Hanya Yanagihara: Ein wenig Leben

Man kann nicht reparieren, was nicht zu reparieren ist

Fast hätte ich mich von dem jungen Mann mit dem schmerzverzerrten Gesicht auf dem Cover, den annähernd 1000 Seiten und dem Gewicht von einem Kilogramm abschrecken lassen. Hätte ich zusätzlich noch gewusst, wie der Titel Ein wenig Leben zu erklären ist, ich hätte das Buch wahrscheinlich nicht gelesen und damit eines der eindrücklichsten, erschütterndsten und emotional bis ans Limit und darüber hinausgehenden Leseerlebnisse verpasst. Daher meine Empfehlung: keine Rezensionen vorab lesen, je weniger man über den Inhalt des Buches weiß, desto ergreifender die Lektüre.

Nicht vom Tellerwäscher zum Millionär, sondern vom Findelkind zum Staranwalt schafft es Jude St. Francis, der deutlich mehr als seine drei Freunde Willem, Malcolm und JB im Mittelpunkt des Romans steht. Auf den ersten 100 Seiten sind die Anteile noch annähernd gleich verteilt und man liest über diese vier jungen Männer unterschiedlicher Herkunft, die unzertrennlich sind, seit sie ab 16 Jahren ein Collegezimmer geteilt haben, und nun mit Mitte 20 zielstrebig in New York Karriere machen. Jude hat ein glänzendes Jurastudium absolviert und nebenbei noch Mathematik studiert, Willem träumt von einer Schauspielerkarriere, Malcolm ist auf dem Weg zum Stararchitekt und JB Künstler. Vier aufstrebende junge Männer und doch ist einer anders: Jude, der nie über seine Herkunft und seine ersten 15 Jahre spricht, der unter Schmerzattacken leidet, der hinkt, der seinen Körper verhüllt und über dem ein Schatten zu liegen scheint: „Er konnte sich nicht erinnern, als Kind ein Bewusstsein dafür gehabt zu haben, was Glücklichsein bedeutete: Er hatte nur Elend und Angst gekannt und die Abwesenheit von Elend und Angst, und Letzteres war alles, was er gebraucht oder gewollt hatte.“

Im Gegensatz zu seinen Freunden, denen er sich nie öffnen wird, erfährt der Leser Stück für Stück von Judes unvorstellbaren Kindheits- und Jugendqualen. Die große Erzählkunst der 1974 in Los Angeles geborenen Autorin hawaiianischer Abstammung Hanya Yanagihara liegt darin, dass ich mir beim Lesen dieser bruchstückhaften Erinnerungen nicht wie eine Voyeurin vorgekommen bin, und dass die geschilderten Erlebnisse für den Leser überhaupt zu ertragen sind.

Diesen durch und durch entsetzlichen Jahren stellt die Autorin Judes Leben ab seinem Eintritt ins College gegenüber: vier Jahrzehnte geprägt von einem fast schon sensationellen beruflichen und materiellen Aufstieg, von der tiefen Freundschaft zu seinen Collegekollegen, seinem Glück mit seinem Arzt Andy, der immer für ihn da ist, der Adoption durch seinen ehemaligen Professor Harold und dessen Frau Julia und schließlich seine zum platonischen Liebesverhältnis gewordene Beziehung zu seinem Freund Willem. Müsste eine solche Menge glücklicher Fügungen nicht ausreichen, um eine tief verletzte Seele zu heilen? Nein, sagt der Roman, denn Jude kann trotz aller Anstrengungen nie lernen zu vertrauen, er „rechnet ständig damit, getäuscht zu werden“. Er wird als „Form der Bestrafung und Reinigung“ immer zum Instrument der Selbstverletzung greifen, „um sein Leben unter Kontrolle zu behalten“, wird sich weigern, einen Psychotherapeuten aufzusuchen und sich immer fragen: „Wenn er eines Tages auf magische Weise geheilt wäre und so frei von jeder Befangenheit gehen könnte wie Willem oder JB, wenn er sich in seinem Stuhl zurücklehnen und frei von Angst sein T-Shirt über seine Hüfte hinaufrutschen lassen könnte und seine Arme so glatt wie Zuckerguss wären wie Malcolms, was wäre er dann noch für Andy? Was wäre er für die anderen? Würden sie ihn weniger mögen? Mehr? Wie viel von dem, was ihn ausmachte, war mit dem verschränkt, was er nicht tun konnte? Wer wäre er ohne die Narben, Schnitte, die Schmerzen, die Wunden, die Knochenbrüche, die Infektionen, die Schienen und die Ausflüsse?“ Nicht nur den Leser, auch die Menschen, die ihn lieben, bringt Jude mit seinem Verhalten immer wieder an die Grenzen ihrer Leidensfähigkeit, und doch halten alle ihm die Treue.

Obwohl der Roman permanent auf ein schlechtes Ende hinsteuert und man früh erahnt, wie er ausgehen wird, hat mich die Autorin doch einige Male sehr überrascht. Ich habe ihr Buch verschlungen, habe gelitten, manchmal gehofft und sogar geweint. Lediglich den Satz „Es tut mir leid“ konnte ich irgendwann nicht mehr lesen, die permanente Wiederholung hat mich fast in den Wahnsinn getrieben, ohne dass ich einen tieferen Sinn darin erkennen konnte.

Einmal gelesen, wird dieser Roman unvergesslich für mich bleiben. Wenn das Wort „herzzerreißend“, das Harold einmal gebraucht, irgendwo angebracht ist, dann hier. Doch nicht nur der Autorin gebührt Anerkennung, auch der Übersetzer Stephan Kleiner hat vorzügliche Arbeit geleistet und der Hanser Berlin Verlag hat das Buch nahezu ohne Fehler gedruckt – eine Sorgfalt, die ich ausgesprochen schätze. Und auch das Cover passt im Nachhinein hervorragend zum Buch, wobei es nach der Lektüre für mich nicht mehr nur Schmerz, sondern auch Ekstase zeigt.

Hanya Yanagihara: Ein wenig Leben. Hanser Berlin 2017
www.hanser-literaturverlage.de/verlage/hanser-berlin

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