Botho Strauß: Herkunft

Erinnerungsminiaturen

Kurz vor seinem 70. Geburtstag hat der deutsche Schriftsteller und Dramatiker Botho Strauß ein sehr privates Buch über seine Kindheit, vor allem aber über seinen Vater veröffentlicht. Es sind kleine Erinnerungsminiaturen, Gedankensplitter, die den Vater, für den er sich als Kind und Jugendlicher oft geschämt hat, weil er „anders“ war, rehabilitieren. Anlass für das Zusammentragen dieser Splitter waren der posthum begangene 100. Geburtstag des Vaters im Jahr 1990 und der Umzug der Mutter ins Altersheim 1996. Letzterer ging einher mit der Auflösung der seit 42 Jahren angemieteten Wohnung in Bad Ems, Römerstraße 18, dritter Stock, die am Ende der beiden Kapitel des knapp 100 Seiten umfassenden Büchleins thematisiert wird.

Der Vater wurde 1890 in Merzig/Saar geboren. Das Medizinstudium musste er nach dem Tod seines Vaters aufgeben, damit platzte ein erster Lebenstraum und er wurde Pharmazeut. Als 24-Jähriger zog er freiwillig für das Kaiserreich in den Ersten Weltkrieg und kehrte als Kriegsversehrter mit nur noch einem Auge und als Pazifist zurück. In Naumburg brachte er es zu einer halben Firma, die ihm, dem Nazigegner, von den Kommunisten in der SBZ abgenommen wurde. Ab 1955 im Kurörtchen Bad Ems lebend, konnte er nie wieder an frühere Erfolge anknüpfen, wurde menschenscheu, schwermütig und einsam. Botho Strauß beschreibt ihn als „Mann von altem Ibsen-Format“, dem Umgangsformen, „Figur machen“ und der streng geregelte Tagesablauf Lebensinhalt waren. Der Vater starb 1971, vom Sohn zunächst nicht sehr betrauert, doch nun, selbst in vorgerücktem Alter, erkennt er die Gemeinsamkeiten und die Prägung, die er seiner Herkunft und seinem Vater verdankt, und würdigt dessen Unbeugsamkeit.

Beim Lesen dieses Büchleins erging es mir ähnlich wie vor einigen Jahren bei Jean-Paul Sartres Die Wörter: Ich bewundere die Sprache mit dem oftmals altmodischen Vokabular, ich habe große Achtung vor den sehr privaten Erinnerungen, aber ich komme den beschriebenen Personen leider nicht nahe, nicht dem Sohn, schon gar nicht der im Hintergrund bleibenden Mutter, aber auch nicht dem Vater. Außerdem ist mir die Verklärung der Vergangenheit grundsätzlich suspekt, aber ich bin eben auch noch nicht 70.

Botho Strauß: Herkunft. dtv 2016
www.dtv.de

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