Rolf Lappert: Über den Winter

Rückkehr zu den Wurzeln

Ein doppelter Tod ist der Ausgangspunkt von Rolf Lapperts 2015 erschienenem Roman Über den Winter, der wie schon 2008 sein Debüt Nach Hause schwimmen auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis stand.

Für den Aktionskünstler Lennard Salm, der gleich nach seinem Studium durch eine Mischung aus Geniestreich und Skandal in die Kunstszene katapultiert wurde und seit mittlerweile 23 Jahren erfolgreich im Kunstmarkt mitschwimmt, werden der Fund einer Säuglingsleiche in einem Flüchtlingsboot irgendwo an einem Mittelmeerstrand und die Nachricht vom Tod seiner älteren Schwester Helene zum Wendepunkt. Zurück in Hamburg und bei der Trauerfeier konfrontiert mit seiner Familie, einem Zusammentreffen, vor dem ihm graut, kulminieren die Irritation, der Verlust klarer Ziele und die zunehmende Entfremdung vom Kunstbetrieb und der Kunst zu einer Lebenskrise: „In letzter Zeit fiel es ihm schwer, seine Lebenssituation einer genaueren Betrachtung zu unterziehen, Pläne zu machen oder auch nur einen klaren, in die Zukunft weisenden Gedanken zu fassen.“ Er verkündet seinem Mäzen und Manager Wieland, dass er kein Künstler mehr sein will, ohne auf dessen immer drängender werdende Frage, was er denn stattdessen sein wolle, eine Antwort zu haben. Nach einer Zwischenstation in einem billigen Hotel zieht er in sein altes Kinderzimmer bei seinem hinfälligen Vater und dessen polnischer Pflegerin in ein ob seiner Bewohner geisterhaft anmutendes, heruntergekommenes Haus in Wilhelmsburg. Lennard, der als einziges der vier Kinder die wahren Gründe für das Auseinanderbrechen der Familie kennt, immer zum Vater gehalten und die Mutter verachtet hat, lehnt auch jetzt ihre Versöhnungsversuche ab. Lediglich seine jüngere Schwester Bille, die nie erwachsen geworden ist, kommt ihm einigermaßen nah.

Es bleibt am Ende unklar, ob Lennard der Neubeginn bei seinen Wurzeln gelingt und wohin er ihn führt. Vielleicht ist ja sein durch die Welt irrlichternder Koffer, den Alitalia am Ende doch noch zustellt, ein gutes Omen?

Mich konnte der düstere Künstler-, Familien- und zeitweise Gesellschaftsroman, der mir beim Lesen durchgehend eine Gänsehaut beschert hat, nicht überzeugen. Sehr gut gefallen hat mir das dritte Kapitel über die Anfänge der Familie Salm und darüber, wie die jahrelang immer wieder notdürftig reparierte Familienmaschine auseinanderbrach. Hier zeigt Rolf Lappert sein wirklich großes Erzähltalent. Auch seine detaillierten Orts-, Menschen- und Wetterbeschreibungen haben mich immer wieder fasziniert. Doch konnte ich mit Lennard Salms indifferenter Seelenlage, seiner Ziellosigkeit und seinen Alkoholexzessen nichts anfangen und habe während des Lesens zu keiner Zeit verstanden, warum er seinen Neubeginn ausgerechnet aus dem Schoß der Familie heraus beginnen will, vor der er doch aus nachvollziehbaren Gründen einst geflohen war.

Rolf Lappert: Über den Winter. Hanser 2015
www.hanser-literaturverlage.de

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