Das Wunder einer Blume nach langem Schnee

Was für ein Protagonist! Domenico ist mir sofort ans Herz gewachsen. Der Zwölfjährige aus einem Dolomitendorf ist klein und dünn für sein Alter, sommersprossig und mit wachem, offenem Blick, doch es fehlt ihm an Zuneigung. Seit dem Tod der Mutter vor zwei Jahren hat sich sein Vater, der mittellose Tischler Pietro Sieff, verändert, ist hart geworden, verschlossen und ungesellig. Für seinen Sohn hat er kein aufmunterndes Wort, nur Zornausbrüche und Ohrfeigen. Die schulischen Erfolge des intelligenten Jungen interessieren ihn nicht, auch nicht Domenicos Träume, der weiter zur Schule gehen möchte, Abenteuer bestehen und Heldentaten vollbringen will.
Doch eines Tages erhalten Vater und Sohn die Chance zum Heldentum: Ein Bär treibt seit einigen Montaten sein Unwesen und versetzt die Menschen in Angst und Schrecken. Kein gewöhnlicher Dolomitenbär, deren letzter 1931 erlegt wurde, soll er sein, sondern eine rotäugige Bestie mit infernalischem Brüllen und pestartigem Gestank, genannt El Diàol, der Teufel. Einen solchen Bären gab es 1882 schon einmal, Vorbote einer katastrophalen Überschwemmung. Keiner traut sich die Jagd zu, bis Pietro, der verachtete Trinker, mit dem Lebensmittelhändler eine Wette eingeht: eine Million Lire für das Fell des Bären. Pietro weiß, dass er damit für immer ausgesorgt hätte, aber nicht nur das Geld, auch der Wunsch nach Anerkennung treibt ihn, den Zugezogenen an. Und so marschieren Vater und Sohn im Oktober 1963 mit zwei alten Gewehren los, Pietro entschlossen und mit neuer Kraft, Domenico mit der Hoffnung auf Ruhm und darauf, die Achtung seines Vaters wiederherzustellen. Die vier Tage, die sie gemeinsam in der Wildnis verbringen, wird ihre Beziehung verändern, denn kaum aufgebrochen, wird der Vater ein anderer Mensch, umgänglich wie noch nie. Er erzählt Domenico von früher und von seiner Trauer um die Mutter, seit deren Tod er das Gefühl hat, „vom Himmel nur noch die Hälfte zu sehen“, verbindet ihm die wunden Füße, ruft ihn mit seinem Kosenamen Menego und bringt ihm das Schießen bei. „Es war als wären sie beide noch einmal zur Welt gekommen, als habe dieses gemeinsame Abenteuer ein kleines Wunder geschehen lassen. Das Wunder einer Blume nach langem Schnee. Ja, genauso fühlte und sah sich Domenico: wie ein zarter Blütenkelch, der sich nach monatelangen Schneefällen den Sonnenstrahlen öffnet. Und wie wärmten diese väterlichen Strahlen sein Herz.“
Jederzeit jedoch sind Vater und Sohn sich der Gefahr ihrer Unternehmung bewusst: „Sieg oder Untergang, alles oder nichts“, denn El Diàol verzeiht keinen Fehler und das Fell des Bären muss teuer erkauft werden.
Matteo Righetto, geboren 1972 und Dozent für Literatur, war mit seinem Debüt Das Fell des Bären in seiner Heimat Italien sehr erfolgreich. Der kurze, nur 160 Seiten umfassende Roman, ist eine eindringliche, bildreiche, klar und einfach erzählte Vater-Sohn-Geschichte, ein Bergroman mit sehr eindrücklichen Naturschilderungen und darüber hinaus eine ungeheuer spannende, überraschende und bisweilen gruselige Geschichte, die mich bei der Schilderung von Gerüchen und Geräuschen immer wieder hat erschauern lassen. Nach Paolo Cognettis Acht Berge ist es bereits mein zweiter beeindruckender italienischer Bergroman in diesem Jahr, hat mir aber literarisch noch besser gefallen.
Matteo Righetto: Das Fell des Bären. Blessing 2017
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Wer mehr über das Leben, aber auch die Kunst der expressionistischen Malerin Gabriele Münter (1877 – 1962) erfahren möchte, ist mit dem biografischen Roman Die Malerin von Mary Basson gut bedient. Die Autorin, die im Milwaukee Art Museum mit der größte Münter-Sammlung Nordamerikas arbeitet, spürt dem Leben der Künstlerin von 1902 bis 1957 streng chronologisch nach. Dazwischen sind Bildbeschreibungen eingestreut, zwar ohne die Werke abzudrucken, aber diese lassen sich leicht im Internet auf der Homepage des Milwaukee Art Museum oder des Lenbachhauses München finden. Ich habe sie zum besseren Verständnis ausgedruckt und in mein Buch gelegt.
Als der britische Kinderbuchautor Michael Bond am 27. Juni 2017 im Alter von 91 Jahren starb, wurde er in allen Nachrufen als Schöpfer von Paddington Bär gefeiert. In unserer Familie war dagegen immer eine andere Figur Bonds prägend, die er ab 1971 schuf: die Meerschweindame Olga da Polga. Wir waren daher sehr glücklich, als der Verlag Thienemann die Geschichten dieses abenteuerlustigen, fantasievollen, mutigen und liebenswerten Tieres im Jahr 2015 als wunderschön gestalteten, fadengehefteten Hardcover-Band wieder aufgelegt hat, versehen mit herausragenden Illustrationen von Catherine Rayner, die nicht nur das Aussehen, sondern auch die Seele und den Charakter der Tiere wiederzugeben versteht.
Der 23. August spielt eine bedeutsame Rolle im Leben der Familie Idrissi: Am 23.08.1968 hat der Korse Paul Idrissi seine Frau Palma kennengelernt, die auf dem Campingplatz von La Revellata ihr Zelt aufgeschlagen hatte und ihn schließlich seinem Clan und der Insel entrissen und mit nach Nordfrankreich genommen hat. Genau 21 Jahre später, am 23.08.1989, verunglückt die inzwischen vierköpfige Familie beim Urlaub auf Korsika mit ihrem roten Fuego und nur die 15-jährige Tochter Clotilde überlebt. 27 Jahre später kehrt sie zurück, nun selber verheiratet und mit einer 15-jährigen Tochter, um ihre Großeltern wieder zu sehen, um ihrer Familie Korsika und die Unglücksstelle zu zeigen, und um Licht ins Dunkel des Unfalls zu bringen, was ihr schließlich am 23.08.2016 gelingt – bei einem furiosen Finale… Doch bis dahin wird der Aufenthalt für sie immer surrealer, denn sie erhält mit einem „P.“ unterzeichnete Briefe, die eigentlich nur ihre Mutter geschrieben haben kann, die ungewöhnlichen Zufälle häufen sich und jemand scheint ein Spiel mit ihr zu spielen. Während ihr Mann, der nur an Effizienz und Rationalität glaubt, versucht, sie von weiteren Nachforschungen abzuhalten, taucht Clotilde immer weiter in die Geheimnisse der Vergangenheit ein und ahnt nicht, dass jemand die Aufdeckung der Wahrheit unter allen Umständen verhindern will. Hätte sie nur ihr Tagebuch aus jenem Sommer 1989 noch, dem sie damals alles über die Jugendclique auf dem Campingplatz, große Emotionen, die Konflikte mit ihrer Mutter, die Entdeckungen über ihren Vater und die Streitereien der Eltern anvertraut hat, doch das war nach dem Unfall spurlos verschwunden.
Bestechend an diesem Roman ist zunächst das Äußere. Der Hanser Verlag hat mit dem auffällig gestalteten Wendecover, schöner als das der Originalausgabe, dessen Motiv sich während der Lektüre erschließt, dem orange eingefärbten Schnitt, der das Buch beim ersten Lesen sanft und angenehm knistern lässt, und dem künstlerisch bedruckten Vorsetzblatt ein kleines Meisterwerk geschaffen, das man deshalb nicht als E-Book lesen sollte. Schade nur, dass die Zahl der Druckfehler verblüffend hoch ist, was vermutlich dem Zeitdruck geschuldet ist, denn die deutsche Ausgabe erschien nur einen Monat nach dem amerikanischen Original. Der Roman wird das erste Buch in einer limitierten Auflage mit Nummerierung in meinem Bücherregal sein, eine bibliophile Besonderheit.
Büchersterne ist die Reihe für Erstleser aus dem Oetinger Verlag, die für Lesespaß in drei Stufen sorgen soll. Der vorliegende Band Millie übernachtet in der Schule von Dagmar Chidolue gehört zur leichtesten Kategorie für die erste Klasse, ist in sehr großer Fibelschrift und im Flattersatz mit sehr kurzen Zeilen gedruckt, hat kurze Leseabschnitte, ist in sechs Kapitel unterteilt mit textunterstützenden und sehr klaren Illustrationen von Gitte Spee und bietet auf 12 Doppelseiten am Ende viele abwechslungsreiche Rätselangebote mit Lösungen.
John B. Keane (1928 – 2002) gehört zu den beliebtesten Dramatikern Irlands. Er war Bühnenschriftsteller, Dichter, Romanautor und verfasste humorvolle Kurzgeschichten, wobei ihn zu letzteren bestimmt Erlebnisse im Familien-Pub in der ländlich-irischen Grafschaft Kerry inspirierten, den er zusammen mit seiner Frau führte.
Der Norweger Andreas Tjernshaugen ist zwar kein studierter Ornithologe, doch wurden ihm das Interesse und die Liebe zu den Vögeln in die Wiege gelegt. Gerade die Tatsache, dass er Laie ist und dies auch betont, macht sein Sachbuch über Meisen so allgemein verständlich und gut lesbar.