Petri Tamminen: Meeresroman

„Gegen den Rückschritt gibt es nur ein Mittel: immer wieder von vorn anfangen.“ (Teresa von Avila, 1515 – 1582)

Die Entdeckung dieses Romans verdanke ich der persönlichen Empfehlung einer Mitarbeiterin des mareverlags auf der Frankfurter Buchmesse 2017. Es ist eine kleine Perle des Literaturmarkts, die ich sonst vielleicht übersehen hätte, deshalb bin ich überaus dankbar für den Hinweis!

Schon äußerlich besticht das kleine Büchlein durch seine zurückhaltende, sehr hochwertige Gestaltung. Der geprägte Einband in den Farben grau, schwarz und orange, die beiden Segelboot-Silhouetten auf den schier unendlichen Wellen, das graue Lesebändchen, der Farbschnitt in orange, die Typografie und besonders die seltene Fadenheftung machen diesen Roman zu einem der am schönsten gestalteten Büchern in diesem Jahr. Auf keinen Fall sollte man hier zum E-Book greifen, man würde sich um großes haptisches Vergnügen bringen!

Petre Tamminen, finnischer Autor und geboren 1966 in Helsinki, erzählt in Meeresroman die Lebensgeschichte des Vilhelm Huurna aus Askainen in der Nähe von Turku. Ein Schiffbruch mit einer Jolle als 16-Jähriger hält ihn nicht davon ab, das Kapitänspatent zu erwerben. Fünf weitere Schiffe verliert er im Laufe seines Lebens, empfindet jedes Mal zuerst ein Erschrecken über die Unvollendetheit seines Lebens und dann das Glück, wieder einmal lebend davongekommen zu sein: „Die Schiffe waren untergegangen, nicht er.“ Immer wieder kehrt er geschlagen per Schiff, mit dem Zug oder zu Fuß nach Hause zurück, geplagt von Selbstzweifeln und mit dem festen Vorsatz, das Leben auf dem Meer aufzugeben, was seine Geldgeber, die Hofherren, die ihm nie die Unterstützung entziehen, zu verhindern wissen. Doch nicht nur das Seepech heftet an ihm, auch privat hat der linkische, schüchterne Mann kein Glück. Aber was heißt eigentlich überhaupt Glück?

Mich hat dieses zugleich melancholische wie Mut machende Büchlein beeindruckt wie vor einigen Jahren Robert Seethalers Ein ganzes Leben. In beiden Romanen wird ein höchst dramatisches Lebensschicksal in einer sehr klaren, reduzierten Sprache ganz undramatisch erzählt, genau wie die unspektakulären Titel es versprechen. Bei Meeresroman trägt nicht zuletzt die gelungene Übersetzung von Stefan Moster, den ich auch als Autor schätze und der hier zurecht bereits auf dem Einband genannt wird, zu einem rundum beeindruckenden Leseerlebnis bei. Es ist eines der Bücher, die im Gedächtnis bleiben.

Petri Tamminen: Meeresroman. mare 2017
www.mare.de

Torsten Seifert: Wer ist B. Traven?

Auf den Spuren eines Mythos

Schriftsteller, die unerkannt bleiben wollen, gibt es nicht erst seit Elena Ferrante, auch früher gab es bereits Autoren, die durch Verschleierung ihrer Identität zum Mythos wurden. Ein solches Geheimnis der Literaturwelt ist der Verfasser der im 20. Jahrhundert sehr erfolgreichen Romane Das Totenschiff und Der Schatz der Sierra Madre, der sich B. Traven nannte.

Die spannende Frage ist dabei natürlich, warum uns die Person hinter dem Buch so sehr interessiert, dass Belohnungen zu ihrer Identifizierung ausgesetzt werden und sich heute wie damals Journalisten und Hobbydetektive aufmachen, um das Geheimnis zu lösen. Warum reicht es uns eigentlich nicht, die Bücher zu lesen und für gut oder schlecht zu befinden, warum brauchen wir unbedingt ein Gesicht dazu?

In Torsten Seiferts 2017 mit dem Blogbuster-Preis der Literaturblogger ausgezeichnetem Abenteuerroman Wer ist B. Traven? versucht der junge amerikanische Journalist mit jüdisch-deutschen Wurzeln Leon Borenstein das Rätsel um B. Traven, um den sich „ein Sack voller Theorien und Gerüchte“ ranken, zu entschlüsseln. Zunächst ist es ein rein beruflicher Auftrag, eher halbherzig begonnen, der jedoch im Laufe seiner Recherchen zu einer Mission auf eigene Faust wird: „Jetzt aufzugeben war keine Option, dafür hatte ihn das Traven-Geheimnis längst viel zu tief in seinen Bann gezogen.“ Nicht zuletzt möchte er mit einem Ermittlungserfolg auch María beeindrucken, eine geheimnisvolle, schöne junge Frau, die er am Ort seiner ersten Nachforschungen kennen- und lieben gelernt hat: am Drehort des später mit Oscars ausgezeichneten Films „Der Schatz der Sierra Madre“ in Mexiko 1947, wo sie ihn noch mehr fasziniert als der Regisseur John Huston oder sein Schachpartner in Drehpausen Humphrey Bogart. Wien und wieder Mexiko sind die Orte, an denen Leon das Geheimnis zu lüften versucht, immer in dem Wissen, dass andere vor ihm dieses Vorhaben mit ihrem Leben bezahlt haben. Er begegnet vielen Legenden, die sich um den Mythos ranken, trifft auf Menschen, die bestrebt sind, die Anonymität Travens zu wahren und solche, die ihm zu helfen scheinen – bis zum überraschenden und gefährlichen Showdown.

Torsten Seifert ist tief in die rätselhafte Materie eingedrungen, verwebt zahlreiche Gerüchte und Spuren in seinen abenteuerlichen Roman und lässt in einer Mischung aus Fiktion und Wahrheit seinen fiktiven Helden Leon immer wieder in Sackgassen landen. Parallel zur Lektüre habe ich mir eine sehr interessante Dokumentation der BBC zum Fall Traven im Internet angesehen, die ganz wesentlich zum Verständnis des Romans und zur Übersicht über das nicht immer ganz leicht zu durchschauende Geschehen beigetragen hat.

Insgesamt hat mir die Lektüre größtenteils Spaß gemacht und ich habe einiges über den mir bis dahin unbekannten Autor B. Traven erfahren. Die Stärke von Torsten Seifert liegt für mich in der Schilderung unterschiedlichster Schauplätze. Die Faszination Leons für die Aufdeckung von Travens Identität hat sich dagegen nicht vollständig auf mich übertragen.

Torsten Seifert: Wer ist B. Traven? Tropen 2017
www.klett-cotta.de

Paul Maar: Das Sams feiert Weihnachten

Frohe Weihnachten mit dem Sams!

Das Sams hat meine drei Kinder nicht nur durch die Kindheit begleitet und uns Eltern großen Spaß gemacht, es hat bis heute einen Ehrenplatz im Bücherschrank und jeder neue Band wird weiterhin ergänzt, auch wenn inzwischen alle erwachsen sind, denn aus dem Sams-Alter wächst man einfach nie hinaus! Deshalb war die Freude darüber, dass Paul Maar auch mit 80 noch einen neuen Band geschrieben hat, riesengroß. Der neue Teil Das Sams feiert Weihnachten schließt nicht an den achten und bisher letzten an, sondern könnte, so der Autor im Vorwort, im ersten Drittel des dritten Buches spielen, und damit zu einer Zeit, als das Sams gerade keine Wunschpunkte hatte.

„Geschichten höre ich über-ober-gerne“, sagt das Sams, und wir lesen einfach jede Sams-Geschichte über-ober-gerne, auch diese, die von Sams‘ erstem Menschen-Weihnachtsfest erzählt. Wir erleben, wie es kalt und regnerisch wird und das Sams nicht etwa etwas Warmes, sondern etwas Wärmendes zum Anziehen braucht, den ersten Schnee, Advent, Nikolaus, Plätzchenbacken, die Weihnachtsgeschichte und schließlich ein rundum gelungenes Weihnachtsfest, bei dem die Geschenke nicht im Vordergrund stehen und sogar Frau Rotkohl sympathisch wird. Das Sams reimt wie immer munter drauflos, nimmt alles super wörtlich, stellt herrlich witzige Fragen mit der gewohnt herzerfrischenden Naivität, verhindert, dass es zu sentimental wird und hat einen nicht zu stillenden Würstchenhunger. Kurzum: Alles wie immer.

Wirklich? Nein, leider nicht ganz, denn die inzwischen farbigen Illustrationen stammen nicht mehr von Paul Maar selbst, sondern von Nina Dulleck. Ihr ist die Gestaltung der Seiten mit Sternen, Würstchen, Tannenzweigen, Wassertropfen, Schneeflocken, Päckchen und den schlittenfahrenden Kindern sehr gut gelungen und in dieser Hinsicht macht es Spaß, den weihnachtlich gestalteten Text zu lesen. Aber das Sams ist nicht mehr das Sams, Herr Taschenbier nicht mehr Herr Taschenbier, Frau Rotkohl nicht mehr Frau Rotkohl und Herr Mon nicht mehr Herr Mon. Das bedauern wir ganz außerordentlich und hätten eine nachträgliche Kolorierung wie im Falle der Preußler-Bände, gerne auch mit Ergänzungen, für die wesentlich bessere Lösung gehalten. Unsere alten Bände mit den Originalillustrationen werden wir nun umso mehr in Ehren halten, selbstverständlich jedoch ohne deshalb auf die hoffentlich noch erscheinenden Folgebände zu verzichten!

Paul Maar: Das Sams feiert Weihnachten. Oetinger 2017
www.oetinger.de

Andrea Weller-Essers: Elefanten

Alles über die grauen Riesen

Band 86 Elefanten aus der Kinder- und Jugendsachbuchreihe Was ist was ist im Oktober 2017 in der inhaltlich und gestalterisch neu konzipierten Fassung erschienen. Die Autorin Andrea Weller-Essers hat Philosophie und Deutsch auf Lehramt studiert, ist also nicht wie früher bei der Reihe üblich „vom Fach“, sondern arbeitet als freiberufliche Redakteurin und Autorin für Kinder- und Schulbuchverlage. Verglichen mit den Bänden, die noch im Regal meiner inzwischen erwachsenen Töchter stehen, sind durch diesen Wechsel von Wissenschaftlern hin zu Pädagogen die Texte einfacher, verständlicher und kürzer geworden, der Zugang erfolgt vor allem über die teils groß-, teils kleinformatigen, sehr gut ausgewählten Bilder. Außerdem ist die Typografie nun moderner, bunter, abwechslungsreicher, aber trotzdem weiterhin sehr übersichtlich und keinesfalls unruhig. Wurden die Bände der Reihe früher meiner Erfahrung nach viel zu jungen Leserinnen und Lesern in die Hand gedrückt, besteht die Altersangabe „ab acht“ nun zu recht, denn die Kinder können anhand der Bilder selbst entscheiden, welche Texte sie lesen möchten.

Der Band Elefanten gliedert sich in vier am oberen Rand farblich abgesetzte Kapitel:

  • „Friedliche Riesen“ umfasst ein Interview mit dem Leiter des Elefantenreviers im Heidelberger Zoo, zeigt die Lebensräume der Tiere und die Steckbriefe der verschiedenen Elefantenarten, ihre anatomischen Besonderheiten und ihrer aktuellen und ausgestorbenen Verwandten.
  • In „Leben in der Herde“ geht es um die Verhaltensbiologie der Tiere.
  • „Elefanten und Menschen“ zeigt die Rolle der Elefanten in Asien und das Leben im Zoo.
  • Um die Themen Wilderei, Elfenbein, Nationalparks und Höhlenelefanten geht es in „Riesen in Not“.

Rekordliebhaber kommen bei den Zahlen auf ihre Kosten, Abschnitte wie „Schon gewusst“, „Fanny Fact“ oder „Angeberwissen“ heben spannende Details extra hervor. Ein kurzes Glossar am Ende rundet den sehr gelungenen Band wie üblich nach 48 Seiten ab. Kinder, Jugendliche und Erwachsene sind nach der unterhaltsamen Lektüre garantiert schlauer!

Andrea Weller-Essers: Elefanten. Tessloff 2017 (Was ist was. 86)
www.tessloff.com

Mavis Doriel Hay: Geheimnis in Rot

Der Santa-Klaus-Mord

Im Herbst 2016 erschien unter dem Titel Geheimnis in Weiß von Joseph Jefferson Farjeon (1883 – 1955) ein klassischer englischer Kriminalroman aus dem Jahr 1937 erstmals beim Verlag Klett-Cotta auf Deutsch in einer wunderschönen flexiblen Leinenausgabe mit Lesebändchen. In gleicher Aufmachung und wieder an den Weihnachtstagen spielend, gibt es nun ein Jahr später erneut einen Krimiklassiker erstmals auf Deutsch: Geheimnis in Rot von Mavis Doriel Hay aus dem Jahr 1936, der mir sogar noch eine Spur besser gefallen hat.

Gegen den Rat seiner Schwester Mildred hat Sir Osmond Melbury zum Weihnachtsfest 1935 wieder seine ganze Familie nach Flaxmere, dem gregorianischen Familiensitz aus dem 18. Jahrhundert in der Nähe von Bristol, beordert. Anwesend sind die fünf erwachsenen Kinder, eine Schwiegertochter, zwei Schwiegersöhne, der vom Vater abgelehnte Freund der jüngsten Tochter sowie der von ihm favorisierte Kandidat, die vor kurzem gegen eine jüngere, attraktive Haushälterin ausgetauschte und aus dem Haus verbannte Schwester des Familienoberhaupts, die ihm lange Jahre den Haushalt geführt und die Kinder versorgt hat, eben jene neue Haushälterin sowie diverse Enkel unterschiedlichen Alters. „Sie waren also alle da, fast alle mit einem guten Grund, Sir Osmond den Tod zu wünschen, wie wir später auf so unerfreuliche Weise feststellen mussten, und nur wenige mit einem Grund, ihm ein langes Leben zu wünschen“, notiert einer der Gäste später. Denn als alle fast schon aufatmen und es so aussieht, als ob alles gut verlaufen wäre, wird Sir Osmond, der wie immer so gekonnt eine Atmosphäre von Misstrauen, Unbehagen und Spannungen verbreitet hat, in seinem Arbeitszimmer erschossen aufgefunden. Colonel Halstock, ein alter Freund der Familie, nimmt mit seinen Untergebenen die Ermittlungen im Familien- und Bedienstetenkreis auf, eine schwierige Aufgabe, weil jeder irgendjemanden schützen oder irgendetwas verheimlichen will.

Mit Hilfe des glücklicherweise vorn und hinten im Buch abgedruckten Lageplans der Räume im Erdgeschoss von Flaxmere habe ich die Vernehmungen und Gedankengänge des Colonels verfolgt, bin mehrmals auf falsche Fährten gelockt worden und habe erst sehr spät die tatsächlichen Zusammenhänge durchschaut. Die solide Ermittlungsarbeit anstatt genialer Geistesblitze, ein Opfer, mit dem kaum jemand richtig Mitleid hat, die Erzählweise aus der Sicht verschiedener Anwesender und des Colonels sowie die Atmosphäre erzwungener Weihnachtsharmonie in einer Familie, in der man sich auseinandergelebt hat, sind die wohldurchdachten Zutaten zu diesem wunderbar englisch-altmodischen Krimi. Wie ein Schwarz-Weiß-Film lief das Geschehen vor meinen Augen ab und gipfelte im nachvollziehbaren Schlusssatz: „Bei den Melburys herrscht stillschweigendes Einvernehmen darüber, dass es keine weihnachtlichen Familientreffen in Flaxmere mehr geben wird“.

Bleibt zu hoffen, dass der Verlag Klett Cotta auch 2018 wieder eine solche weihnachtliche Krimiperle präsentiert!

Mavis Doriel Hay: Geheimnis in Rot. Klett-Cotta 2017
www.klett-cotta.de

Thomas Montasser & Stefanie Reich: Monsterhotel

Was für ein Urlaub!

Ein ganz gewöhnlicher Sommerurlaub in Griechenland sollte es werden, doch dann landen Mama und Papa Glockenspiel, Valentina, Nils und der Plüschhase Stinkebär aus Versehen in Island. Reykjavik statt Athen und dann noch die ungewöhnlichste Unterkunft aller Zeiten: Das Hotel Haarsträub macht seinem Namen alle Ehre. Winzig von außen entpuppt es sich als Hotel mit 178.899 Räumen und riesiger Halle, das Zimmer der Glockenspiels liegt weit oben, obwohl sie eindeutig nur abwärts gegangen sind, die Toilette hängt an der Decke, die Bilder können sprechen, im Schrank wohnt ein Zwerg mit Geige, die Speisekarte ist gewöhnungsbedürftig bis eklig und sowohl die Hotelangestellten wie die anderen Gäste sind Monster in allen Farben, Formen und Behaarungsvarianten. Während die Eltern von einem Schock in den anderen fallen und bereits über die Abreise nachdenken, findet Valentina ihre Umgebung immer spannender und hat keine Angst, im Gegensatz zu den Monstern, die mit Märchen über die gemeingefährlichen Menschen aufgewachsen sind. Und bekanntlich gruselt man sich am meisten vor dem, was man nicht kennt… Zum Glück kann Valentina diese Ängste ausräumen und der Urlaub wird doch noch ein Erfolg – Wiederholung nicht ausgeschlossen!

Das absolut schräge Kinderbuch Monsterhotel von Thomas Montasser hat mich durch die vielen lustigen Einfälle, die beeindruckend hohe Monsterdichte und die Situationskomik überzeugt. Die zahlreichen farbenfrohen, oft großformatigen Illustrationen von Stefanie Reich sind witzig und passen gut zum Ton der Geschichte. Zwar käme ein Urlaub im Monsterhotel alleine schon wegen der Speisekarte und der Währung in ekligen Popeln für die meisten wohl eher nicht in Frage, doch die Begleitung der sympathischen Familie und der friedlichen Monster macht Kindern ab sechs beim Zuhören und fortgeschrittenen Lesern ab etwa Klasse drei garantiert Spaß und regt die Fantasie an, egal ob Junge oder Mädchen.

Thomas Montasser & Stefanie Reich: Monsterhotel. Thienemann 2017 www.thienemann-esslinger.de/thienemann

Gaël Faye: Kleines Land


„Das Glück sieht man nur im Rückspiegel“

Gabriel, genannt Gaby, hat nach seiner Flucht aus dem Bürgerkriegsland Burundi Jahre gebraucht, um sich in Frankreich zu integrieren. Auch nach 20 Jahren ist er besessen vom Gedanken an eine Rückkehr: „Ich muss zurück. Und wenn auch nur, um klar zu sehen. Um ein für alle Mal abzuschließen mit dieser Geschichte, die mich verfolgt. Um für immer die Tür hinter mir zuzuschlagen.“ Und so macht er sich mit 33 Jahren auf den Weg zurück und erzählt seine Geschichte.

Die glückliche Kindheit endet für Gaby 1992. Er ist zehn Jahre alt, seine Schwester Ana sieben, als die Mutter die Familie verlässt. Als Tutsi aus Ruanda hat sie sich nie in Burundi wohlgefühlt, wo Armut, Ausgrenzung, Diskriminierung und Heimweh die täglichen Begleiter der Flüchtlinge sind. Die Ehe mit einem Franzosen war eine Liebesheirat, doch nun ist bei ihr nichts mehr davon übrig, denn die Eltern „teilen nur ihre Illusionen, nicht ihre Träume“. Die Mutter träumt vom sicheren Leben in Frankreich, der Vater liebt Afrika und genießt den Luxus und die Privilegien seiner Klasse.

Gaby besucht die französische Schule in Bujumbura, fühlt sich als Burundier, liebt seine Sackgasse und die Freunde dort und hält sich an die Maxime des Vaters, nach der Politik nichts für Kinder ist. Doch kann auch diese Vorgabe nicht verhindern, dass die Angst schleichend bei den Freunden in der Sackgasse Einzug hält und auch dort eine schleichende Radikalisierung Einzug hält. Die Hoffnung auf Demokratie und ein Ende der Staatsstreiche nach den Wahlen in Burundi vom Juni 1993 wird durch einen erneuten Putsch im Oktober mit anschließendem Bürgerkrieg zunichte gemacht. Der Abschuss des Flugzeugs mit den Staatsoberhäuptern Burundis und Ruandas im April 1994 gibt das Signal zur systematischen und methodischen Ausrottung der Tutsi in Ruanda und Gabys Mutter muss ohnmächtig der Abschlachtung ihrer in Ruanda verbliebenen Familienmitglieder zusehen und verliert darüber den Verstand. Als sich der Hass auch gegen die Franzosen richtet, lässt der Vater Gaby und Ana ausfliegen, wodurch sie gleichzeitig ihre Familie, ihre Freunde und ihr Land verlieren. Tausende von Kilometern trennen sie jetzt von Burundi und ihrem früheren Leben.

Auch wenn Kleines Land kein autobiografischer Roman ist, so hat Gaël Faye doch vieles von dem erlebt, über das Gaby berichtet. Er ist wie sein Protagonist 1982 geboren, sein Vater ist Franzose, seine Mutter eine ruandische Tutsi und er lebte lange Zeit in Frankreich, bevor er vor zwei Jahren mit seiner Familie nach Ruanda zog. Für seinen Debütroman hat er den Prix Goncourt des lycéens erhalten, den von der Jugendjury vergebenen französischen Literaturpreis.

Der Roman hat mir Einblicke in eine Welt eröffnet, die ich sonst nur aus Horrorberichten in Nachrichtensendungen kenne. Gaël Faye gibt dem Grauen ein Gesicht und macht den Schmerz Gabys über den Verlust von Heimat, Familie und Freunden auf sehr berührende Weise nachfühlbar. Er hat mich genauso bewegt wie vor einigen Jahren Andrea Hiratas Die Regenbogentruppe über eine Kindheit in Indonesien, wobei die Dramatik nicht vergleichbar ist. In beiden Fällen sind die Schicksale jedoch tief ergreifend erzählt, allerdings kann die sprachliche Qualität die inhaltliche jeweils nicht ganz erreichen.

Gaël Faye: Kleines Land. Piper 2017
www.piper.de

John Williams: Butcher’s Crossing

Auf Sinnsuche im Wilden Westen

Kurz nachdem ich Butcher’s Crossing von John Williams (1922 – 1994), seinen zweiten Roman aus dem Jahr 1960, der 2015 bei dtv erstmals auf Deutsch erschien, gelesen hatte, habe ich mir zusätzlich das Hörbuch besorgt und bin von der Umsetzung vollständig überzeugt. Die Übersetzung von Bernhard Robben hat in der gesprochenen Form noch stärker auf mich gewirkt, die Kürzungen sind behutsam und überlegt durchgeführt, die sieben CDs mit einer Laufzeit von 538 Minuten nicht zu lang und der Sprecher Johann von Bülow hat mich nach kurzer Gewöhnungsphase mit seinen Stimmmodulationen in Bann gezogen. Auch meine Befürchtungen, die so grausam beschriebenen Jagdszenen könnten sich vorgelesen als unerträglich erweisen, sind zum Glück nicht eingetreten, vielleicht, weil ich gut darauf vorbereitet war.

Der Protagonist Will Andrews aus bürgerlichem Milieu in Boston gibt 1873 sein Harvard-Studium im dritten Studienjahr auf und reist nach Kansas ins trostlose Präriestädtchen Butcher’s Crossing, das von Büffelfellen und der Hoffnung auf den Bau der Eisenbahn lebt. Antriebsfeder für ihn ist die Abenteuerlust, seine Sehnsucht nach Wildheit, nach Natur und Freiheit, und der Wunsch, sich auf diese Weise selbst zu finden. Weder die Warnungen des alten Fellhändlers, noch die der mütterlich-freundlichen Hure Francine, der einzigen Frauenfigur des Romans, die den Verlust seiner weichen Hände prophezeit, können ihn davon abhalten, mehr als die Hälfte seines Vermögens in einen eigenen Büffeljägertrupp zu stecken. Mit dem erfahrenen Jäger Miller als Führer, dem schrulligen Charley Hoge, einem etwas debilen Mann der Bibel und Alkoholiker, der Miller treu ergeben ist, und dem professionellen Häuter Fred Schneider bricht der vierköpfige Trupp auf zu einem der letzten Täler, in dem es laut Miller noch eine nennenswerte Anzahl von Büffeln geben soll. Auf dem Weg Richtung Westen droht ihnen und ihren Pferden und Ochsen der Tod durch Verdursten, doch unbeirrt und mit traumwandlerischer Sicherheit führt Miller sie in das Tal. Kaum angekommen, verfällt er in einen manischen Blut- und Jagdrausch. Längst ist die Zahl der Felle für eine erfolgreiche Jagd erreicht und der Wintereinbruch droht, doch Miller will nicht aufhören, bevor nicht die ganze Herde erlegt ist. So werden sie vom ersten Schneesturm überrascht und dazu gezwungen, weitere sieben Monate auszuharren. Erst Ende Mai kommt der geschrumpfte Trupp wieder in Butcher’s Crossing an, wo nichts mehr so ist, wie es bei ihrem Aufbruch war – eine bittere Erfahrung, die die ganze Unternehmung, das Abschlachten sowie ihre Entbehrungen und Verluste, im Nachhinein doppelt sinnlos macht.

Ich kann die Lesung ebenso wie das Buch wärmstens empfehlen und selbst wenn man letzteres bereits kennt, kann man beim Hören neue Facetten des Romans entdecken.

John Williams: Butcher’s Crossing. Rundfunk Berlin-Brandenburg/Der Audio Verlag 2015
www.der-audio-verlag.de

John Williams: Butcher’s Crossing

Auf Sinnsuche im Wilden Westen

Ein literarisches Highlight des Jahres 2013 war für mich der College- und Eheroman Stoner des US-Amerikaners John Williams (1922 – 1994). Ursprünglich in den USA 1965 als dritter seiner vier Romane erschienen, wurde er mit 48 Jahren Verspätung in Deutschland veröffentlicht und zum Überraschungsbestseller.

2015 zog dtv mit Butcher’s Crossing, seinem zweiten Roman aus dem Jahr 1960, nach. Da ein Western mir weniger verlockend erschien, blieb das Buch zunächst ungelesen liegen – ganz zu Unrecht, wie ich nun weiß, obwohl mich „Stoner“ insgesamt doch noch mehr begeistert hat.

Der Protagonist Will Andrews stammt im Gegensatz zum Farmersohn Stoner aus dem bürgerlichen Milieu Bostons, sein Vater ist Prediger. Andrews gibt 1873 sein Harvard-Studium im dritten Studienjahr auf und reist nach Kansas ins trostlose Präriestädtchen Butcher’s Crossing, das von Büffelfellen und der Hoffnung auf den Bau der Eisenbahn lebt. Antriebsfeder für ihn ist die Abenteuerlust, seine Sehnsucht nach Wildheit, nach Natur und Freiheit, und der Wunsch, sich auf diese Weise selbst zu finden. Weder die Warnungen des alten Fellhändlers, noch die der mütterlich-freundlichen Hure Francine, der einzigen Frauenfigur des Romans, die den Verlust seiner weichen Hände prophezeit, können ihn davon abhalten, mehr als die Hälfte seines Vermögens in einen eigenen Büffeljägertrupp zu stecken. Mit dem erfahrenen Jäger Miller als Führer, dem schrulligen Charley Hoge, einem etwas debilen bibeltreuen Alkoholiker, der Miller treu ergeben ist, und dem professionellen Häuter Fred Schneider bricht der vierköpfige Trupp auf zu einem der letzten Täler, in dem es laut Miller noch eine nennenswerte Anzahl von Büffeln geben soll. Auf dem Weg Richtung Westen droht ihnen und ihren Pferden und Ochsen der Tod durch Verdursten, doch unbeirrt und mit traumwandlerischer Sicherheit führt Miller sie in das Tal. Kaum angekommen, verfällt er in einen manischen Blut- und Jagdrausch. Längst ist die Zahl der Felle für eine erfolgreiche Jagd erreicht und der Wintereinbruch droht, doch Miller will nicht aufhören, bevor nicht die ganze Herde erlegt ist. So werden sie vom ersten Schneesturm überrascht und dazu gezwungen, weitere sieben Monate auszuharren. Erst Ende Mai kommt der geschrumpfte Trupp wieder in Butcher’s Crossing an, wo nichts mehr so ist, wie es bei ihrem Aufbruch war – eine bittere Erfahrung, die die ganze Unternehmung, das Abschlachten sowie ihre Entbehrungen und Verluste, im Nachhinein doppelt sinnlos macht.

Man muss kein Westernfan sein, um dieses Buch zu mögen, aber man muss viel ertragen an Blut, Dreck und Gestank. Auch die überwältigenden Naturschilderungen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass diese Expedition einzig der Vernichtung eben dieser Natur gilt zu einer Zeit, in der das Wort Nachhaltigkeit noch nicht existierte. Beeindruckt hat mich auch Williams‘ Beschreibung der zwischenmenschlichen Beziehungen unter den Männern und der allmählichen Veränderung Wills, auch wenn mir vor allem dessen Beweggründe sehr fremd geblieben sind.

Ob Will Andrews gefunden hat, was er suchte? Seine Hände jedenfalls sind tatsächlich nicht mehr weich, als er schließlich wieder bei Francine ankommt, und als er Butcher’s Crossing verlässt, weiß er nicht, wohin er reitet.

John Williams: Butcher’s Crossing. dtv 2015
www.dtv.de

Silke Schlichtmann: Bluma und das Gummischlangengeheimnis

Schweigen und Grübeln ist selten eine gute Lösung

Die Kinderbücher von Silke Schlichtmann sind ein kleiner Schatz für mich, auch dieses dritte: Bluma und das Gummischlangengeheimnis. Die neue Protagonistin habe ich spontan ebenso ins Herz geschlossen wie zuvor Pernilla aus Pernilla oder Wie die Beatles meine viel zu große Familie retteten und Pernilla oder Warum wir nicht in den sauren Apfel beißen mussten. Das liegt vor allem am Einfühlungsvermögen der Autorin, an ihrem Reichtum an Ideen, an ihrem ebenso unterhaltsamen wie dezent lehrreichen Erzählstil und an ihrer Wertschätzung für ihr Publikum und ihre Figuren, die man auf jeder Seite spürt.

Die 9-jährige Bluma aus Grünendeich im Alten Land erlebt wahrlich aufregende Wochen, während derer sich ihre Probleme verhalten wie die Obstfliegen: „Hat man erst mal eins, dann werden’s immer mehr.“ Alles beginnt mit einer Fünf in Mathe, nicht der ersten, und das, obwohl Bluma eigentlich ganz gut rechnen kann. Dann wollen ihre Eltern ihr nicht erlauben, den netten Labrador Retriever Flocki zu adoptieren, der sonst vielleicht ins Tierheim muss. Zu allem Überfluss hat ihre Lieblingsnachbarin und Vertraute, die malende Rentnerin Alice, ausnahmsweise kein Ohr für sie und Mama muss für zwei Wochen beruflich nach Niederbayern. Und da macht Bluma das schlimmste, was sie jemals getan hat: Sie klaut eine von Alices magischen 60cm-Gummischlangen, eine giftgrüne. Aber weil Bluma ein ausgeprägtes Gefühl für Recht und Unrecht hat, fühlt sie sich anschließend hundeelend und es geht ihr „blumaschlecht“. Und die Pechsträhne reißt nicht ab: Ihre beste Freundin Rosa scheint sie zu hintergehen und ihre Lehrerin will wegen der Matheprobleme dringend ihre Eltern sprechen. Doch am allerschlimmsten drückt Bluma das schlechte Gewissen wegen des Vertrauensbruchs und sie kann niemandem ihr Herz ausschütten.

Trotz der ernsten Themen wie Umgang mit der Wahrheit, Freundschaft, Vertrauen, Angst, Gewissen und Geheimnisse ist der Kinderroman nie niederdrückend. Nicht nur, dass es jede Menge lustige Szenen gibt, man spürt von der ersten Seite an Blumas Stärke und ihren absoluten Willen, die auflaufenden Probleme zu lösen, und das hat mich immer an ein gutes Ende glauben lassen. Wie es dazu kommt, soll natürlich nicht verraten werden, aber es ist in typischer Silke-Schlichtmann-Manier spannend, logisch und fantasievoll gelöst.

Ulrike Möltgen hat die Bluma-Geschichte mit außergewöhnlichen schwarz-weiß-roten Zeichnungen illustriert, die sich wohltuend vom derzeit dominierenden grellbunten Comicstil abheben.

Ein wunderschöner, nachdenklicher, manchmal lustiger Kinder-, vor allem Mädchenroman, zum Vorlesen ab sechs, zum Selberlesen ab der dritten Klasse. Ich gehöre zwar weder zur einen noch zur anderen Zielgruppe, habe die Lektüre aber trotzdem außerordentlich genossen!

Silke Schlichtmann: Bluma und das Gummischlangengeheimnis. Hanser 2017
www.hanser-literaturverlage.de