Laurent Petitmangin: Was es braucht in der Nacht

  Tiefe Gräben

Beim ersten Wahlgang der französischen Präsidentschaftswahl im Mai 2017 gingen weit über 40 Prozent der Stimmen an extreme und populistische Parteien. Im zweiten erzielte Marine Le Pen vom Front National, heute Rassemblement National, immerhin 34 Prozent. Das Versprechen des Wahlsiegers Emmanuel Macron, bis zur nächsten Wahl im April 2022 alle Gründe für eine Wahl von Extremisten zu entkräften, erfüllte sich nicht. Die Demoskopen prophezeien erneut ein Kopf-an-Kopf-Rennen.

Doppelter Abgrund
Der Ich-Erzähler und Vater im Debüt-Roman Was es braucht in der Nacht des Franzosen Laurent Petitmangin hat 2017 bei der Stichwohl zwischen Le Pen und Macron auf die Stimmabgabe verzichtet, zu sehr lehnt er faschistisches wie neoliberales Gedankengut ab. Als Lothringer, täglich konfrontiert mit der Arbeitslosigkeit in dieser ehemaligen Bergbau- und Stahlregion und den Niedergang der dörflichen Strukturen vor Augen, fühlt er sich traditionell den Sozialisten verbunden, die allerdings immer weniger werden.

Nach dem Tod seiner Frau, „der Mutti“, die ihn nach drei Jahren Siechtum mit dem 13-jährigen Frédéric, genannt Fus, und dem jüngeren Gillou allein zurückließ, fand er nur schwer Halt und in den Alltag mit der Erziehung der Söhne, der Hausarbeit und dem Job als Monteur bei der SNCF, aber dann klappt es doch. Der weit über sein Alter verantwortungsbewusste und vernünftige Fus kümmert sich hingebungsvoll um den kleinen Bruder, hilft im Haushalt und fasst wieder Fuß in der Schule. Die Männergemeinschaft verbindet mehr als nur die Leidenschaft für Fußball.

Als sich Fus verändert, sich zurückzieht und neue Freunde hat, schaut der Vater weg, bis es nicht mehr anders geht:

In knapp zehn Minuten rechtfertigte er so, dass er mit Rechtsextremen rumzog. […] Den Freunden der Holocaust-Leugner, den Dreckskerlen. Fus blieb ruhig, schien fast froh, dass jetzt alles auf dem Tisch war. Er bekannte Farbe, wie ein Zeuge Jehovas durchdrungen von seinem Stuss, voller neuer Gewissheiten und immer sehr freundlich. (S. 49)

© B. Busch

Auch wenn Fus hofft, es würde sich nichts ändern: Der Familienfrieden ist dahin. Eine abgrundtiefe Scham erfasst den überforderten Ich-Erzähler. Dabei steht ihnen das Schlimmste noch bevor: Gewalt und Gegengewalt eskalieren in einem Ausmaß, dass der Vater zunächst nicht mehr zu seinem Sohn stehen kann und will…

Aktuell und bewegend
Ähnlich wie der 2021 erschienene Roman Über Menschen von Juli Zeh über rechtsradikale Dorfbewohner in Brandenburg ist Was es braucht in der Nacht ein topaktueller Beitrag zur politischen Spaltung der Gesellschaft. Gleichzeitig ist es aber auch eine sehr persönliche Geschichte über die Spaltung einer Familie und einen berührenden Vater-Sohn-Konflikt. Die Frage, wie ein freundlicher, friedfertiger junger Mann sich derart radikalisieren kann und welche Schuld den Vater trifft, ist hochinteressant und geht mir als Mutter nah. Auch wenn ich die Beweggründe, das Verhalten und vor allem die Wendung des Ich-Erzählers, der in der unspektakulären Sprache eines Vertreters der Arbeiterklasse berichtet, nicht immer nachvollziehen kann, bewegt mich der kaum 160 Seiten umfassende Roman auch Tage nach der Lektüre noch, nicht nur wegen des diskussionswürdigen Endes. Ein untrügliches Zeichen dafür, dass sich das Lesen gelohnt hat.

Laurent Petitmangin: Was es braucht in der Nacht. Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller. dtv 2022
www.dtv.de

Kristin Roskifte: Alle zählen

  Wimmelige Lebensgeschichten

Der Duden nennt als Bedeutung für „zählen“ einerseits „eine Zahlenfolge hersagen“ und „die Anzahl von etwas feststellen“, andererseits „wert sein“. Genau mit dieser Doppeldeutigkeit spielt Kristin Roskifte in ihrem für den Deutschen Jugendbuchpreis 2022 in der Sparte Bilderbuch nominierten Alle zählen. Das Buch animiert zum Zählen, wenn beginnend bei „Niemand“, „0“, auf jeder Seite eine Person hinzukommt. Später werden die Sprünge größer, es wimmelt immer mehr, und zuletzt sieht man die Erde nur noch als einen Planeten unter vielen im All:

Siebeneinhalb Milliarden Menschen zusammen auf einem Planeten. Jeder Einzelne hat seine persönliche, einzigartige Geschichte. Alle zählen. Und einer von ihnen bist du!

© B. Busch

Es geht also um viel mehr als ums Zählen: Jeder einzelne Mensch in seiner Einzigartigkeit und mit seiner ganz individuellen Biografie ist wertvoll. In der Bibliothek sind Buchgeschichten und Lebensgeschichten von 18 Menschen vereint:

Achtzehn Menschen in einer Bibliothek. Einer fragt sich, wie viele Geschichten dort wohl versammelt sind. Zwei von ihnen finden etwas anderes als Bücher.

© Verlag Gerstenberg

Wer mag das sein, wer mag hier etwas anderes als Bücher finden – und was? Doch nicht etwa die beiden am Kunstbuchregal, die sich einige Seiten vorher unter vier anderen im Aufzug einsam fühlten? Noch können sie sich vor lauter Büchern nicht sehen, aber unter den 30 Menschen im Park einige Seiten weiter sind sie bereits als Liebespaar zu sehen und ihre Hochzeit feiern sie mit 58 Gästen.

Eine Fundgrube für Entdeckungen
Kristin Roskifte, geboren 1975 in Oslo, erzählt in ihrem innovativen Wimmelbuch auf 64 Seiten eine solche Vielzahl von Geschichten, dass man garantiert bei jedem Anschauen neue entdeckt. Die Figuren sind knallbunt gezeichnet vor weißem Hintergrund in einer mit hellblauen Strichen angedeuteten Umgebung. Die meist zweizeiligen Texte am unteren Bildrand, ebenfalls  in Hellblau, geben oft mehr Rätsel auf, als sie erklären. Denn wie könnte man ahnen, welches der 100 Kinder auf dem Schulhof einen Impfstoff entwickeln wird, der Millionen Leben rettet? Welcher der 85 Kinobesucher sich den Film in 82 Jahren noch einmal anschauen, welchem der 23 Gefängnisinsassen die Flucht gelingen wird? Es gibt jede Menge Anlässe für Spekulationen, kreative Lösungen sind gefragt, Fantasie, Einfühlungsvermögen und die Fähigkeit zum Auffinden versteckter Zeichen und zur Deutung von Gesten und Mimik. Die Betrachterinnen und Betrachter werden zum Philosophieren verführt, bekannte Personen tauchen immer wieder auf, alte Fäden werden aufgenommen und neue gesponnen.

So viele Geheimnisse
Wer beim Rätseln nicht weiterkommt, kann die Lösungen im hinteren Buchdeckel zu Rate ziehen oder sie hier ausdrucken, um sie direkt neben die Seiten zu legen. Man erfährt dann, dass der kleine Junge, der zu Beginn alleine von seinem Bett aus den Sternenhimmel betrachtet und auf den folgenden Seiten so viel erlebt, Thomas heißt.

2019 wurde Alle zählen mit dem Kinder- und Jugendliteraturpreis des Nordischen Rates, dem wichtigsten skandinavischen Literaturpreis, ausgezeichnet. Auf humorvolle Art lädt dieses ganz besondere Wimmelbuch nicht nur Kinder ab etwa fünf Jahren, sondern auch Erwachsene zum Entdecken, Zählen, Rätseln und Fabulieren ein. Ich drücke fest die Daumen, dass es auch mit einer Prämierung beim Deutschen Jugendbuchpreis klappt!

Kristin Roskifte: Alle zählen. Aus dem Norwegischen von Maike Dörries. Gerstenberg 2021
www.gerstenberg-verlag.de

Sarah Orne Jewett: Deephaven

  Relikte aus alter Zeit

In wunderschöner Aufmachung mit einem Leinenband im Schuber, Lesebändchen, Nachwort, klarem Druckbild und glattem Papier, über das zu streichen eine Wonne ist, macht der mareverlag den Debütroman Deephaven von Sarah Orne Jewett (1849 – 1909) zugänglich. Die erste Erzählung über das fiktive Küstenstädtchen erschien 1873 im Atlantic Monthly, zwei weitere 1875 und 1876, bevor 1877 ein Roman daraus wurde.

Ein Sommer am Meer
Helen Davis erinnert sich zurück an den Sommer, als sie 24 war und einige Monate mit ihrer gleichaltrigen, ebenfalls aus Boston stammenden Freundin Kate Lancaster im Herrenhaus von deren verstorbener Großtante in Deephaven verbrachte. Der verschlafene Fischerort an der Küste von Maine wurde nach dem Embargo 1807 von der Welt vergessen:

Es schien, als wären alle Uhren in Deephaven schon vor Jahren stehen geblieben, und die Menschen mit ihnen, als würden sie immer nur das wiederholen, was sie bereits in der Vorwoche ihres anspruchslosen Lebens beschäftigt hatte. (S. 59)

Ein Klassiker in wunderschöner Ausstattung. © B. Busch

Es ereignet sich fast nichts in Deephaven und somit auch im Roman. Helen ist eine detailgetreue Chronistin kleiner Entdeckungen im Haus der Verstorbenen, von Gesprächen mit alten Seebären und exzentrischen Frauen, Relikten aus alter Zeit und „Kopien ihrer Vorfahren“, von Menschen in prekären Verhältnissen und solchen, die noch vom prunkvollen Lebensstil ihrer Vorfahren träumen und sich zur vornehmen Klasse zählen, von gesellschaftlichen Regeln, von Spaziergängen in der Stadt und an der malerischen Küste, von Ausflügen in die nähere Umgebung, Wetterbeobachtungen und Vorleseabenden am Kamin: 

Die Liebschaften, Tragödien und Abenteuer, von denen man in einer stillen, altmodischen Provinzstadt hören kann, sind wundervoll, doch wenn man die Geschichten aus dem Leben von Herzen genießen möchte, muss man die Menschen, ihren Alltag und ihren Charakter studieren, muss nachdenken und am Beobachten einfacher Dinge Freude haben und eine angeborene feinsinnige Aufmerksamkeit für etwas mitbringen, das für andere Augen reizlos und langweilig sein mag. (S. 53)

Eine entschleunigte Lektüre
Tatsächlich hatte ich bisweilen Mühe, der knappen Handlung zu folgen, weil meine Gedanken immer wieder abschweiften. Ihr literarisches Vorbild Elisabeth Gaskell (1810 – 1865), die 1853 in ihrem Episodenroman Cranford ungleich ironischer und charmanter das Leben einer in starren Strukturen gefangenen Gruppe von Frauen mittleren Alters im dörflichen viktorianischen England porträtierte, erreicht Sarah Orne Jewett mit Deephaven nicht. Allerdings gewinnen die Geschichten im letzten Drittel an Intensität und Helens Gedanken im Schlusskapitel werden reflektierter und überraschend modern. Über weite Strecken konnten mich die Protagonistinnen mit ihrer kindlich-naiven Begeisterungsfähigkeit für Kuriositäten, ihrer an Ausbeutung grenzenden Sammelleidenschaft von Schicksalen und ihrer hinter Freundlichkeit versteckten Überheblichkeit gegenüber dem „einfachen Leben“ der Einheimischen nicht für sich einnehmen:

Da sie so feinfühlig und unverbildet sind, erreichen sie einen vollständigeren Einklang mit der Natur und sind in der Lage, deren Stimmen wahrzunehmen, die von gebildeten Menschen meist überhört werden. Letztlich haben sie viel mit Pflanzen gemein, die aus dem Boden sprießen, und mit wilden Tieren, die sich ganz auf ihre Instinkte verlassen. (S. 146)

Wer nach einem gemütlichen, beruhigenden, vollkommen entschleunigten Gegenpol zu unserer durch Corona und Krieg geprägten Gegenwart sucht, der könnte mit dem Klassiker Deephaven genau richtigliegen.

Sarah Orne Jewett: Deephaven. Aus dem Amerikanischen übersetzt und herausgegeben von Alexander Pechmann. mare 2022
www.mare.de

Leïla Slimani: Der Duft der Blumen bei Nacht

  Nachts allein im Museum

Mit einem Blick in ihre Schreibstube, eine dunkle Höhle von drei mal vier Metern, beginnt Leïla Slimani ihren autobiografischen Bericht Der Duft der Blumen bei Nacht. Sie schreibt am ersten Band ihrer Marokko-Trilogie, kämpft mit ihren Figuren, ringt körperlich um Wörter, übt sich in Disziplin und im strikten Nein-Sagen bei Ablenkungen aller Art.

Mit Skrupeln sagt sie kurz darauf trotzdem ihrer Verlegerin Alina Gurdiel für das Literaturprojekt Ma nuit au musée (Meine Nacht im Museum) zu. Die Verlockung völliger Abgeschiedenheit ist übermächtig:

Wir alle träumen von Klausur, von Zimmern für uns allein, in denen wir zugleich Gefangene und Kerkermeister sind. In allen Tagebüchern, in allen Briefwechseln von Autorinnen und Autoren, die ich gelesen habe, zeigt sich diese Sehnsucht nach Stille, dieser Traum vom Rückzug, die der Kreativität so förderlich sind. (S. 21)

Eine Nacht allein im Museo Punta della Dogana in Venedig. © B. Busch

Zwischenwelten
Im April 2018 trifft Leïla Slimani in Venedig im Museo Punta della Dogana ein. In der ehemaligen Zollstation aus dem 17. Jahrhundert, einem gleichschenkligen Dreieck mit 5000 Quadratmetern, die heute ein Museum für moderne Kunst beherbergt, steht ein schmales, unbequemes Feldbett für sie bereit.

Mit Kunst, moderner im Besonderen, kann Leïla Slimani nicht viel anfangen, war doch ihre Kindheit im marokkanischen Rabat in Ermangelung von Museen durch Literatur und Filme geprägt:

Es mag dumm sein, es mag damit zu tun haben, dass ich Schriftstellerin bin und dass jedes Buch gleichbedeutend ist mit einem Kampf, mit einem langen Zeitraum, einem Hinauswachsen über sich selbst, aber die Einfachheit gewisser Werke macht mich ratlos. (S. 60)

Der nächtliche Rundgang durch die stillen Säle, vorbei an Gemälden, Plastiken, Installationen, Bildschirmen, Vitrinen und Fotografien, setzt einen Gedankenstrom in Gang. Je weiter die Nacht fortschreitet, desto eindringlicher werden die Erinnerungen an ihre marokkanische Kindheit, die Unterschiede zwischen dem liberalen Elternhaus und den Grenzen im öffentlichen Raum und das damit verbundene Eingesperrtsein, die jugendlichen Fluchtfantasien und das Scheitern ihres Vaters, der unschuldig im Gefängnis saß und daran zerbrach, ein Umstand, der Leïla Slimanis Schriftstellerkarriere mitbegründete. So wie die Zollstation eine Zwischenwelt für Waren von und nach Venedig bildete, fühlt auch sie sich nach 20 Jahren in Paris als Mensch „zwischen zwei Kulturen“, ohne Fundament und feste Verankerung:

Zerrissen zwischen den Gemeinschaften, denen ich angehöre, fehlte mir ein prägendes Territorium, das mich genährt hätte, und so schrieb ich in wackliger Balance. (S. 136)

Und so ist dieses nur knapp 160 Seiten in großzügigem Druck umfassende Büchlein eine Erzählung vom Eingeschlossensein und von der Befreiung gleichermaßen und ein wenig auch von der Kunst. Es handelt von Stille, Einsamkeit, dem Geruch des Nachtjasmins als Duft der Freiheit, von Identitäten, Ängsten und Hoffnungen, alles ineinanderfließend und durch viele Zitate schreibender Kolleginnen und Kollegen klug ergänzt.

Viel mehr als ein Pausenfüller
Ich hatte vor der Lektüre keine hochgesteckten Erwartungen, wollte lediglich die Zeit bis zur Fortsetzung der marokkanischen Familiensaga überbrücken, und wurde sehr positiv überrascht. Je länger ich las, desto tiefer tauchte ich in Leïla Slimanis Gedankenstrom ein, zunehmend fasziniert von ihren elegant und präzise formulierten, intelligenten, sehr persönlichen und ebenso anrührenden wie anregenden Betrachtungen.

Leïla Slimani: Der Duft der Blumen bei Nacht. Aus dem Französischen von Amelie Thoma. Luchterhand 2022
www.penguinrandomhouse.de

 

Weitere Rezensionen zu Romanen von Leïla Slimani auf diesem Blog:

  

Lucy Fricke: Die Diplomatin

  Schmerzvolle Ernüchterung

 

Im Angesicht weltweiter Krisenherde, Syrien, der Jemen, Afghanistan oder jüngst die Ukraine, bleiben Zweifel an den Erfolgsaussichten der Diplomatie nicht aus. Dass auch Diplomatinnen und Diplomaten verzweifeln, wenn sie trotz hoher Motivation und exzellenter Ausbildung an den Grenzen ihrer Profession zerschellen, zeigt Lucy Fricke an ihrer Protagonistin Friederike Andermann, genannt Fred, in ihrem neuen Roman Die Diplomatin.

Zu Beginn scheint alles im Lot:

Vor dem Fenster knatterte die deutsche Flagge im Wind. (Anfangssatz S. 9) 

Nach fast 20 Jahren im Auswärtigen Dienst hat Fred mit knapp 50 ihren ersten Posten als Botschafterin in Montevideo, ein Aufstieg, der nicht zuletzt dem Streben der Behörde nach einer höheren Frauenquote zu verdanken ist. Als Kind einer alleinerziehenden Kellnerin aus einem Hamburger Arbeiterviertel musste sie hart um den Aufstieg kämpfen und auf Partner, Kinder, Haus und Garten verzichten. Während die Botschaftergattin als Typus verbreitet ist, gilt der „MAP“, „mitausreisender Partner“, der seiner Frau alle paar Jahre in ein anderes Land folgt und auf eine eigene Karriere verzichtet, als seltene Spezies.

Der Karriereknick
In Uruguay wartet auf Fred ein vermeintliches Paradies, Konflikte sind unwahrscheinlich und die größte Herausforderung besteht in der Ausrichtung des jährlichen Nationalfeiertags:

Ich hatte mich für diesen Beruf entschieden, weil ich etwas bewirken wollte. Und jetzt hatte ich eine geschlagene Stunde über Grillfleisch und Bratwürstchen diskutiert. (S. 15)

Den Rest der Zeit feiert man die Nationalfeiertage anderer Nationen:

Ich stehe da rum und bin nur Deutschland. (S. 18)

Doch dann wird es schneller ernst als gedacht, eine vermisste Touristin ist ausgerechnet die Tochter einer deutschen Mediengröße und Freds stetig ansteigende Karrierekurve, für die sie ihr Privatleben geopfert hat, knickt ab.

© B. Busch

Bewährungsprobe auf rutschigem Parkett
Nach strapaziösen Wochen und einer Abberufung ins Krisenreaktionszentrum der Zentrale wird eine veränderte Fred Konsulin in Istanbul und damit zuständig für deutsche Staatsangehörige in der Türkei, eine schwierige Aufgabe auf rutschigem Parkett in einem autokratischen Land:

Schon beim Wort Dialog stellten sich bei mir inzwischen die Nackenhaare auf. Immerzu sprach man vom Dialog, während in Wahrheit die türkischen Behörden nicht mal mehr ans Telefon gingen. (S. 84)

Angesichts einer willkürlich in einem türkischen Frauengefängnis inhaftierten deutsch-kurdischen Kunsthistorikerin, ihres unter Hausarrest stehenden Sohnes und eines per Haftbefehl gesuchten deutschen Journalisten, der sich als „diplomatische Krise auf meine Bettkante gesetzt hatte (S. 152)“ verliert Fred zunehmend die Geduld, was einer Berufsunfähigkeit gleichkommt. Das Wissen um die Machtlosigkeit ihres hohen Amtes lässt sie an der Diplomatie verzweifeln und Maßnahmen in Betracht ziehen, die ganz und gar nicht Teil ihres diplomatischen Instrumentenkastens sind…

Ein Roman der Stunde
Die Diplomatin ist ein durch und durch gelungener Roman: politisch, hochaktuell, spannend, literarisch, in zahlreichen Gesprächen mit Angehörigen des diplomatischen Dienstes und während eines Stipendien-Aufenthalts vor Ort hervorragend recherchiert, originell in Thematik und Handlung und dabei höchst unterhaltsam. Sprache und Materie sind auf das Notwendige reduziert. Der anfangs humorvolle Ton, bei dem ich immer wieder herzlich lachen musste, wird zunehmend ernster und nachdenklicher, ohne auf Ironie und Lakonie zu verzichten. Selbst die Flagge scheint am Ende entmutigt:

Hinter dem Rauch wehte schlaff die deutsche Flagge im Wind. (Schlusssatz S. 254)

Unbedingt lesen!

Lucy Fricke: Die Diplomatin. Claassen 2022
www.ullstein-buchverlage.de/verlage/claassen

Felix Schmidt: Wie mein Vater Hitler den Krieg erklärte

  Ein Vater, der nicht zum Helden taugt, oder Familie ist Schicksal

 

Die Verdachtsdiagnose Krebs löst im autofiktionalen Roman Wie mein Vater Hitler den Krieg erklärte von Felix Schmidt beim 87-jährigen Protagonisten ein „diffuses Gefühl existenzieller Bedrohung“ aus. Dahinter steckt jedoch mehr als nur die Furcht vor einer schweren Erkrankung, denn Ängste haben ihn sein ganzes Leben lang begleitet. Nun möchte er ihnen am Ort seiner Kindheit auf den Grund gehen:

Während ich den Koffer packe, keimt die Hoffnung in mir auf, dass es eine Reise werden könnte, die zu mir hinführt. (S. 9)

Für zwei Wochen ist ein Hotelzimmer in der „Kleinen Stadt am Rhein“ mit den barocken Häuserfassaden gebucht, irgendwo in der Rheinebene zwischen Karlsruhe und Breisach, nicht im Schwarzwald, wie das Cover es erstaunlicherweise suggeriert.

© B. Busch

Außenseiter
1934 als erstes Kind eines Küfers und seiner Frau geboren, litt der sensible Ich-Erzähler übermäßig unter dem Jähzorn, der Düsternis und Gewalttätigkeit des Vaters, vor der ihn auch die konturlose, distanzierte Mutter nicht schützen konnte oder wollte. Früh nahm ihn die im gleichen Haus lebende, fromme und liebevoll-pragmatische Großmutter zu sich und schenkte ihm die schmerzlich vermisste Geborgenheit.

Von Beginn an lehnte der Vater Hitler vehement ab. Diese Haltung verstärkte sich noch, als er nach wenigen Monaten an der Front krank zurückkehrte und nie wieder ganz genas.

Für den Sohn hatte die väterliche Oppositionshaltung tiefgreifende Folgen, weil der als echter badischer „Rappelkopf“ seine Meinung deutlich und ohne Rücksicht auf die Gefahr für die Familie lautstark kundtat:

Nein, verblödet war der Vater nicht, närrisch schon und verblendet. Was ihn antrieb, war eine Mischung aus Anstand und angeborenem Widerspruchsgeist. Die Folgen seines Tuns bedachte er nicht. Er war ein widerborstiger Mann aus dem Kleinbürgertum, der sagte, was er dachte – und das deutlich. Er war einer, der nicht mitmachen wollte, was er sollte. Zur Heldengeschichte taugte er aber nicht. (S. 76)

Das Kind durfte nicht zur Hitlerjugend, war Außenseiter und wurde zum Verrat am Vater verführt. Wieviel einfacher wäre es mit einem Mitläufer und Duckmäuser als Vater gewesen.

Auch nach Kriegsende konnte der Vater nicht lockerlassen, litt unter der Rückkehr ehemaliger Täter auf ihre Posten, verlotterte zunehmend und starb früh. Den Ich-Erzähler hielt nach dem Abitur nichts in der Heimat.

Ein sehr persönlicher Roman
Felix Schmidt, geboren 1934, arbeitete als Journalist in leitender Funktion unter anderem beim Spiegel, Stern und der Welt am Sonntag sowie für Radio und Fernsehen. Daneben verfasste er Sachbücher zur Musik, der immer seine Liebe galt. Erst 2020 erschien sein erster Roman Amelie und nun sein zweiter, Wie mein Vater Hitler den Krieg erklärte, mit stark autofiktionalem Bezug: eine Auseinandersetzung mit dem Vater, mit Schuld und den traumatisierenden Kriegserlebnissen. Hervorragend gelungen ist die kindliche Perspektive, die der Autor nur selten verlässt. Auf gut 150 Seiten entwirft Felix Schmidt das Bild einer ambivalenten Vater-Figur, die er erst in der Rückschau in ihrer ganzen Komplexität zu begreifen beginnt. Trotz der düsteren Schatten seiner Kindheit erhebt er keine Anklage sondern zollt ihm sogar Respekt.

Ein sehr lesenswerter, unspektakulär, knapp und ehrlich erzählter Roman, dessen erschreckende Aktualität sich leider soeben durch den Überfall Russlands auf die Ukraine zeigt.

Felix Schmidt: Wie mein Vater Hitler den Krieg erklärte. Osburg 2022
www.osburg-verlag.de

Malin C.M. Rønning: Skabelon

Ein außergewöhnliches Debüt

 

Wer in diesem Literaturfrühling 2022 einen außergewöhnlichen Roman lesen möchte, dem empfehle ich das Debüt Skabelon der 1985 geborenen Norwegerin Malin C.M. Rønning. Das Buch war zurecht 2020 für den renommierten Tarjei-Vesaas-Debütatenpreis der norwegischen Autorenvereinigung für den besten literarischen Erstling Norwegens nominiert.

Auf sich gestellt
Skabelon ist der Bericht eines jungen Mädchens über ihre Kindheit von ihrem sechsten bis zu ihrem vierzehnten Lebensjahr zwischen 1990 und 2003. Ihr aus der nordischen Mythologie stammender Name Urd wird nur auf dem Buchrücken genannt und besteht, wie die Namen ihrer sieben Geschwister, aus drei Buchstaben. Urd ist das fünfte Kind in der Reihe, die Familie lebt in einem kleinen roten Haus tief im Wald, von wo aus die Kinder fünf Kilometer zum Schulbus laufen müssen. Die Mutter schläft im Wohnzimmer, die Geschwister in den beiden Räumen im Obergeschoss auf dem Boden und der Vater lebt, wenn er nicht als Holzarbeiter unterwegs ist, in einem umgebauten Bus auf dem Hof. Das Verhalten der Mutter ihren Kindern gegenüber ist vollkommen indifferent, fast schon apathisch. Ursächlich dafür scheint ihre eigene schwierige Kindheit zu sein, vielleicht sogar Missbrauch durch den Vater. Sie liegt auf dem Sofa, raucht ununterbrochen, löst Kreuzworträtsel oder nimmt ausführliche Bäder. Die vernachlässigten Kinder sind auf sich gestellt, es gibt nicht genug zu essen, sie frieren im Winter, bekommen aber mit zehn Jahren Zigaretten. Fehlende Zuwendung und Einsamkeit dominieren Urds Leben:

Ich weiß, dass all die Zeit, die ich allein bin, mich noch einsamer macht. (S. 110)

© B. Busch

Jeder von uns bleibt für sich allein, unsere Spuren kreuzen sich kaum. (S. 193)

Noch schlimmer wird es, als die älteren Geschwister nacheinander die Familie verlassen. Um sich der Verluste zu versichern, notiert Urd alles Verschwundene in einem Heft, das sie unter ihrem Kopfkissen versteckt:

Ich muss die Dinge im Auge behalten. (S. 67)

Realität und Fantasie
Viel besser als mit den Menschen, die für sie unberechenbar bleiben, kommt Urd in der Natur zurecht, obwohl auch sie oft bedrohlich wirkt. In den starken Passagen über ihre sensiblen Begegnungen mit Tieren und Pflanzen in einer seltsam schwebenden Atmosphäre verschmelzen Realität und Fantasie auf beklemmende Weise.

Skabelon ist ein Roman ohne klaren Höhepunkt oder Abschluss, trotzdem löste der fragmentierte Erzählstrom in kurzen, unsentimentalen Sätzen schnell eine Sogwirkung bei mir aus. Durch die chronologische Erzählweise in experimenteller, aber trotzdem gut lesbarer Form lässt sich die Bewusstseinsentwicklung der Ich-Erzählerin nachvollziehen. Stück für Stück erschließt Urd sich ihre Umgebung. Das Ziel aller Kinder formuliert einer der Brüder:

Wir müssen wachsen und wachsen. Dann können wir uns irgendwann unser Leben selbst aussuchen. (S. 195)

Mysteriös und gut
Rätselhaft bleibt, warum niemand eingreift, obwohl über die dysfunktionale Familie geredet wird und Urds seltsames Verhalten in der Schule auffällt. Schwer zu verstehen ist auch die Bedeutung des Titels, der laut Vorbemerkung im Buch übersetzt so viel wie „Schablone“, „Fasson, die ein Lebewesen oder ein Gegenstand aufweist oder annimmt“ oder „Missgeburt“ bedeutet. Zusammen mit dem geheimnisvollen, grob strukturierten Einband, über den man gerne mit der Hand streicht, macht genau dieser Schleier des Mysteriösen den Roman außergewöhnlich und empfehlenswert.

Malin C.M. Rønning: Skabelon. Aus dem Norwegischen von Andreas Donat. Karl Rauch 2022
karl-rauch-verlag.de

Dirk Kurbjuweit: Der Ausflug

  Fluss-Movie mit deutlichen Schwächen

Eine ausgesprochen unsympathische Viererbande in den Dreißigern steht im Mittelpunkt von Dirk Kurbjuweits Roman Der Ausflug. Während der Schulzeit drangsalierten sie uncoole Mitschülerinnen und Mitschüler, nun treffen sich die Historikerin Amalia, die noch immer an ihrer Doktorarbeit herumlaboriert, der Apotheker und in Deutschland geborene Sohn politischer Flüchtlinge aus Gambia, Josef, Amalias jüngerer Bruder Bodo, ein Weltenbummler, und der Familienvater Gero jedes Jahr zu einer gemeinsamen Unternehmung. Amalia und Josef waren einst ein Paar, jetzt ist Josef anderweitig verheiratet und hat einen kleinen Sohn, während Amalia sich auf Tinder tummelt und sicherheitshalber Eizellen eingefroren hat.

Der aktuelle Ausflug führt in eine Gegend, die der Spreewald sein könnte, wo auf den „Fließen“ des Flussdeltas eine Kanutour mit Camping geplant ist. Doch schon bevor sie die gemieteten Kanus übernehmen, verdichten sich die schlechten Vorzeichen. Im Gasthof wird Josef plump rassistisch beleidigt und kurz wird ein Abbruch erwogen, doch wieder verworfen, weil man vor den „Rassistenarschlöchern“ nicht zurückweichen will. Ein Albtraum beginnt, der sich zum Spiel um Leben und Tod auswächst und gruppendynamische Prozesse übelster Sorte in Gang setzt.

Von düsteren Andeutungen zum Holzhammer-Horror
Während ich im ersten Drittel des Romans durchaus gespannt auf den Verlauf der Tour war, hat mich der Autor in der Folge leider zunehmend verloren. Zu den Neugier weckenden düsteren Andeutungen am Beginn, wie beispielsweise der Gedenkstätte für ein Unfallopfer am Straßenrand oder die stumm starrenden Flussanrainer, die tatsächlich ein Gänsehautgefühl bei mir auslösten, kamen mehr und mehr hanebüchene Begegnungen und eine Abfolge abstruser Einschüchterungsspielchen der Gasthaus-Rassisten. Diese scheinen immer haargenau vorauszuahnen, wo die zunehmend orientierungslos auf dem Wasser umherirrenden Protagonisten anzutreffen sind, um ihnen unter anderem eine Drohne mit einem Revolver und einem 24-Stunden-Ultimatum, einen geköpften Vogel Strauß oder eine kopflose schwarzen Puppe zu präsentieren. Vor diesem völlig überzogenen Hintergrund ausgeklügelter Hinterhalte, der mich mit seiner Unglaubwürdigkeit zunehmend ratloser machte und verärgerte, konnten mich weder die Auseinandersetzungen der oft pubertär wirkenden Protagonisten mit ihren deplatzierten Dialogen und ihrem inadäquaten Benehmen noch die Rückblicke in ihre nicht besonders originelle Vergangenheit oder die überflüssigen Einlassungen zu Amalias Dissertationsthema packen.

Kein Beitrag zur Ost-West-Verständigung
Leider hat sich mir nicht erschlossen, was der Roman eigentlich sein möchte: Für einen Thriller hat mir die Spannung gefehlt, denn für die als Freundesgruppe seltsam empathielosen Protagonisten konnte auch ich keine Empathie entwickeln und entsprechend interessierte mich der Ausgang des Abenteuers zunehmend weniger. Als Horrorroman taugte allenfalls der Beginn mit den subtilen Vorzeichen der Katastrophe, nicht jedoch die plumpen Bedrohungen durch die Rassistenbande und das durch überzogene Gewalt geprägte Ende. Für einen Beitrag zur gesellschaftlichen Debatte über Rassismus, Moral und Solidarität waren mir die Figuren zu plump und eindimensional gezeichnet. Mag sein, dass das Buch als Parabel oder Satire gedacht ist, aber im Laufe der ermüdenden Lektüre wurde ich es leid, darüber nachzusinnen. Eines steht jedoch zweifellos fest: Zur Ost-West-Verständigung trägt der Roman garantiert nicht bei.

Dirk Kurbjuweit: Der Ausflug. Penguin 2022
www.penguinrandomhouse.de

Yasmina Reza: Serge

  Das tragisch-komische Leben der Geschwister Popper

Irgendwie sind sie alle verkorkst, die drei jüdisch-säkularen Geschwister Popper aus Paris. Aus Serge, mit 60 Jahren der Älteste und an Führerschaft gewöhnt, ist ein „König der nebulösen Unternehmungen“ und Aufschneider geworden, ein Egozentriker und Besserwisser, dessen Beziehungen regelmäßig scheitern. Jean, der mittlere Bruder und Ich-Erzähler mit teils auktorialem Wissen, für den sich der Vater nie interessierte, ist ein Zauderer, Beobachter und „Würstchen“ und fürchtet, das wahre Leben verpasst zu haben. Er schreckt vor einer dauerhaften Partnerschaft zurück, kümmert sich aber einfühlsam um den entwicklungsverzögerten Sohn seiner Ex-Partnerin. Die Jüngste ist Anne, genannt Nana, einstiger Liebling der Eltern, deren intakte Ehe mit einem Spanier in der Familie als Mesalliance gilt und belacht wird. Sie sucht ihr Glück in ihrer Familie und in der Wohltätigkeit.

Ein Tod zu Beginn
Jahre nach ihrem Mann Edgar Popper stirbt zu Beginn des Romans die Mutter Marta:

Diese Kuddelmuddelkiste, unsere Familie, die hast du geschaukelt, Omi, sagte meine Nichte Margot auf dem Friedhof. (S. 13)

Als Jüdin mit ungarischen Wurzeln verlor sie ihre Familie in Auschwitz, wehrte sich aber lebenslang gegen eine Opferrolle. Legendär für die drei Geschwister sind die erbitterten Streitereien der Eltern über das Thema Israel, das der Mutter regelmäßig den Vorwurf des Antisemitismus eintrug. Über Vergangenes wurde kaum gesprochen, die Kinder fragten nicht nach und nun ist es zu spät.

Von Serges Tochter Joséphine, einem „Sprössling in der Identitätskrise“, stammt der Vorschlag zu einer Auschwitzreise. Ohne wirkliche Motivation, ohne gemeinsame Vorstellung vom Umgang mit dem Gedenken und mit viel zu vielen eigenen Problemen im Gepäck wird der Familienausflug nach Auschwitz zum Fiasko:

Wir gehen über einen Weg, der zu keiner Zeit gehört. Und wir selbst haben keine Ahnung, was uns hierhergeführt hat. (S. 116)

© B. Busch

Schwieriges Erinnern
Es wird viel gestorben in diesem Roman und mit der alten Generation gehen Erinnerungen an den Holocaust verloren. Braucht es deshalb Gedenkorte wie Auschwitz? Oder verkommt die Erinnerung dort zur Touristenattraktion, also quasi zu einem Disneyland des Gedenkens? 2,3 Millionen Besucherinnen und Besucher verzeichnete das Museum Auschwitz-Birkenau 2019, ein Grund zur Freude? Die 1959 geborene jüdisch-französische Autorin Yasmina Reza zweifelt, indem sie die Geschwister Popper orientierungslos durch das KZ stolpern lässt, die Berechtigung solcher Orte und die gängigen Bewältigungsstrategien an:

Von der Erinnerung ist nichts zu erwarten. Dieser Fetischismus der Erinnerung ist bloßer Schein. (S. 106)

Gute Unterhaltung und wertvoller Denkanstoß
Was den Roman Serge für mich so lesenswert macht, ist die gelungene Verbindung aus Komik und Tragik, die bühnenreifen, temporeichen, teils skurrilen, teils bitteren, teils urkomischen Dialoge bei melancholischer Grundstimmung, und die sehr kreativen Wortschöpfungen in der deutschen Übersetzung von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Obwohl nicht unbedingt sympathisch, habe ich sehr gerne über die Geschwister Popper gelesen, die bei allen Differenzen doch nicht voneinander loskommen, eine gemeinsame Geschichte teilen und im Ernstfall füreinander da sind. Die Mischung aus unterhaltsamen, völlig alltäglichen, aber nie banalen Episoden und tiefgreifenden Fragen nach der „richtigen“ Erinnerungskultur für die Zeit nach dem Tod der Augenzeugen ist Yazmina Reza vorzüglich gelungen. Obwohl ich ihre Ansichten nach meinem Besuch im würdigen, stillen KZ Ravensbrück nicht pauschal teile, hat mich der Roman zu Fragen geführt, die ich mir vorher so noch nie gestellt hatte.

Yasmina Reza: Serge. Aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel. Hanser 2022
www.hanser-literaturverlage.de

Kirsten Boie: Heul doch nicht, du lebst ja noch

  Stadt in Trümmern – Zukunft in Trümmern?

Nach Dunkelnacht 2021 gibt es einen weiteren Jugendroman von Kirsten Boie, der im Jahr 1945 angesiedelt ist: Heul doch nicht, du lebst ja noch. Während Dunkelnacht vor dem Hintergrund realer Vorkommnisse in den letzten Kriegstagen im bayerischen Penzdorf spielt, geht es nun um drei Jugendliche im zerbombten Hamburg während einer Juniwoche nach der Kapituation. Obwohl sie vollkommen verschiedene Geschichten haben, einen sie nun Hunger, Verluste und Zukunftsängste.

Drei sehr empfehlenswerte Jugendromane über das Kriegsende und die Nachkriegszeit von Kirsten Boie. © B. Busch

Drei Perspektiven
Traute, Bäckerstochter und eben dem Puppenspiel entwachsen, scheint es vergleichsweise noch am besten zu gehen. Sie leidet jedoch unter dem Verlust ihrer Spielkameradinnen und der Enge in ihrer Wohnung durch die Einquartierung einer ostpreußischen Familie.

Hermann, der 14-jährige ehemalige HJ-Führer, sieht mit Hamburgs Kapitulation vom 3. Mai 1945 seine Ideale verraten und hasst die „Tommys“ ebenso wie seinen Vater, der im Krieg beide Beine verloren hat, jammernd und schimpfend auf dem Küchensofa festsitzt und ihn und die Mutter terrorisiert. Alle zwei Stunden muss Hermann ihn ins Zwischengeschoss zur Gemeinschaftstoilette tragen, ohne Hoffnung auf eine eigene Zukunft.

Der ebenfalls 14-jährige Jakob ahnt in seinem Versteck in einer Häuserruine nichts vom Ende des Krieges. Er hat zuerst seinen „jüdisch versippten“ Vater verloren, dann wurde seine ihres arischen Schutzes beraubte Mutter mit dem letzten Transport im Februar 1945 nach Theresienstadt deportiert. Als sein Helfer nicht mehr kommt, muss Jakob sein Versteck verlassen, um nicht zu verhungern.

Vor der Kulisse der zerbombten Stadt treffen die drei Jugendlichen aufeinander: Jakob, der sich als „deutscher Junge“ ausgibt, Traute, die sich mit einem gestohlenen Brotlaib das Mitspielen bei den Jungen erkaufen will, und Hermann, für den die Gerüchte über die Judenvernichtung „Feindpropaganda“ sind. Nebenfiguren wie Adolf, dessen Schwester auf der Flucht verlorenging, oder Max, dessen Vater als Sozi im KZ einsaß, werfen Schlaglichter auf weitere Schicksale und lassen auch Hermann und Traute nachdenklich werden:

Irgendwer muss etwas gewusst haben […] (S. 156)

Höchst empfehlenswert
Die 1950 geborene Kirsten Boie spielte als Kind wie selbstverständlich in den Trümmern Hamburgs und wuchs mit den Geschichten über den Alptraum der Nachkriegszeit auf. Indem sie heutigen Leserinnen und Lesern zeigt, dass nicht nur die verfolgten Kinder, sondern auch alle anderen schwer unter den Kriegsfolgen litten, möchte sie Jugendliche vor dem Abdriften nach rechts bewahren – ohne pädagogischen Zeigefinger, aber mit einer eindeutigen Mission. Wie immer findet die von mir hochgeschätzte Autorin dafür klare Worte und schreckt auch vor schwierigen Themen nicht zurück: Hermann ekelt sich vor dem Vater, der einnässt und die Mutter allabendlich bedrängt, hat jedoch zugleich Gewissensbisse wegen seiner Wut und es gibt einen Selbstmord. Doch wie immer trifft Kirsten Boie dafür genau den richtigen Ton und geht empathisch auf alle Figuren ein. Obwohl die Sprache und das ausführliche Verzeichnis von Begriffen und Ereignisse exakt auf die Zielgruppe ab 12 Jahren zugeschnitten sind, empfehle ich den Roman ausdrücklich auch für Erwachsene.

Das Ende hält für fast alle zumindest einen Hoffnungsschimmer bereit, sauber historisch recherchiert wie alles im Roman, völlig kitschfrei und doch zu Tränen rührend:

Alles ist anders. Und wer weiß. Vielleicht wird wirklich alles gut. (S. 177)

Kirsten Boie: Heul doch nicht, du lebst ja noch. Oetinger 2022
www.oetinger.de

 

Weitere Rezensionen zu Kinder- und Jugendbüchern von Kirsten Boie auf diesem Blog: