Kristine Bilkau: Eine Liebe, in Gedanken

Abschiede

2015 habe ich mit einer Mischung aus Neugier, Erstaunen und Faszination den Debütroman Die Glücklichen der 1974 geborenen Autorin Kristine Bilkau über den sozialen Druck und die Abstiegsängste der Generation 30+ gelesen. Ihr zweiter Roman, Eine Liebe, in Gedanken, hat mich nun sogar noch mehr begeistert, vielleicht deshalb, weil ich der Ich-Erzählerin altersmäßig näherstehe und die Frage, wann ein Leben geglückt ist, ungemein spannend finde.

Die Ich-Erzählerin, Architektin, Ehefrau und Mutter in den Vierzigern, ist von einem doppelten Verlassenwerden betroffen: Zuerst stirbt ihre Mutter Antonia, dann verlässt die Tochter Hanna nach dem Abitur das Haus. Während sie selbst eine harmonische Ehe führt und ihr Leben von Zielstrebigkeit und Beständigkeit geprägt ist, streben bzw. strebten Hanna und Antonia nach Freiheit. Prägend für das Leben der Mutter war ihre Liebe zu Edgar Janssen als junge Frau: Für ihn setzte sie einst alles auf eine Karte und „hat verloren in einer Zeit, in der Frauen dieser Mut nicht verziehen wurde“. Als 26-Jährige stand sie ohne Arbeit und ohne Wohnung da, den bohrenden Fragen der eigenen Mutter ausgesetzt, mit gepackten Kisten und neu angefertigtem Hochzeitskostüm, doch das versprochene Flugticket für Hongkong traf nicht ein. Nach einem Jahr des Wartens löste sie die Verlobung.

Zwei geschiedene Ehen, eine weitere kurzfristig abgesagte Hochzeit und eine Tochter sind die Bilanz von Antonias Leben. War es erfüllt? Dieser Frage versucht die Tochter nachzuspüren und dazu möchte sie einmal jenen Edgar Janssen treffen, der jeden Spätsommer aus Hongkong in sein Elternhaus zurückkehrt. Sie will ihn zwingen, sich an ihre Mutter zu erinnern und über sie und ihre Liebe zu reden. Sie möchte mehr erfahren, als es ihrer Mutter bei ihrem letzten Treffen 2006 gelungen ist.

Besonders gut gefallen hat mir an diesem Roman, dass er aus Sicht der Tochter erzählt wird, dass das Schicksal der Mutter in den sehr gut erlebbaren 1960er-Jahren im Mittelpunkt steht und der Aufbruch der dritten Generation in Person von Hanna anklingt. Dass die Ich-Erzählerin eine Ausstellung von Werken der finnischen Malerin Helene Schjerfbecks (1862 – 1946) vorbereitet und en passant deren Leben und Werk eingeflochten und mit der Handlung verschränkt wird, ist ein zusätzliches Bonbon und hat mich mit einer sehr interessanten Künstlerbiografie vertraut gemacht.

Ich kann Eine Liebe, in Gedanken als leisen, äußerst sensibel erzählten Roman in einer wunderbaren Sprache und passend zurückhaltender Gestaltung durch den Luchterhand Literaturverlag wärmstens und ohne Einschränkungen empfehlen. Für mich ist es eine große Entdeckung im Literaturfrühling 2018.

Anlässlich von „Leipzig liest“, dem Beiprogramm zur Leipziger Buchmesse, durfte ich die Autorin Kristine Bilkau im März 2018 bei einer Lesung im kleinen Kreis und im Gespräch mit der sehr empathischen und gut vorbereiteten Deutschlandfunk Kultur-Redakteurin Gesa Ufer erleben. Danke an beide für den großartigen Abend!

Kristine Bilkau: Eine Liebe, in Gedanken. Luchterhand 2018
www.randomhouse.de

Emily Ruskovich: Idaho

Nichts als unbearbeitete Fragen

Dreh- und Angelpunkt des Debütromans Idaho der jungen US-Amerikanerin Emily Ruskovich ist eine Familientragödie. Im August 1995 unternimmt die Familie Mitchell, Vater Wade, Mutter Jenny sowie die sechs- und neunjährigen Töchter May und June, im Pick-up einen Ausflug zum Mount Loeil, um Holz für den Winter zu machen. Völlig unvermittelt erschlägt die Mutter May mit einem Axthieb, June flüchtet in den Wald und bleibt verschollen.

Emily Ruskovich erzählt die Geschichte der Familie über fast 50 Jahre schlaglichtartig, beginnend 1973 bis 2025. Die nicht-chronologisch geordneten Kapitel tragen Jahreszahlen als Überschrift, eine Erzählweise in Puzzleart, die ich eigentlich sehr mag. Auch sprachlich hat mir die Geschichte gut gefallen und die Idee, die Betroffenen immer aus der Sicht anderer zu schildern, hätte interessant sein können.

An der Art, wie die Autorin Wades frühe Demenzerkrankung ab ca. 2000 schildert oder das sich durch die einsetzende Pubertät von June verändernde Verhältnis zu ihrer kleinen Schwester, wird deutlich, wie genau sie beobachtet und wie gut und empathisch sie feine Nuancen in Worte umsetzen kann. Gefallen haben mir auch die Naturbeschreibungen. Die Szenen aus dem Gefängnisalltag Jennys und ihrer Mitgefangenen sind trotz ihrer Ausführlichkeit noch interessant. Sehr schwierig einzuordnen war für mich die zweite Frau Wades, die Klavierlehrerin Ann, die er nur zehn Monate nach dem Mord an May und dem Verschwinden Junes geheiratet hat, und die der psychischen Belastung nicht gewachsen ist. Daneben gab es aber auch Handlungsstränge, die für mich keinerlei Bedeutung hatten, wie die Kinderlosigkeit eines in Tatortnähe lebenden Ehepaars oder der Unfall eines Schülers von Ann und dessen weiteres Leben. Im Gegenteil hatte ich nach dem sehr verheißungsvollen Romanbeginn immer mehr den Eindruck, dass Emily Ruskovich ein gegebenes Versprechen, nämlich die Ursachen der doppelten Tragödie zu beleuchten, nicht einlösen konnte und dies mit kryptischen Andeutungen und immer neuen Abschweifungen verschleiert werden sollte. Ich habe gewiss keinen Krimi mit einer perfekten Auflösung erwartet und kann mit dem einen oder anderen losen Faden durchaus leben, aber wenn gar keine Anstrengung unternommen wird, Antworten näher zu kommen, fühle ich mich als Leserin verschaukelt. Wenn es zum Thema nichts zu sagen gibt („Es ist einfach passiert.“), muss man dann einen Roman darüber schreiben? Da ich nichts erfahre, was mir Anhaltspunkte für eigene Überlegungen geben könnte, ist mir das nicht nur zu wenig, ich war sogar verärgert.

Schade um die Lesezeit, die ich besser hätte nutzen können. Normalerweise sind Romane des Hanser Verlags eine Bank für mich, in diesem speziellen Fall leider ausnahmsweise nicht. Alternativ empfehle ich Dann schlaf auch du von Leïla Slimani mit einer ähnlichen Ausgangssituation, aber wesentlich gelungenerer Umsetzung.

Emily Ruskovich: Idaho. Hanser Berlin 2018
www.hanser-literaturverlage.de

Markus Orths & Kerstin Meyer: Das Zebra unterm Bett

Jeder ist anders

Aufgepasst: Falls es unter dem Hochbett niest und hustet, könnte ein Zebra ins Zimmer geklettert sein. Jedenfalls ist das bei Hanna so, die gerade mit ihren beiden Papas, Papa Paul und Papa Konrad, umgezogen ist und in ihrer neuen Schule die zweite Klasse besucht. Da sie sich dort noch ziemlich einsam fühlt, kommt Bräuninger, so der Name des sprechenden Zebras, gerade recht, denn so braucht sie ihre Papas für Schulweg nicht mehr. Doch während sich die Klassenkameraden über den Vierbeiner freuen, sind die Lehrerin und der verbiesterte Direktor trotz dessen offensichtlicher Begabung für Rechnen, Schreiben, Turnen und Fantasiereisen und seiner problemlosen Eingliederung in die Klasse gar nicht begeistert. Schließlich sieht die Schulordnung ein sprechendes Zebra nicht vor!

Wie der Tag mit dem Zebra in der Schule Hannas Selbstbewusstsein und ihre Selbständigkeit stärkt und ihr sogar einen neuen Freund beschert, erzählt Markus Orths locker und lustig. Die Art, wie nebenbei und unaufdringlich von der Norm abweichende Familienformen einfließen, finde ich sehr gelungen. Warum Hanna allerdings von ihren „homosensationellen“ Vätern, ihrem „leidlichen“ Vater und davon, dass sie „adoptioniert“ wurde erzählt, ist mir rätselhaft. Es klingt vielleicht für Erwachsene lustig, aber was sollen Erstleser, die die Begriffe vielleicht gar nicht kennen, damit anfangen? Auch die wiederholte Werbung für Nutella hat mich gestört, Schokoladenaufstrich wäre neutral gewesen.

Kerstin Meyer hat das Buch fröhlich-bunt illustriert, wobei ich die Zeichnungen des Zebras und der Erwachsenen sehr gelungen und aussagekräftig finde, während mir die Kindergesichter überhaupt nicht gefallen.

Alles in allem ist Das Zebra unterm Bett trotz dieser Kritikpunkte eine nette, sehr fantasievolle Lektüre zum Vorlesen ab sechs Jahren oder zum (begleiteten) Selberlesen ab Ende der zweiten Klasse.

Markus Orths & Kerstin Meyer: Das Zebra unterm Bett. Moritz 2016
www.moritzverlag.de

Klaus Cäsar Zehrer: Das Genie

Versuchskaninchen im elterlichen Labor

Neun Jahre hat Klaus Cäsar Zehrer Material über den vielleicht intelligentesten Menschen aller Zeiten zusammengetragen, den weitgehend unbekannten Amerikaner William James Sidis, der einen IQ von 250 bis 300 gehabt haben soll. In seinem Debütroman Das Genie erzählt er sehr anschaulich, interessant und einfühlsam dessen tragische Lebensgeschichte: das Leben eines Menschen ohne Kindheit, ohne Liebe, ohne echte Freunde, ohne Privatsphäre und vor allem ohne den allerseits erwarteten wissenschaftlichen Erfolg.

William James Sidis wurde 1898 in New York geboren als Sohn eines eingewanderten ukrainischen Juden. Dieser Boris Sidis war nicht nur hochintelligent und ein polyglottes Universalgenie, er strahlte auch eine unwiderstehliche Kraft aus, war ein begnadeter Lehrer, der seiner Frau einen Doktor der Medizin ermöglichte, ohne dass sie jemals eine Schule besucht hatte, und verfügte über ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein. Die Ausrottung der Dummheit, des Duckmäusertums und des Krieges waren die vorrangigen Ziele dieses einst mittellosen Immigranten, der es zu einem Rekord an Harvard-Bildungsabschlüssen bracht und – bis zum Auftreten des von ihm angefeindeten Sigmund Freuds – einer der führenden Professoren für Psychologie und Psychotherapie war.

Ein solcher Mann konnte und wollte die Erziehung seines Sohnes, der auf keinen Fall „normal“ werden sollte, nicht dem Zufall überlassen. Bereits mit der Geburt begann die „Sidis-Erziehungsmethode“ und William wurde zum Versuchskaninchen im elterlichen Labor. Zeitlebens ging es ihnen nicht um ihr Kind, sondern allein um den Nachweis der Wirksamkeit ihres Experiments. Die extreme Frühförderung schien zunächst aufzugehen: William sprach von Beginn an vier Sprachen und brachte sich weitere selbst bei, durchlief die Schule in Rekordzeit und wurde mit acht Jahren der jüngste High-School-Absolvent der amerikanischen Geschichte, nicht ohne den Hass der Mitschüler und die Angst der Lehrer auf sich zu ziehen. Mit elf Jahren wurde er in ein Sonderprogramm für außergewöhnlich begabte Kinder und Jugendliche in Harvard aufgenommen, zu dem vier Wunderkinder, darunter der spätere Mathematikprofessor und Begründer der Kybernetik Norbert Wiener, gehörten. Mit einem Vortrag vor dem Harvard Mathematical Club über die Geometrie der vierten Dimension 1910 wurde William schlagartig einer breiten Öffentlichkeit als Wunderkind bekannt. Doch nicht nur seine außergewöhnlichen Begabungen auf nahezu allen Gebieten fielen auf, auch seine Humorlosigkeit, seine Alltagsuntauglichkeit, seine Unfähigkeit zur  Kommunikation und seine Begeisterung für abwegige Themen wurden kommuniziert.

Warum William James Sidis trotz seiner alles überragenden Fähigkeiten nie die von seinen Eltern, Wissenschaftlern und dem breiten Publikum in ihn gesetzten Erwartungen erfüllte und erfüllen wollte, ist Gegenstand der durchweg fesselnden, 645 Seiten starken Romanbiografie. Im Gedächtnis bleibt er als ebenso exzentrischer wie einsamer Mann, über den es an einer Stelle heißt: „Die Welt hatte keinen Platz für ihn.“ Seine letzten  Lebensjahre bis seinem frühen Tod 1944 verbrachte der überzeugte Pazifist mit einfacher Büroarbeit, dem Sammeln von Straßenbahn-Umsteigebilletts und Rechtsstreitigkeiten mit der aufdringlichen Presse.

Auch wenn Boris Sidis eine gewisse Modernität in Bezug auf Frühforderung, spielerisches Lernen und freie Entfaltung der Persönlichkeit nicht abzusprechen ist, so ist es doch ein Glück, dass seine Methode sich nicht durchgesetzt hat und unsere Kinder mit Spielzeug, Kinderliedern, Märchen und elterlicher Liebe aufwachsen dürfen.

Klaus Cäsar Zehrer: Das Genie. Diogenes 2017
www.diogenes.ch

Hans Pleschinski: Wiesenstein

„Was im Land geschah, drang nur spärlich zum Wiesenstein durch.“

Wiesenstein heißt die herrschaftliche Villa Gerhart Hauptmanns im niederschlesischen Agnetendorf, abgebildet auf dem stilvollen Cover, wo der Dichter seine letzten Lebensmonate im Kreise seiner zweiten Frau Margarete und seiner Angestellten verbrachte. Zugleich ist es der Titel von Hans Pleschinskis Romanbiografie über Hauptmann, der zu seiner Zeit berühmter und reicher war als sein Dauerkonkurrent Thomas Mann. Letzterem hat Pleschinski vor einigen Jahren mit dem Roman Königsallee ein Denkmal gesetzt. Die Spannungen zwischen den beiden Rivalen mündeten im Abbild Hauptmanns als lächerlicher Mynheer Peeperkorn in Der Zauberberg, was dieser zeitlebens übelnahm.

Nachdem Hauptmann während einer Erholungskur in Dresden die Zerstörung der Stadt durch die Allierten am 13.02.1945 erleben musste, wollte der bereits schwer von Krankheit gezeichnete 82-Jährige nur noch eines: zurück zum Wiesenstein. Zusammen mit seiner Frau Margarete, der Sekretärin und dem Masseur trat er die Heimreise über Görlitz unter dem Schutz der Gauleitung an, die mit der Rückkehr des namhaftesten Schlesiers in die bedrohte Heimat ein Zeichen gegenüber der Bevölkerung setzen wollte. Es wirkt wie ein Wunder, dass die Hauptmanns dort bis zu seinem Tod am 6. Juni 1946 samt Köchin, Zofe, Gärtner und anderen Mitbewohnern verhältnismäßig unbehelligt und luxuriös leben konnten, nicht zuletzt dank eines russischen bzw. polnischen Schutzbriefes, während ringsum Chaos, Auflösung, Gewalt, Panik, Flucht, Vertreibung und Hunger herrschten: „Was im Land geschah, drang nur spärlich zum Wiesenstein durch. … Inmitten des Tumults stand, noch seltsam unversehrt, der Wiesenstein.“

Hans Pleschinkis Roman setzt sich aus mehreren Teilen zusammen. Da ist zum einen die Lebensgeschichte Gerhart Hauptmanns, die in Erinnerungen und Gesprächen erzählt wird. Ein Fokus liegt dabei auf dem Arrangement des „überzeugten Kompromisslers“ mit dem Naziregime, der nicht wie so viele seiner Kollegen ins Exil ging. Obwohl kein Fanatiker, zeigte er bereitwillig den Hitlergruß, hisste vor seinem Haus auf Hiddensee die Hakenkreuzfahne, empfing Nazigrößen im Wiesenstein und äußerte Sätze wie: „Was der Führer verfügte, war besonnene Tat“. Carl Behl, der Jurist, Diplomat, Literaturliebhaber und Freund, der kurz vor Hauptmanns Tod sein Archiv ordnete und mit einem Sondertransport 40 Kisten in die Oberpfalz brachte, fasste es so zusammen: „Das unentschiedene Schwanken scheint eine Spezialität zu sein“ und „Die Judenfrage… wirkt hier im Hause bisweilen ungeklärt“.

Ein zweiter Fokus Pleschinkis liegt auf dem über 11000 Seiten umfassenden Werk Hauptmanns, an dem dieser bis zu seinem Tod noch feilte, Bühnenstücke, autobiografische Schriften, gedruckte Reden und Gedichte in sämtlichen Versmaßen. Weite Passagen werden hier zitiert, meist aus dem sehr pathetischen und mythstischen Spätwerk, was ich als eher ermüdend empfunden habe. Lust auf Hauptmann-Texte hat es mir – mit Ausnahme der frühen naturalistischen Dramen – nicht gemacht.

Ein dritter Teil schildert die Lebensumstände und die politischen Verschiebungen in der Phase ab März 1945 in Schlesien, die letzte Kriegsphase, die russische Besatzung und die anschließende polnische Verwaltung mit der Vertreibung der deutschen Bevölkerung. Diese sehr eindringlich geschilderten Passagen haben mir mit am besten gefallen.

Wiesenstein ist kein einfach zu lesender Roman und bisweilen haben die 540 Seiten sich für mich mehr wie Arbeit denn wie Vergnügen angefühlt, doch bin ich sehr froh, dass ich durchgehalten habe. Hans Pleschinkis Stil ist einerseits sehr literarisch und meist elegant, doch übertreibt er an manchen Stellen, wenn er beispielsweise den Gärtner ebenso reden lässt wie den Dichter. Dem Roman ist die umfangreiche, mehrjährige Recherchearbeit deutlich anzumerken, doch fühle ich bei Romanbiografien immer auch etwas Unbehagen, denn die Authentizität der Dialoge bleibt doch fraglich. Ich war deshalb sehr froh, im Epilog zu erfahren, dass Pleschinki nicht nur Zugang zu den bisher unveröffentlichten Tagebüchern der Hauptmanns hatte, sondern auch im Kontakt mit dem Hauptmann-Biografen Peter Sprengel und deren Enkelin Anja Hauptmann stand.

Hans Pleschinski: Wiesenstein. C.H. Beck 2018
www.beck.de

Ingo Siegner: Der kleine Drache Kokosnuss bei den wilden Tieren

Gemeinsam stark

Der kleine Drache Kokosnuss bei den wilden Tieren ist bereits der 25. Band der Abenteuerreihe, für mich war es jedoch der erste. Zwei positive Entdeckungen habe ich gleich zu Beginn gemacht: Erstens kann man ohne Probleme auch mit diesem Band einsteigen, weil alle notwendigen Erläuterungen eingeflochten werden, und zweitens hatte ich überhaupt nicht den Eindruck, dass hier einfach noch ein weiterer Band an eine gut laufende Serie angehängt wird. Im Gegenteil strahlt das Buch eine große Schaffensfreude von Ingo Siegner aus, der sowohl für den Text als auch die Illustrationen verantwortlich ist.

Die Handlung spielt dieses Mal nicht zuhause auf der Dracheninsel, sondern vielmehr in Afrika. Dorthin begleiten der kleine Feuerdrache Kokosnuss und der Fressdrachenjunge Oskar ihren Austauschschüler, den Affenjungen Jojo mit der roten Brille, der ohne Punkt und Komma redet und immer wieder zum Luftholen ermahnt werden muss. In Jojos Heimat möchten sie nicht nur Abenteuer erleben und die dortigen Tiere kennenlernen, sondern auch ihre Freundin, das Stachelschwein Matilda besuchen, die im Gegenzug bei Jojos Familie wohnt. Die Erlebnisse mit den Löwen, Nashörner und Büffeln in der Savanne sind noch vergleichsweise harmlos, aber als sie den großen Stinkstiefel des Regenwalds, die Übelgurke schwarzer Panther treffen, ist nicht nur Matilda in Lebensgefahr, denn er droht, alle die vier Freunde zum Abendessen zu verspeisen. Ein Glück, dass Kokosnuss nicht nur eine Idee, sondern gleich auch noch einen Plan B hat…

Neben der spannenden Abenteuerhandlung hat mir vor allem das Spiel mit den Sprichwörtern, bekannten wie erfundenen, Spaß gemacht. Die Witze sind einerseits kindgerecht, doch kommen durchaus auch die erwachsenen Vorleser auf ihre Kosten. Die Moral der Geschichte, dass mehrere Kleine vereint und mit Einfallsreichtum auch gegen scheinbar übermächtige Gegner ankommen und am Ende sogar alle zufrieden sein können, ist sehr geschickt in die Geschichte verpackt, genauso wie einige interessante Informationen über die Tiere Afrikas. Die unterschiedlich großen, detailreichen, fröhlich-bunten Illustrationen machen Lust auf kleine Entdeckungen über den Text hinaus.

Ich kann diesen Band ohne Einschränkungen zum Vorlesen für das Kindergartenalter, zum Selberlesen bei einer beachtlichen Textmenge, jedoch in großer Schrift, für geübte Leser ab der zweiten Klasse empfehlen.

Ingo Siegner: Der kleine Drache Kokosnuss bei den wilden Tieren. cbj 2017
www.randomhouse.de

Elena Ferrante: Die Geschichte des verlorenen Kindes

Ein exzellenter Abschluss der Neapolitanischen Saga

Mit Bedauern und ein bisschen Wehmut habe ich nach gut 2200 Seiten den vierten und letzten Band von Elena Ferrantes Neapolitanischer Saga zugeklappt. Von der Kindheit in den 1950er-Jahren an habe ich die beiden ungleichen Freundinnen Elena und Lila bis etwa 2010 begleitet, als Lila ihr lange angekündigtes Verschwinden in die Tat umsetzte. Den ersten Band, Meine geniale Freundin, über die Kindheit der beiden habe ich verschlungen und auch Band zwei, Die Geschichte eines neuen Namens, hat mir ausgezeichnet gefallen. Bei Band drei, Die Geschichte der getrennten Wege, der größtenteils nicht in Neapel spielt, habe ich mich aufgrund einiger Längen etwas schwerer getan, aber mit Band vier, Die Geschichte des verlorenen Kindes, ist Elena Ferrante in meinen Augen ein ausgezeichneter Abschluss gelungen. Das liegt vor allem daran, dass mit der Rückkehr Elenas zunächst nach Neapel, dann sogar in den Rione, alle früheren Fäden wiederaufgenommen werden und man erfährt, wie es den Kameraden aus der Kindheit weiter erging. Außerdem bewegt in diesem Teil Lilas Schicksal tief, ihr nach einem großen Unglück unstillbarer Schmerz, der letztlich in ihr (fast) vollkommenes Verschwinden mündet.

Wie zuletzt in Band eins sind auch im Abschlussband wieder beide Freundinnen auf dem Cover zusammen abgebildet. Nachdem Elena, inzwischen erfolgreiche Schriftstellerin, Vorreiterin der Frauenbewegung und berufstätige Mutter zweier Töchter, ihren Mann und Florenz 1979 für ihre Jugendliebe Nino Sarratore verlassen hat und in ihren Geburtsort zurückgekehrt ist, sind die beiden Freundinnen und Rivalinnen wieder vereint. Beide erwarten zur selben Zeit ein Kind, stehen gemeinsam das große Erdbeben von 1980 durch und nach den Geburten von Imma und Tina ziehen sie ihre fünf Kinder gemeinsam auf. Wie von ihrer Ex-Schwiegermutter und Lila prophezeit, erweist Nino sich als Frauenheld, der seine Ehe nicht aufgibt, seine Frau erneut schwängert und seine Geliebten vor allem nach der Nützlichkeit ihrer Kontakte wählt. Als Elena ihm unter großer Trauer endgültig den Laufpass gibt, geht sie in den Rione zurück und bezieht die Wohnung direkt über Lila. Eine Zeit relativer Ruhe kehrt ein bis zu jenem denkwürdigen Tag im September 1984, der alles verändert.

Elena Ferrante hat in die Geschichte um Elena und Lila wieder die politische und gesellschaftliche Entwicklung Italiens eingewoben, den Terrorismus, die mafiösen Strukturen, die Verbreitung von Drogen, die abgehobenen diskutierenden linken Bildungseliten, die Frauenbewegung und den Kampf der Parteien um die Macht. Doch in erster Linie habe ich diesen Band als Biografie zweier gegensätzlicher Frauen und einer ebenso strahlenden wie finsteren Freundschaft regelrecht verschlungen. Dass ich nie am Wahrheitsgehalt von Elenas Worten gezweifelt habe, liegt an der bewusst nüchternen Sprache, die Elena Ferrante gewählt hat. Dies sowie die gelungene Gesamtkomposition, die durch den vierten Teil perfekt abgerundet wird, sind die herausragenden Kennzeichen dieses Werkes. Dank und Anerkennung gebührt darüber hinaus Karin Krieger, die zwei Jahre an der Übersetzung der Tetralogie gearbeitet hat.

„Wozu sind nun alle diese Seiten gut gewesen?“ fragt Elena im Epilog. Zum ersten hat sie das zu Beginn des ersten Bandes gesetzte Ziel erreicht, Lila nach ihrem plötzlichen Verschwinden dem Vergessen zu entreißen – trotz ihres Versprechens, nie über sie zu schreiben. Und zweitens hat sie mich und viele Millionen Leser auf der ganzen Welt damit aufs Beste unterhalten.

Elena Ferrante: Die Geschichte des verlorenen Kindes. Suhrkamp 2018
www.suhrkamp.de

Kazuo Ishiguro: Was vom Tage übrig blieb

Bilanz eines Butlerlebens

Vieles hat sich seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Leben des altgedienten Butlers Stevens auf dem englischen Landsitz Darlington Hall verändert. Auf Lord Darlington, dessen Familie über 200 Jahre im Besitz des Gutes war, ist ein amerikanischer Eigentümer gefolgt. Neuartige Pflichten, ein leichterer Umgangston und ein auf ein Minimum reduzierter Stab von Bediensteten stellen völlig neue Anforderungen an ihn, denen er sich als Mensch mit einer natürlichen Abneigung gegen Veränderungen nur schwer gewachsen fühlt.

Im Juli 1956 schlägt sein neuer Arbeitgeber ihm vor, während seiner Abwesenheit eine kleine Reise zu unternehmen, und gestattet ihm sogar die Nutzung seines Automobils. Nach längerem Zögern nimmt Stevens an und beschließt, die in den 1930er-Jahren als Haushälterin in Darlington Hall beschäftigte Miss Kenton in Cornwall zu besuchen und eventuell zu einer Rückkehr zu bewegen. Die sechstägige Reise ohne dienstliche Verpflichtungen gibt ihm die Zeit, über sein Leben, verpasste Gelegenheiten, seinen Stolz auf die geleistete Arbeit in einem vornehmen Haus, in dem die Großen ein und ausgingen und er der Narbe am Rad der Geschichte oft sehr nahe kam, aber auch über seine bedingungslose Loyalität zu einem Dienstherrn, der auf zweifelhafte Weise in die Politik zwischen den Weltkriegen verstrickt und nach 1945 ein gebrochener Mann war, nachzudenken. Und immer wieder beschäftigen ihn auch seine beiden Lieblingsthemen: die Würde des Butlers und die Frage, wann ein Butler ein Großer seines Fachs ist.

Gert Heidenreich ist für mich einer der besten deutschen Hörbuchsprecher, so auch bei dieser glücklicherweise ungekürzten Lesung von Kazuo Ishiguros Roman „Was vom Tage übrig blieb“ mit etwa zehn Stunden auf acht CDs, in denen er dem Butler seine Stimme leiht. Vor allem bei den Dialogen zeigt er sein großes Können, aber auch bei den ungewollt komischen Szenen des Berichts. Obwohl der Funke bei mir noch nicht von Beginn an übergesprungen ist, denn ich musste mich an die äußerst umständliche, verlangsamte Denk- und Erzählweise von Stevens erst gewöhnen, hat mich die Tragik seines verpassten Lebens und der bedingungslosen Unterordnung immer mehr gepackt. Mehrfach musste ich an Mr. Carson, den Butler auf Downton Abbey, denken, der wohl ähnlich empfand und formulierte wie Stevens, aber eine ungleich leichtere Aufgabe hatte. Beide verkörpern für mich den englischen Butler schlechthin, loyal bis zur Selbstaufgabe.

Kazuo Ishiguro, geboren 1954 in Nagasaki und britischer Schriftsteller japanischer Herkunft, hat 2017 den Literaturnobelpreis unter anderem für diesen außergewöhnlichen Roman erhalten, der 1989 bereits mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurde. Wer Spaß an den feinen Nuancen der Sprache, Sinn für das britische Lebensgefühl und ein bisschen Ausdauer hat, wird dieses Hörbuch garantiert mögen.

Kazuo Ishiguro: Was vom Tage übrig blieb. Gelesen von Gert Heidenreich. Random House Audio 2017
www.randomhouse.de

Jessie Sima: Das kleine Walhorn

Zwei Welten

Nach Emmi und Einschwein von Anna Böhm aus dem Oetinger Verlag gibt es jetzt im Loewe Verlag Das kleine Walhorn von Jessie Sima. Beide Titel nehmen das gerade so beliebte Einhorn-Thema auf, gehen aber wesentlich kreativer, humorvoller und vor allem kitschfreier damit um als die einschlägigen Mädchenbuch-Serien.

Wer wünscht sich nicht eine so entspannte Familie, die angesichts des ganz und gar aus der Art geschlagenen Nachwuchses so cool bleibt? Nori, der kleine Narwal-Sohn, hat einen viel zu kurzen Stoßzahn, das Narwal-Essen schmeckt ihm nicht und er ist ein lausiger Schwimmer. Doch nachdem es seine Familie nicht stört, beschließt Nori, dass auch ihm seine Andersartigkeit nichts ausmacht.

Vielleicht wäre es immer so weitergegangen, wenn Nori nicht eines Abends von einer Strömung erfasst worden wäre, die ihn Richtung Land spülte. Und was stand dort auf dem Felsen vor dem Vollmond? Ein geheimnisvolles Glitzerwesen, das genau aussah wie er. Ein Land-Narwal?

Das bezaubernd illustrierte Bilderbuch von Jessie Sima, in dem alle Tiere stets ein Lächeln auf den Lippen tragen, bringt bereits Kindern ab drei Jahren die Themen Toleranz, Identität, Zugehörigkeit und Familie auf sehr verständliche, kindgerechte Weise nahe. Die teils großformatigen, teils wie eine Filmsequenz gezeichneten Illustrationen passen wunderbar zu den kurzen, oft witzigen Texten und Sprechblasen. Ein ebenso einfaches wie geniales Happy End sorgt dafür, dass Nori sich nicht zwischen Meer und Land entscheiden muss. Auf einer Doppelseite am Ende des Buches vereinen sich das Beste und Witzigste aus dem Meer und vom Land – allein für diese wimmelige Illustration lohnt sich das Vorlesen und Anschauen schon!

Jessie Sima: Das kleine Walhorn. Loewe 2018
www.loewe-verlag.de

Johan Bargum: Nachsommer

„Nachher sieht alles gleich anders aus“

Das ungleiche Brüderpaar Olof und Carl Axelsson steht im Mittelpunkt des kleinen Romans von Johan Bargum, geboren 1943 und einer der bekanntesten finnlandschwedischen Autoren. Mit sparsam gesetzten Worten und in kleinen, einfachen Sätzen erzählt der Ich-Erzähler Olof von der Wiederbegegnung mit Carl am Totenbett der Mutter nach langem Schweigen. In den späten Augusttagen, während die Mutter im Ferienhaus auf Vidarnäs, einer Schäre im Gürtel von Sibbo, dahinsiecht, rekapituliert Olof mit wenigen Strichen  sein ganzes bisheriges Leben. Nach dem frühen Tod des Vaters stand er immer im Schatten seines jüngeren, aber ab der Pubertät größeren, stärkeren, charmanteren und durchsetzungsfähigeren Bruders, der von der Mutter stets bevorzugt wurde. Carl erinnerte sie an ihren Mann, weswegen sie ihn stets gegen Olof verteidigte, ihn über die Maßen beschützte, ihn aber auch mit ihrer Liebe erdrückte und einengte, eine unheilvolle Beziehung. Olof hatte und hat eine Höllenangst vor dem Bruder, ließ sich von ihm den Schneid abkaufen und fasste auch nach dem frühen Weggang aus dem Elternhaus nie richtig Fuß im Leben. Während Carl erfolgreich die Handelshochschule absolvierte, Karriere in der IT-Branche in den USA machte und heiratete, brach Olof sein Studium ab, hatte halbherzige Affären, litt unter den eigenen Schwächen und seinem Phlegma. Nur einmal hätte er seinem Leben vielleicht eine andere Wendung geben können, doch damals, vor dreizehn Jahren, hat er aus Feigheit und Angst gekniffen und Carls Verlobte Klara, mit der er drei unvergessliche Tage und Nächte verbracht hatte, mit dem Bruder in die USA auswandern lassen.

Johan Bargums Roman Nachsommer ist eine der kleinen Perlen des Literaturbetriebs, nach denen ich immer suche, die aber so schwer zu entdecken sind. Wieder einmal ist es ein Buch aus Skandinavien, herausgegeben vom mareverlag, nach Eis der Finnlandschwedin Ulla-Lena Lundberg die zweite Übersetzung von Karl-Ludwig Wetzig, die mich so stark berührt und eine so große Schönheit ausstrahlt. Die melancholische Atmosphäre der spätsommerlichen Schärenlandschaft, die leise Schilderung großer Gefühle in verdichteter Erzählweise mit Raum für eigene Deutungen,  die Aufdeckung von Lügen und das Erkennen eigener Unzulänglichkeiten liefen wie ein Film vor meinen Augen ab.

Erzählt wird nicht, wie es nach diesen Spätsommertagen weitergeht, sondern nur, unter welchen veränderten Vorzeichen es weitergeht. Einige Parameter im Leben der Protagonisten sind andere geworden, aber ob sie etwas daraus machen können, bleibt unserer Fantasie überlassen.

Johan Bargum: Nachsommer. mare 2018
www.mare.de