Sterben, andererseits schickt ihn seine Vorgesetzte nach Gaspé, wo er die dortige Polizeistation bei einem Vermisstenfall unterstützen soll. Man sucht nach der 32-jährigen Angel Roberts, einer von nur zwei Hummerfischerinnen der Gaspésie, die samt ihrem Kutter in der Nacht verschwunden ist. Während Morales noch auf die Flucht einer ehemüden Frau hofft, finden ihr Vater und ihre Brüder zunächst ihr Schiff, dann taucht ihre Leiche unter erschütternden Umständen auf: im Brautkleid, das sie anlässlich ihres zehnten Hochzeitstags trug. Selbstmord? Raffiniert inszenierter Mord? Rachegeschichte unter Fischern? Vertuschung von Schwarzfischerei? Ehedrama? Familienfehde? Morales‘ Ermittlungen kommen nur schleppend voran und sein provisorisches Team, der außendienstuntaugliche Wachtmeister Érik Lefebvre, die widerborstige Fischereiaufseherin Simone Lord und die maximal unkooperative Rezeptionistin Thérèse Roch, machen ihm die Arbeit nicht einfach. Noch dazu, wo er wenig über Fischerei und das Meer weiß…

Eine Ode an das Meer und die Gaspésie
Im Mittelpunkt von Band zwei der Sergeant-Morales-Reihe im Verlag Atrium der 1972 geborenen franko-kanadischen Autorin Roxanne Bouchard, den ich ohne Kenntnis des ersten problemlos gelesen habe, stehen neben dem Kriminalfall und der Vater-Sohn-Geschichte die Landschaft, die Fischerei und ganz besonders das Meer, Sehnsuchts-, Gefahren- und Illusionsort gleichermaßen:

„Wenn sich der Mond im Ozean spiegelt, ist da weder Silber noch eine Straße. Versuch ruhig, irgendetwas zu erhaschen, und du wirst sehen: Alles rinnt dir durch die Finger! Der Mond ist trügerisch und das Meer eine einzige Täuschung.“ (S. 9)

Langjährige Fehden, eine starke Frau im knallharten, männerdominierten Fischereigewerbe, das Moratorium für den Kabeljaufang von 1992, die Geheimnisse der Gezeiten, Strömungen und Nautik, ebenso kantige wie einprägsame und ambivalente Haupt- und Nebencharaktere, Loyalität als Lebensmaxime und vor allem eine große Liebe zur Gaspésie und zum Meer sind die Zutaten, aus denen dieser gelungene, in Kanada preisgekrönte literarische Krimi gestrickt ist. Es wird nicht mein einziger Morales-Krimi bleiben!

Roxanne Bouchard: Die Korallenbraut. Aus dem Québec-Französischen von Frank Weigand. Atrium 2022
www.w1-media.de

Tania Blixen: Babettes Gastmahl

  Eine vollkommene Novelle

1937 erschien mit Afrika, dunkel lockende Welt der bekannteste Roman von Tania Blixen (1885 – 1962), verfilmt 1985 unter dem Titel „Jenseits von Afrika mit Meryl Streep, Robert Redford und Klaus Maria Brandauer, stark angelehnt an ihre Jahre als Kaffeefarmerin in Kenia 1914 bis 1931 und mit einem Oscar prämiert. Ebenfalls mit einem Oscar ausgezeichnet wurde die Verfilmung von Tania Blixens später und bekanntester Novelle Babettes Fest aus dem Jahr 1987. Der Manesse Verlag hat diese Erzählung nun erstmals in ihrer vollständigen Fassung von 1958 aus dem Dänischen von Ulrich Sonnenberg übersetzen und kommentieren lassen. Wie man dem ebenso informativen wie unterhaltsamen, 37 Seiten umfassenden Nachwort von Erik Fosnes Hansen entnimmt, ist diese spätere Version „der deutlich reichere, opulentere und weitaus vollkommenere Text“ (S. 78) im Vergleich zu dem bisherigen deutschen Ausgaben zugrundeliegenden englischsprachigen Text aus dem US-amerikanischen Ladies‘ Home Journal von 1950. Die wunderschöne Leinenausgabe mit schwarzer Fadenheftung, Lesebändchen und entzückenden Kapitelzählungen mit aus Essbesteck geformten römischen Ziffern heißt nun wesentlich passender Babettes Gastmahl.

Stockfisch statt Haute Cuisine
Mit Babettes Gastmahl führt uns die Dänin Tania Blixen in die nordnorwegische Finnmark ins Fischerdorf Berlevaag. Die dortige sehr fromme pietistische Gemeinde hat sich ganz der Genügsamkeit verschrieben. Martine und Philippa, die beiden einst sehr schönen Töchter des Propstes und Gründers der strengen Bewegung, haben in ihrer Jugend zwei wohlmeinende Bewerber abgewiesen. Einer von ihnen, der Pariser Sänger Achille Papin, schickt den beiden inzwischen vaterlosen Frauen 16 Jahre nach seiner glücklosen Werbung im Juni 1871 die Köchin Babette. Bis zu ihrem Engagement als Kommunardin im französischen Bürgerkrieg war sie gefeierte Küchenchefin im besten Restaurant von Paris, ihre Gäste und Bewunderer die von ihr bekämpfte aristokratische Klasse.

Martine und Philippa gewähren der Papistin nicht ohne ein gewisses inneres Beben Asyl und Babette akzeptiert dankbar ihr neues Los: die Zubereitung von Stockfisch und Brotsuppe.

Einmal noch richtig kochen
Nach 14 Jahren als treue Haushälterin der frommen Tugendschwestern ereignet sich 1885 etwas Ungeheuerliches: Babette gewinnt 10.000 Francs in der französischen Lotterie und äußert erstmals einen Wunsch. Sie möchte zum bevorstehenden 100. Geburtstag des verstorbenen Probstes die Gemeinde bekochen – mit ihrem eigenen Geld und auf ihre ganz eigene Weise. Zögernd willigen die Schwestern ein und noch einmal kann Babette ihre gesammelten Kochkünste entfalten. Doch angesichts der unerhörten Fülle exotischer Speisen und Getränken weiß nur einer der zwölf Gäste ihr Künstlertum zu schätzen: Martines abgewiesener und zufällig in Berlevaag weilender Bewerber General Löwenhielm, der Babette aus ihrer Glanzzeit im Café Anglais kennt.

© B. Busch

Jedes Wort und jede Szene sitzen in Tania Blixens vorzüglicher, märchenhaft-magisch anmutender Novelle am richtigen Platz, religiöse Genügsamkeit und weltliche Verschwendung prallen aufeinander und Babettes Dilemma macht sie zur tragischen Figur: Sie selbst hat zur Vertreibung der Menschen aus Paris beigetragen, die allein ihr Künstlertum wertschätzten. Der Lotteriegewinn versetzt sie in die Lage, noch einmal ihre Meisterschaft unter Beweis zu stellen, besonders für sich selbst:

Es ist fürchterlich für einen Künstler, für sein Zweitbestes Beifall zu bekommen. […] Durch die Welt geht ein langer Schrei aus dem Herzen der Künstler: Gebt mir die Erlaubnis, gebt mir die Gelegenheit, mein Allerbestes zu liefern. (S. 66)

Tania Blixen: Babettes Gastmahl. Aus dem Dänischen übersetzt und kommentiert von Ulrich Sonnenberg. Mit einem Nachwort von Eric Fosnes Hansen. Manesse 2022
www.penguinrandomhouse.de

Tanguy Viel: Das Mädchen, das man ruft

  Fische derselben und anderer Gattung

Es gibt Geschichten, die sind simpel und altbekannt, können aber trotzdem nicht oft genug erzählt werden. Sie gleichen sich fatal und doch verfolgt man das Geschehen gebannt, immer in schlechter Vorahnung, aber auch in der Hoffnung, der Ausgang könnte gerade dieses eine Mal ein anderer sein.

Eine solche Geschichte erzählt der 1973 geborene, mehrfach preisgekrönte bretonische Autor Tanguy Viel in Das Mädchen, das man ruft, der wörtlichen Übersetzung des englischen Wortes Callgirl. Der französische Originaltitel La fille qu’on appelle, eigentlich exakt wiedergegeben, ist dank der Satzstellung und der Doppelbedeutung von „appeler“ als „rufen“ und „nennen“ noch origineller, fordert er doch dazu auf, eine Bezeichnung für die Protagonistin Laura zu ergänzen: das Flittchen, die Unschuldige, das naive Opfer, die Verführerin, die Strategin?

Alles hat einen Preis
Laura Le Corre ist mit 20 Jahren in ihre bretonische Heimatstadt am Meer zu ihrem Vater Max, einem Ex-Boxchampion, zurückgekehrt, ohne Schulabschluss, ohne Ausbildung. Jahre vorher hatte ihre Mutter mit ihr den zwischen Boxring und exzessivem Nachtleben pendelnden Ehemann verlassen. Mit 16 wurde die attraktive, dunkelhäutige Teenagerin vor dem Gymnasium angesprochen, es folgte ein Intermezzo in Rennes als Model für Dessous und in Zeitschriften „die im Kiosk dann in der obersten Regalreihe stehen“ (S. 25). Nun ist sie überraschend wieder da und Max, seit drei Jahren Chauffeur des Bürgermeisters, vermittelt ihr zur Beschleunigung ihrer Wohnungssuche einen Termin bei seinem Chef. Quentin Le Bars, knapp 50, mit dem für französische Bürgermeister typischen einschüchternden Büro im Stil des Ancien Régime und dem Blick Richtung Paris und Ministeramt, zeigt sich sofort kooperativ. Er verspricht sogar Hilfe bei der Jobsuche, allerdings nicht ohne Gegenleistung:

Und da spürte sie, so wie sich in der Tektonik irgendwann die Spannung entlädt, wie seine Hand sich auf ihre legte und er zugleich zu ihr sagte:
Ich werde tun, was ich kann, um dir zu helfen. (S. 35)

© B. Busch

Der narzisstische Le Bars lässt seine Kontakte spielen unter den „Fischen derselben Gattung“ (S. 39), wo jeder jedem einen Gefallen schuldet und alles miteinander verwoben ist. Er bringt Laura als Hostess bei seinem Freund Franck Bellec, Ex-Manager ihres Vaters, im Casino unter, wo er zukünftig kommt und geht, wann es ihm behagt, stets chauffiert vom ahnungslosen, kurz vor seinem Comeback stehenden Max.

Altbekannt und topaktuell
Während die Figuren allen denkbaren Klischees entsprechen, was ich nicht für eine Schwäche des Romans, sondern für eine bewusste Wahl halte, schließlich folgt auch die Handlung einem altbekannten Drehbuch, sind Viels Sprache, seine von Hinrich Schmidt-Henkel sehr gut übersetzten Endlossätze und die enorme Fülle an Metaphern ausgesprochen originell und für mich ganz klar die Stärke des 2021 in die Auswahlliste für den Prix Goncourt aufgenommenen Romans. Aus Lauras polizeilicher Zeugenaussage, ergänzt durch die Stimme einer allwissenden Erzählerin oder eines Erzählers, erfahren wir von den Mechanismen patriarchaler Machtentfaltung, den Klüngeln in gesellschaftlichen Hinterzimmern, dem Wegducken der Justiz und dem Entstehen einer missbräuchlichen Beziehung, die durch ein fehlendes Nein nicht weniger verwerflich wird. Am Ende können wir selbst über Laura richten: Flittchen, Unschuldige, naives Opfer, Verführerin oder Strategin?

Eine leider zeitlose Geschichte über Machtmissbrauch, gesellschaftliche Hierarchien, Abhängigkeit und Schuld im neuen Kleid und ein lesenswerter Beitrag zur aktuellen MeToo-Debatte.

Tanguy Viel: Das Mädchen, das man ruft. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel. Wagenbach 2022
www.wagenbach.de

Laurent Petitmangin: Was es braucht in der Nacht

  Tiefe Gräben

Beim ersten Wahlgang der französischen Präsidentschaftswahl im Mai 2017 gingen weit über 40 Prozent der Stimmen an extreme und populistische Parteien. Im zweiten erzielte Marine Le Pen vom Front National, heute Rassemblement National, immerhin 34 Prozent. Das Versprechen des Wahlsiegers Emmanuel Macron, bis zur nächsten Wahl im April 2022 alle Gründe für eine Wahl von Extremisten zu entkräften, erfüllte sich nicht. Die Demoskopen prophezeien erneut ein Kopf-an-Kopf-Rennen.

Doppelter Abgrund
Der Ich-Erzähler und Vater im Debüt-Roman Was es braucht in der Nacht des Franzosen Laurent Petitmangin hat 2017 bei der Stichwohl zwischen Le Pen und Macron auf die Stimmabgabe verzichtet, zu sehr lehnt er faschistisches wie neoliberales Gedankengut ab. Als Lothringer, täglich konfrontiert mit der Arbeitslosigkeit in dieser ehemaligen Bergbau- und Stahlregion und den Niedergang der dörflichen Strukturen vor Augen, fühlt er sich traditionell den Sozialisten verbunden, die allerdings immer weniger werden.

Nach dem Tod seiner Frau, „der Mutti“, die ihn nach drei Jahren Siechtum mit dem 13-jährigen Frédéric, genannt Fus, und dem jüngeren Gillou allein zurückließ, fand er nur schwer Halt und in den Alltag mit der Erziehung der Söhne, der Hausarbeit und dem Job als Monteur bei der SNCF, aber dann klappt es doch. Der weit über sein Alter verantwortungsbewusste und vernünftige Fus kümmert sich hingebungsvoll um den kleinen Bruder, hilft im Haushalt und fasst wieder Fuß in der Schule. Die Männergemeinschaft verbindet mehr als nur die Leidenschaft für Fußball.

Als sich Fus verändert, sich zurückzieht und neue Freunde hat, schaut der Vater weg, bis es nicht mehr anders geht:

In knapp zehn Minuten rechtfertigte er so, dass er mit Rechtsextremen rumzog. […] Den Freunden der Holocaust-Leugner, den Dreckskerlen. Fus blieb ruhig, schien fast froh, dass jetzt alles auf dem Tisch war. Er bekannte Farbe, wie ein Zeuge Jehovas durchdrungen von seinem Stuss, voller neuer Gewissheiten und immer sehr freundlich. (S. 49)

© B. Busch

Auch wenn Fus hofft, es würde sich nichts ändern: Der Familienfrieden ist dahin. Eine abgrundtiefe Scham erfasst den überforderten Ich-Erzähler. Dabei steht ihnen das Schlimmste noch bevor: Gewalt und Gegengewalt eskalieren in einem Ausmaß, dass der Vater zunächst nicht mehr zu seinem Sohn stehen kann und will…

Aktuell und bewegend
Ähnlich wie der 2021 erschienene Roman Über Menschen von Juli Zeh über rechtsradikale Dorfbewohner in Brandenburg ist Was es braucht in der Nacht ein topaktueller Beitrag zur politischen Spaltung der Gesellschaft. Gleichzeitig ist es aber auch eine sehr persönliche Geschichte über die Spaltung einer Familie und einen berührenden Vater-Sohn-Konflikt. Die Frage, wie ein freundlicher, friedfertiger junger Mann sich derart radikalisieren kann und welche Schuld den Vater trifft, ist hochinteressant und geht mir als Mutter nah. Auch wenn ich die Beweggründe, das Verhalten und vor allem die Wendung des Ich-Erzählers, der in der unspektakulären Sprache eines Vertreters der Arbeiterklasse berichtet, nicht immer nachvollziehen kann, bewegt mich der kaum 160 Seiten umfassende Roman auch Tage nach der Lektüre noch, nicht nur wegen des diskussionswürdigen Endes. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass sich das Lesen gelohnt hat.

Laurent Petitmangin: Was es braucht in der Nacht. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. dtv 2022
www.dtv.de

Kristin Roskifte: Alle zählen

  Wimmelige Lebensgeschichten

Der Duden nennt als Bedeutung für „zählen“ einerseits „eine Zahlenfolge hersagen“ und „die Anzahl von etwas feststellen“, andererseits „wert sein“. Genau mit dieser Doppeldeutigkeit spielt Kristin Roskifte in ihrem für den Deutschen Jugendbuchpreis 2022 in der Sparte Bilderbuch nominierten Alle zählen. Das Buch animiert zum Zählen, wenn beginnend bei „Niemand“, „0“, auf jeder Seite eine Person hinzukommt. Später werden die Sprünge größer, es wimmelt immer mehr, und zuletzt sieht man die Erde nur noch als einen Planeten unter vielen im All:

Siebeneinhalb Milliarden Menschen zusammen auf einem Planeten. Jeder Einzelne hat seine persönliche, einzigartige Geschichte. Alle zählen. Und einer von ihnen bist du!

© B. Busch

Es geht also um viel mehr als ums Zählen: Jeder einzelne Mensch in seiner Einzigartigkeit und mit seiner ganz individuellen Biografie ist wertvoll. In der Bibliothek sind Buchgeschichten und Lebensgeschichten von 18 Menschen vereint:

Achtzehn Menschen in einer Bibliothek. Einer fragt sich, wie viele Geschichten dort wohl versammelt sind. Zwei von ihnen finden etwas anderes als Bücher.

© Verlag Gerstenberg

Wer mag das sein, wer mag hier etwas anderes als Bücher finden – und was? Doch nicht etwa die beiden am Kunstbuchregal, die sich einige Seiten vorher unter vier anderen im Aufzug einsam fühlten? Noch können sie sich vor lauter Büchern nicht sehen, aber unter den 30 Menschen im Park einige Seiten weiter sind sie bereits als Liebespaar zu sehen und ihre Hochzeit feiern sie mit 58 Gästen.

Eine Fundgrube für Entdeckungen
Kristin Roskifte, geboren 1975 in Oslo, erzählt in ihrem innovativen Wimmelbuch auf 64 Seiten eine solche Vielzahl von Geschichten, dass man garantiert bei jedem Anschauen neue entdeckt. Die Figuren sind knallbunt gezeichnet vor weißem Hintergrund in einer mit hellblauen Strichen angedeuteten Umgebung. Die meist zweizeiligen Texte am unteren Bildrand, ebenfalls  in Hellblau, geben oft mehr Rätsel auf, als sie erklären. Denn wie könnte man ahnen, welches der 100 Kinder auf dem Schulhof einen Impfstoff entwickeln wird, der Millionen Leben rettet? Welcher der 85 Kinobesucher sich den Film in 82 Jahren noch einmal anschauen, welchem der 23 Gefängnisinsassen die Flucht gelingen wird? Es gibt jede Menge Anlässe für Spekulationen, kreative Lösungen sind gefragt, Fantasie, Einfühlungsvermögen und die Fähigkeit zum Auffinden versteckter Zeichen und zur Deutung von Gesten und Mimik. Die Betrachterinnen und Betrachter werden zum Philosophieren verführt, bekannte Personen tauchen immer wieder auf, alte Fäden werden aufgenommen und neue gesponnen.

So viele Geheimnisse
Wer beim Rätseln nicht weiterkommt, kann die Lösungen im hinteren Buchdeckel zu Rate ziehen oder sie hier ausdrucken, um sie direkt neben die Seiten zu legen. Man erfährt dann, dass der kleine Junge, der zu Beginn alleine von seinem Bett aus den Sternenhimmel betrachtet und auf den folgenden Seiten so viel erlebt, Thomas heißt.

2019 wurde Alle zählen mit dem Kinder- und Jugendliteraturpreis des Nordischen Rates, dem wichtigsten skandinavischen Literaturpreis, ausgezeichnet. Auf humorvolle Art lädt dieses ganz besondere Wimmelbuch nicht nur Kinder ab etwa fünf Jahren, sondern auch Erwachsene zum Entdecken, Zählen, Rätseln und Fabulieren ein. Ich drücke fest die Daumen, dass es auch mit einer Prämierung beim Deutschen Jugendbuchpreis klappt!

Kristin Roskifte: Alle zählen. Aus dem Norwegischen von Maike Dörries. Gerstenberg 2021
www.gerstenberg-verlag.de

Sarah Orne Jewett: Deephaven

  Relikte aus alter Zeit

In wunderschöner Aufmachung mit einem Leinenband im Schuber, Lesebändchen, Nachwort, klarem Druckbild und glattem Papier, über das zu streichen eine Wonne ist, macht der mareverlag den Debütroman Deephaven von Sarah Orne Jewett (1849 – 1909) zugänglich. Die erste Erzählung über das fiktive Küstenstädtchen erschien 1873 im Atlantic Monthly, zwei weitere 1875 und 1876, bevor 1877 ein Roman daraus wurde.

Ein Sommer am Meer
Helen Davis erinnert sich zurück an den Sommer, als sie 24 war und einige Monate mit ihrer gleichaltrigen, ebenfalls aus Boston stammenden Freundin Kate Lancaster im Herrenhaus von deren verstorbener Großtante in Deephaven verbrachte. Der verschlafene Fischerort an der Küste von Maine wurde nach dem Embargo 1807 von der Welt vergessen:

Es schien, als wären alle Uhren in Deephaven schon vor Jahren stehen geblieben, und die Menschen mit ihnen, als würden sie immer nur das wiederholen, was sie bereits in der Vorwoche ihres anspruchslosen Lebens beschäftigt hatte. (S. 59)

Ein Klassiker in wunderschöner Ausstattung. © B. Busch

Es ereignet sich fast nichts in Deephaven und somit auch im Roman. Helen ist eine detailgetreue Chronistin kleiner Entdeckungen im Haus der Verstorbenen, von Gesprächen mit alten Seebären und exzentrischen Frauen, Relikten aus alter Zeit und „Kopien ihrer Vorfahren“, von Menschen in prekären Verhältnissen und solchen, die noch vom prunkvollen Lebensstil ihrer Vorfahren träumen und sich zur vornehmen Klasse zählen, von gesellschaftlichen Regeln, von Spaziergängen in der Stadt und an der malerischen Küste, von Ausflügen in die nähere Umgebung, Wetterbeobachtungen und Vorleseabenden am Kamin: 

Die Liebschaften, Tragödien und Abenteuer, von denen man in einer stillen, altmodischen Provinzstadt hören kann, sind wundervoll, doch wenn man die Geschichten aus dem Leben von Herzen genießen möchte, muss man die Menschen, ihren Alltag und ihren Charakter studieren, muss nachdenken und am Beobachten einfacher Dinge Freude haben und eine angeborene feinsinnige Aufmerksamkeit für etwas mitbringen, das für andere Augen reizlos und langweilig sein mag. (S. 53)

Eine entschleunigte Lektüre
Tatsächlich hatte ich bisweilen Mühe, der knappen Handlung zu folgen, weil meine Gedanken immer wieder abschweiften. Ihr literarisches Vorbild Elisabeth Gaskell (1810 – 1865), die 1853 in ihrem Episodenroman Cranford ungleich ironischer und charmanter das Leben einer in starren Strukturen gefangenen Gruppe von Frauen mittleren Alters im dörflichen viktorianischen England porträtierte, erreicht Sarah Orne Jewett mit Deephaven nicht. Allerdings gewinnen die Geschichten im letzten Drittel an Intensität und Helens Gedanken im Schlusskapitel werden reflektierter und überraschend modern. Über weite Strecken konnten mich die Protagonistinnen mit ihrer kindlich-naiven Begeisterungsfähigkeit für Kuriositäten, ihrer an Ausbeutung grenzenden Sammelleidenschaft von Schicksalen und ihrer hinter Freundlichkeit versteckten Überheblichkeit gegenüber dem „einfachen Leben“ der Einheimischen nicht für sich einnehmen:

Da sie so feinfühlig und unverbildet sind, erreichen sie einen vollständigeren Einklang mit der Natur und sind in der Lage, deren Stimmen wahrzunehmen, die von gebildeten Menschen meist überhört werden. Letztlich haben sie viel mit Pflanzen gemein, die aus dem Boden sprießen, und mit wilden Tieren, die sich ganz auf ihre Instinkte verlassen. (S. 146)

Wer nach einem gemütlichen, beruhigenden, vollkommen entschleunigten Gegenpol zu unserer durch Corona und Krieg geprägten Gegenwart sucht, der könnte mit dem Klassiker Deephaven genau richtigliegen.

Sarah Orne Jewett: Deephaven. Aus dem Amerikanischen übersetzt und herausgegeben von Alexander Pechmann. mare 2022
www.mare.de