Heinrich Böll: Irisches Tagebuch

Eine Insel und ihre Bewohner

Auf einer dreiwöchigen Rundreise durch Irland haben wir Heinrich Bölls Klassiker Irisches Tagebuch als Vorleselektüre während längerer Autofahrten gewählt, und soweit die Straßen nicht zu holprig zum Lesen waren, war es die perfekte Unterhaltung. Auch wenn es Bölls in 18 Miniaturen beschriebenes Irland so heute natürlich nicht mehr gibt, ja nicht einmal das im nachgestellten Essay 13 Jahre bzw. „gefühlte eineinhalb Jahrhunderte später“, so erkennt man doch auch heute vieles von dem, was er mit so scharfsinniger Beobachtungsgabe hochliterarisch beschreibt, wieder.

Nach seinem ersten Besuch 1954 reiste Böll immer wieder mit seiner Familie nach Irland, speziell auf die größte, ganz im Westen gelegene Insel Achill Island, und erwarb dort 1958 ein Cottage. Nachdem einzelne Kapitel bereits in der FAZ erschienen waren, brachte der Verlag Kiepenheuer und Witsch 1957 das ganze Buch heraus. 1961 erschien es als Nummer eins der dtv-Taschenbücher, wo es mit weit über eine Million verkaufter Exemplare heute in der 62. Auflage vorliegt.

Mal heiter, mal nachdenklich, aber immer sehr persönlich sind die 18 Kapitel und der nachgestellte  Essay von einer großen, spürbaren Liebe zu dieser Landschaft und ihren Bewohnern geprägt, die sich auf uns als Leser bzw. Zuhörer übertragen hat. Bölls Erlebnisse und Reflexionen waren eine zusätzliche Motivation, dem Land wie er mit allen Sinnen zu begegnen. Dass es Böll aber nicht nur um eine Darstellung Irlands ging, zeigt sich in den gezogenen Vergleichen zum Nachkriegs-Deutschland in der Zeit des Wirtschaftswunders, ein politisch sehr spannender Aspekt des Buches.

Kein Wunder, dass dieser Klassiker der Reiseliteratur die Wahrnehmung Irlands durch die Deutschen seit fast 60 Jahren maßgeblich mitgeprägt hat!

Heinrich Böll: Irisches Tagebuch. dtv 2016
www.dtv.de

Christopher Kloeble: Die unsterbliche Familie Salz

Eine Familie mit Schatten

Bevor Lola Rosa Salz im Jahr 1990 85-jährig ins Schattenreich des Komas hinübergleitet, in dem sie bis zu ihrem Tod im Alter von 110 Jahren verharren wird, ist ihr Leben geprägt von Schatten – vorhandenen und fehlenden – und vom Leipziger Hotel Fürstenhof.

Ihre Geschichte und die Geschichte der Familie Salz erzählen verschiedene Stimmen und jede Perspektive hat ihren eigenen Stil und ihre eigene Erzählweise, mal auktorial, mal in der Ich- oder Du-Form. Das macht die Lektüre einerseits abwechslungsreich, andererseits fand ich es auf die Dauer von 440 Seiten ermüdend. Auch das an sich sehr interessante und fantasievoll bearbeitete Motiv „Schatten“, das in allen Facetten beleuchtet wird bis hin zum Schatten der schattenblinden Enkelin Emma, der sogar ein eigenes Kapitel aus seiner Ich-Perspektive beisteuert, wurde mir irgendwann zu viel. Weniger wäre in beiden Fällen mehr gewesen und ich hätte dann mehr als 3,5, wegen des durchaus erkennbaren Schreibtalents von Christopher Kloeble auf vier aufgerundete Sterne vergeben.

Den ersten Teil über ihre Kindheit, die mit dem Dahinsiechen der Mutter und ihrem Tod unter für Lola folgenreichen Umständen endet, erzählt die Protagonistin selber. Im zweiten Teil erfahren wir von Lolas Mann, dem Schauspieler Alfons Ervig, von Lolas Odyssee mit zwei Kleinkindern in den letzten beiden Jahren des Zweiten Weltkriegs, ihrer Weigerung, beim verhassten Vater im Fürstenhof Hilfe zu suchen und von ihrem Erlebnis mit dem „Mann ohne Schatten“, das sie für immer traumatisierte. Die Auswirkungen dieser Traumatisierung bekommt vor allem die Tochter Aveline zu spüren, die fast daran zugrunde geht und über die Jahre 1959/60 mit ihrer Mutter erzählt. Über die Zeit der Wende, als das unter Aufsicht des DDR-Staats stehende Hotel Fürstenhof in Leipzig wieder an Lola übergeht, die nun die Zeit der Rache für ihr widerfahrenes Unrecht gekommen sieht, erzählt der Schatten der Enkelin Emma. Im fünften Teil berichtet Emma selber aus dem Jahr 2015, dem Jahr, in dem Lola nach ihrem Fall ins Koma ein zweites Mal stirbt, und mit dem sechsten Teil von Emmas Tochter aus dem Jahr 2027 schließt der Roman.

Die einzelnen Abschnitte haben mir unterschiedlich gut gefallen. Inhaltlich war für mich der Kriegsteil am interessantesten und emotional anrührendsten, stilistisch fand ich die mit viel Sprachwitz gespickte Erzählweise von Emmas Schatten besonders gelungen.

Insgesamt eine Lektüre, die ich nicht bereut habe, die aber aus den genannten Gründen Luft nach oben hat.

Christopher Kloeble: Die unsterbliche Familie Salz. dtv 2016
www.dtv.de

Berit Bach: Aufregung um Knuffel

Das süßeste, klügste und wunderbarste Pony der Welt

Zur Mädchen-Pferde-Reihe Lotta & Knuffel von Berit Bach für kleine Erstleserinnen ab Ende der ersten Klasse gehört der auch unabhängig problemlos zu lesende Band Aufregung um Knuffel. Knuffel, Lottas geliebtes Pony, das sie einst vor dem Schlachter gerettet hat, mag zuerst einfach nicht über Hindernisse springen und ist dann plötzlich spurlos verschwunden. Hat es ihr übelgenommen, dass sie ihm keinen Apfel gegeben hat? Oder hängt sein Verschwinden mit dem Zirkus Herkules zusammen, zu dem es früher gehört hat und der gerade wieder in der Stadt gastiert? Zusammen mit ihrer Reiterfreundin Lena macht Lotta sich auf die Suche.

Das Erstleserbuch ist mit seiner großen Fibelschrift, der geringen Textmenge, den kurzen Zeilen im Flattersatz und den sehr gut zum Text passenden Illustrationen mit den ausdrucksstarken Gesichtern von Dorothea Tust gut für kleine Pferdefreundinnen geeignet.

Schade, dass es das Buch nur noch antiquarisch zu kaufen gibt!

Berit Bach: Aufregung um Knuffel. arsEdition 2010
www.arsedition.de

Inge Meyer-Dietrich: Der kleine Drache und der Monsterhund

Zusammen stark

Für absolute Leseanfänger sind die Erstleserbücher der ersten Lesestufe nach der Silbenmethode aus der Reihe Leserabe sehr empfehlenswert. Die große Fibelschrift, kurze Textabschnitte mit maximal sieben kurzen Zeilen im Flattersatz, überwiegend ein- und zweisilbige Wörter und die farblich abgesetzen Silben machen das Lesenlernen einfach und verhelfen den Leseanfängern zu ersten Erfolgserlebnissen. Durch die farbige Aufteilung der Wörter in Buchstabengruppen werden die Wörter strukturiert und ihr Sinn ist leichter zu erfassen. Mit Hilfe der Rätselfragen am Ende des Buches können die Kinder ihr Leseverständnis zusätzlich testen.

Ein inhaltlich besonders gelungener Band aus dieser Reihe, die in einer Kooperation zwischen dem Ravensburger Buchverlag und dem Mildenberger Verlag erscheint, ist Der kleine Drache und der Monsterhund von Inge Meyer-Dietrich, wunderbar textunterstützend illustriert von Almud Kunert.

Das kleine Drachenmädchen Fuego wird eingeschult. Schule wäre so schön, wenn sie auf dem Schulweg nicht an einem Monsterhund vorbei müsste. Vor lauter Schreck kann sie jedes Mal weder Feuer speien noch fliegen und kommt zu spät. Erst als sich herausstellt, dass ihr neuer Freund und Banknachbar Alev die gleiche Angst hat, zeichnet sich eine Lösung des Problems ab. Denn es wäre doch gelacht, wenn die beiden aufgeweckten Drachenkinder zusammen ihre Angst nicht  besiegen könnten!

Ein ausgesprochen hübsches, empfehlenswertes Erstleserbuch.

Inge Meyer-Dietrich: Der kleine Drache und der Monsterhund. Ravensburger Buchverlage 2015
www.ravensburger.de

Alex Capus: Eine Frage der Zeit

Das Schicksal der Götzen

Elena Ferrante: Meine geniale Freundin

Vom Entkommen und Verschwinden

2011 in Italien erschienen, ist der erste der auf insgesamt auf vier Bände angelegten Neapolitanischen Saga der Kindheit und Jugend der beiden Protagonistinnen Elena und Lila gewidmet. Elena hat sich nach 60 Jahren der Freundschaft entschlossen, ihre gemeinsame Geschichte niederzuschreiben, anzuschreiben gegen das Vergessen, denn Lila ist im Alter von 66 Jahren plötzlich verschwunden, hat sich in Luft aufgelöst, ohne eine einzige Spur zu hinterlassen, ihr Leben einfach auslöschend.

Die beiden sehr unterschiedlichen Mädchen wachsen in den 1950- und 60er-Jahren im Rione auf, einem armen Stadtteil Neapels, in dem ein „Klima abstrakter Spannungen“ herrscht, „wo jedes Gesicht und jede Straße krankhaft blass geblieben waren“ und wo die Kinder das Meer noch nie gesehen haben. Armut, Gewalt, Tod, die Camorra, uralte Fehden und Bildungsferne bestimmen den Alltag. Schon bald sind die beiden Freundinnen entschlossen, diesem Leben irgendwann zu entkommen. Bildung wäre ein Weg aus dem Ghetto, doch gerade der hochbegabten Lila bleibt dieser Weg durch die Sturheit und Ignoranz ihrer Eltern verwehrt. Die Eltern der ebenfalls begabten Ich-Erzählerin Elena trauen sich dagegen nicht, gegen die Lehrerin aufzubegehren, so dass Elena die Mittelschule, später sogar das Gymnasium, die „Schule für die feinen Leute“, besuchen darf. Lila versucht zunächst, am Latein- und Griechischstudium ihrer Freundin teilzuhaben, erkennt aber irgendwann die Aussichtslosigkeit und träumt nun davon, die Schusterwerkstatt des Vaters und Bruders zu einer exklusiven Schuhfabrik zu machen. Doch es gibt noch einen anderen Weg, das Beste aus dem Rione zu machen: eine vergleichsweise reiche Heirat, mit der die 16-jährige Lila zur „Jacqueline Kennedy des Rione“ wird. Elena aber ist dies zu wenig. Sie, die sich im Vergleich zu ihrer Freundin als bebrilltes, unattraktives Mädchen mit muffigen Gebrauchtbüchern empfindet, möchte dem Rione, der Welt ihrer Eltern,ö ganz und gar entkommen.

Was haben deutsche Kritiker diesem Roman, der weltweit auf vielen Bestsellerlisten stand und steht und im Ausland hochgelobt wurde, nicht alles vorgeworfen: Trivialität, Marketing-Theater, Hochmütigkeit der Ich-Erzählerin, fehlende Poetik und vieles mehr. Sicher, den Hype um die nur als Phantom existierende Autorin, „die große Unbekannte der Gegenwartsliteratur“, finde ich auch überzogen, aber die anderen Kritikpunkte kann ich ganz und gar nicht teilen. Für mich ist Meine geniale Freundin ein ausgezeichneter, gehobener Unterhaltungsroman, kitschfrei und in einer schnörkellosen, aber bildreichen Sprache verfasst, eine sehr dichte Milieustudie über eine fast archaisch anmutende Gesellschaft, eine Freundschaftsgeschichte mit allen Facetten des Themas Freundschaft, eine sehr gelungene Pubertätsgeschichte, ein Roman über Bildung und eine Emanzipationsgeschichte in einer Umgebung von Machos.

Klar, dass ich auch den nächsten Band lesen werde, nicht nur wegen des Cliffhangers am Ende!

Elena Ferrante: Meine geniale Freundin. Suhrkamp 2016
www.suhrkamp.de

Der Jugend Brockhaus Geschichte

Für geschichtsinteressierte Jugendliche

Dieser Themenband des Jugend-Brockhaus ist zwar schon ein paar Jahre alt, trotzdem möchte ich ihn für geschichtsinteressierte Jugendliche ab ca. 12 Jahren unbedingt empfehlen.

Die 16 Kapitel sind zeitlich angeordnet von „7 Mio. Jahre v. Chr.“ bis „Unsere Zeit und der Weg in die Zukunft“ und umfassen je eine Panormaseite, eine Einführungsseite mit Zeitleiste und ein Alphabet weit gefasster Schlagwörter. Daneben gibt es Infoboxen zur Vertiefung und zum „Leben damals“, Quizboxen, Quellentexte und Biografien.

Übersichtlich angeordnet, reich bebildert, mit gut verständlichen Texten und einem ausführlichen Stichwortverzeichnis hat der Band die Qualität, die man von einem Produkt aus dem Hause Brockhaus erwartet.

Der Jugend Brockhaus Geschichte. wissenmedia 2007

Christian Dreller: Die drei Musketiere

Einer für alle – alle für einen

Wie bringt man Jungs zum Lesen? Der S. Fischer Verlag versucht es in seiner Erstleserreihe Helden-Abenteuer, die natürlich exklusiv nur für Jungs ist, mit Action, coolen Illustrationen und starken Helden. Die Bände der Reihe richten sich an junge Leser ab Klasse zwei, die Schrift ist dementsprechend groß gewählt und es gibt viele Bilder im Comicstil, jedoch ist die Textmenge schon umfangreicher als bei den Büchern für Leseanfänger. Rätsel, ein Zusatztext, ein Wörterverzeichnis und Extraseiten zum Mitmachen ergänzen die Bände der Reihe.

Im hier vorliegenden vierten Band der Reihe Helden-Abenteuer wird die Geschichte des 18-jährigen d’Artagnan erzählt, der sich mit seinem Klappergaul auf den Weg nach Paris zur legendären Leibwache des Königs, den Musketieren, macht. Schon unterwegs muss er ein Abenteuer bestehen, doch kaum in Paris angekommen, wird es noch turbulenter: drei Duellforderungen von den Musketieren Aramis, Athos und Porthos in fünf Minuten sind rekordverdächtig! Doch dann kommt es statt der Duelle zu einem Kampf gegen die Musketiere des Kardinals Richelieu und d’Artagnan erhält die Chance, sich an der Seite seiner drei Herausforderer zu bewähren…

Christian Dreller erzählt die Geschichte, wie d’Artagnan zu den Musketieren stößt, altersgemäß und zielgruppengerichtet, und egal,  ob uns als Erwachsenen die Aufmachung als Action-Buch gefällt oder nicht, wenn sich damit einige Lesemuffel überzeugen lassen, erfüllt die Reihe genau ihren Zweck.

Christian Dreller: Die drei Musketiere. Fischer 2013
www.fischerverlage.de

Hannah O’Brien: Irisches Verhängnis

Das keltische Ei

Manche Bücher bekommt man durch Zufall genau im richtigen Moment in die Hände und bei Irisches Verhängnis ist mir genau das passiert. Ein Regentag während einer Rundreise durch Irland und wir hatten gerade exakt die darin beschriebene Gegend bereist, es hätte einfach nicht besser passen können. Vertraut mit den Orten und deren Geschichte, konnte ich mir vieles sehr gut vorstellen, anderes habe ich zusätzlich erfahren. Ein Glücksfall also, der das auch im Buch zur Genüge beschriebene irische Wetter vergessen ließ.

Grace O’Malley oder Graínne Ni Mháille, wie der Name auf Irisch lautet, ist erst vor kurzem nach fünfjähriger Tätigkeit in Dänemark nach Hause auf die Insel zurückgekehrt, wo sie dank der Einflussnahme eines Mitglieds der wichtigen O’Malley-Familie einen leitenden Posten bei Garda, der irischen Polizei, in Irlands viertgrößter Stadt Galway bekommen hat. Ihr Start wird überschattet von der Missgunst und dem Misstrauen einiger Kollegen und vom Verschwinden ihrer 14-jährigen Tochter Roisin, die seit ihrer Geburt bei der Familie von Graces‘ Bruder in Dublin lebt. Während Grace noch überlegt, dorthin zu fliegen, wird in Galway die Leiche einer jungen Doktorandin der Meeresbiologie gefunden. Grace und ihr loyaler, sehr sympathischer Kollege Rory nehmen die Ermittlungen auf. Annie, die Tote, hatte mehrere Putzstellen bei einflussreichen Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Wissenschaft, die ihr ihre Freundin und Mitbewohnerin Carol vermittelt hat. Sind hier Motiv und Täter zu finden?

Für Grace beginnt ein Kampf an verschiedenen Fronten: Da ist zum einen der Fall, der immer komplizierter wird und weitere Opfer fordert, zum zweiten ihr Streben nach Anerkennung am neuen Arbeitsplatz und zum dritten die Sorge um den Verbleib ihrer Tochter. Alle drei Bereiche haben etwas mit einem typisch irischen Thema zu tun: Familie und Familienkonstellationen, das „keltische Ei“, außen perfekt, aber wenn man es aufschlägt, stinkt es zum Himmel…

Hannah O’Brien, deutsche Journalistin und Autorin, hat lange in Irland gelebt, und das merkt man ihrem spannenden, gut durchdachten und flüssig zu lesenden Krimi deutlich an. Das Kernthema „Biopiraterie“ war mir in dieser Form neu und daher sehr interessant für mich, die private Geschichte um die nach einer in Irland sehr bekannten Piraten-Vorfahrin benannten Grace gut erzählt und unterhaltsam.

Band zwei, Irisches Roulette, liegt nach meiner Rückkehr nach Deutschland zum Lesen bereit, und ich bin gespannt, ob er sich zuhause genauso gut liest wie vor Ort.

Ein Wort noch zum Text auf der Rückseite des Buches und zur Inhaltsangabe vorn. Hier habe ich mich gefragt, ob der Verfasser oder die Verfasserin den Krimi überhaupt gelesen hat, denn die Abfolge und Zusammenhänge der Ereignisse sind völlig falsch dargestellt. Außerdem werden überraschende Entwicklungen aus der zweiten Hälfte des Buches vorweggenommen, was der Spannung Abbruch tut. Also keinesfalls vorher lesen und die Bitte an dtv, bei diesen Texten sorgfältiger und überlegter zu arbeiten!

Hannah O’Brien: Irisches Verhängnis. dtv 2015
www.dtv.de

J. Ryan Stradal: Die Geheimnisse der Küche des Mittleren Westens

Von einem anderen Stern

Der Diogenes Verlag bittet uns in diesem Sommer zu Tisch, nicht nur mit Brunos Küchenkalender 2017, der uns mit allen Sinnen ins Périgord entführt, sondern auch mit dem Debütroman Die Geheimnisse der Küche des Mittleren Westens des US-Amerikaners J. Ryan Stradal.

Schon auf dem verführerisch gestalteten Cover, an dem kaum jemand achtlos vorbeigehen kann, sind die wichtigsten Zutaten des Romans genannt: Tomaten, Chili, Wild und Fisch, also keineswegs Ingredienzien, die man üblicherweise mit dem Fastfood-Land USA in Verbindung bringt. Wenn die Starköchin Eva Thorvald mit den genannten Zutaten in ihrer Küche zaubert, bezahlen Eingeweihte dafür eine vierstellige Summe und warten jahrelang auf einen Platz bei einem ihrer extravaganten Dinner an wechselnden Orten, von der Presse als „Ganzkörpererfahrung“ tituliert.

Es ist vor allem die außergewöhnliche Erzählweise über die ersten knapp 30 Lebensjahre des Mädchens Eva mit dem unglaublichen Geschmackssinn, der Unempfindlichkeit gegen scharfe Gewürze, dessen Tisch zum begehrtesten der USA wird, die mich bei diesem Roman überzeugt hat. J. Ryal Stradal erzählt diese Lebensgeschichte in acht Kapiteln, sieben davon mit dem Namen einer Speise überschrieben, das achte, in dem noch einmal viele der Protagonisten zusammentreffen, mit dem Titel „Das Dinner“. Nur in einem Kapitel, dem zweiten, steht Eva Thorvald im Mittelpunkt, sonst sind es andere, deren Leben gerade an einem Wendepunkt steht. Nur en passant werden dabei einzelne Schlaglichter auf Evas Leben geworfen, was dazu führt, dass sie von einer geradezu mystischen Aura umgeben bleibt. Dies passt wunderbar zu Eva, die nicht für den Ruhm lebt, die Öffentlichkeit eher scheut, weder Kochbücher schreibt noch Kochshows moderiert und lediglich dem Ehrgeiz einer perfekten Küche mit den perfekten Zutaten frönt.

J. Ryal Stradal hat seinen Roman mit sehr viel Ironie gewürzt, trotzdem zieht er seine Protagonisten nie ins Lächerliche, nimmt ihnen nie die Würde. Er hat mich mit dieser leichten, aber keineswegs seichten Lektüre bestens unterhalten, weshalb ich gerne knappe fünf Sterne vergebe.

Und wer weiß, vielleicht gibt es ja 2018 auch zu diesem Roman einen passenden Küchenkalender? Stoff genug wäre mit Eva Thorvalds Menüfolgen, den Rezepten und Zutaten jedenfalls vorhanden!

Ryan Stradal: Die Geheimnisse der Küche des Mittleren Westens. Diogenes 2016
www.diogenes.ch