Kirsten Boie: Verflixt – ein Nix!

Ein Nix ist ein Nix und ein Nix und ein Nix!

Für den siebenjährigen Jonathan verläuft der Start in die zweite Klasse mehr als holprig, denn in einem Muscheleimer hat er versehentlich einen Nix, also eine männliche Nixe, einen „Seejungmann“, von der Ostsee mit nach Hause genommen, und der ist zwar niedlich, macht ihm aber jede Menge Scherereien. Nicht nur, dass der thermoskannengroße Nix mit den grünen Haaren, dem Fischschwanz und der dreizackigen Gabel immer nur sichtbar wird, wenn das Wasser rauscht, er verursacht ein Chaos im Bad, überschwemmt die Wohnung, fordert Fisch als Nahrung, quengelt gerne herum und bringt Jonathans ganze Klasse durcheinander. Als er sich dann auch noch in die Lehrerin, Frau Kägele, verliebt, und sie unbedingt „retten“ will, um berühmt wie Arielle zu werden, ist Jonathan mit seinem Latein am Ende. Sein frischverliebter Vater und die ansonsten so liebe Frau Kägele verlieren allmählich die Geduld mit ihm, denn ihnen zeigt der Nix sich natürlich nicht und Jonathan glaubt ja leider keiner!

Ich liebe die Kinderbücher von Kirsten Boie und natürlich auch den Nix, selbst wenn er oft schlecht gelaunt und nörgelig ist. Im Gegensatz zum Sams oder dem Pumuckl steht der Nix aber nicht so im Mittelpunkt des Buches, sondern eher der geplagte Jonathan, der in seiner treuen Freundin Leo die einzige Verbündete hat.

Verflixt – ein Nix ist ein wunderschönes, leicht erzähltes und von Stefanie Scharnberg bunt bebildertes Vorlesebuch ab sechs Jahre, zum Selberlesen ab acht, bei dem man lachen, Mitleid haben und immer wieder die Luft anhalten und Jonathan die Daumen drücken muss. Zum Glück gelingt es Jonathan, die ahnungslose Hilary, die neue Freundin seines Vaters, am Ende des Buches zu einem Ausflug an die Ostsee zu überreden…

Kirsten Boie: Verflixt – ein Nix! Oetinger 2015
www.oetinger.de

Claudie Gallay: Seule Venise

Venedig abseits aller Klischees

Claudie Gallays Roman Les déferlantes aus dem Jahr 2008, der 2010 auf Deutsch unter dem Titel Die Brandungswelle erschien, stand damals nicht nur monatelang auf der französischen Bestsellerliste, sondern war auch für mich eine ganz große Entdeckung. Mehr noch als die Handlung hat mich damals die Beschreibung der Natur, der Vogelwelt und des Meeres, die die eigentlichen Protagonisten sind, begeistert.

Bei ihrem bereits 2004 erschienenen Roman Seule Venise habe ich mich nun an das französische Original herangetraut und war überrascht, wie gut es sich lesen ließ. Auch hier steht eigentlich nicht eine Person im Mittelpunkt, sondern vielmehr die Stadt Venedig, und das zu einer Jahreszeit, in der keines der üblichen Klischees zutrifft, man kaum Touristen trifft und das Wetter mehr als unwirtlich ist: im Winter.

Von ihrem Lebenspartner verlassen, flüchtet die tief verwundete Ich-Erzählerin mittleren Alters Hals über Kopf in diese Stadt, mit der wir eher die Liebe als den Liebeskummer, eher die Sonne und Wärme als Regen, Nebel und Kälte verbinden. Zufällig ist dieses Ziel, ohne Plan kommt sie dort an, und wir begleiten sie auf ihren scheinbar endlosen Spaziergängen durch das menschenleere, ungemütliche und doch so faszinierende Venedig, in dem eine heiße Schokolade oder die Katzen eine übergroße Bedeutung bekommen können. Wir werden Zeugen ihrer Gedanken und ihrer tiefen Verzweiflung, aber auch des ganz langsam wiedererwachenden Lebenswillens und ihrer wenigen Außenkontakte zu den anderen Gästen ihrer kleinen Pension und einem Buchhändler.

Passend zu ihren trüben Gedanken und zur Stimmung in der feuchten Stadt ist der Stil stakkatohaft-abgerissen und die Sätze sind sehr kurz, teilweise unvollständig, oft lakonisch, immer sehr präzise und distanziert.

Wer bereit ist, sich von Claudie Gallay, die für mich zu den großen französischen Autorinnen der Gegenwart gehört, in ein anderes Venedig und in eine düster-melancholische, ganz besondere Stimmung versetzen zu lassen, wem die Atmosphäre auch einmal wichtiger sein kann als die Handlung, dem wird dieser außergewöhnliche, merkwürdig intensive kleine Roman bestimmt genauso gut gefallen wie mir.

Claudie Gallay: Seule Venise. Editions J’ai lu 2013
www.jailu.com

Daria Bignardi: So glücklich wir waren

„Geheimnisse sind leichter zu erfinden als aufzudecken“

Zwei Frauen, Alma und Antonia, sind die beiden Ich-Erzählerinnen im vierten Roman der italienischen Autorin, Journalistin und Fernsehmoderatorin Daria Bignardi, der zum großen Teil in ihrer Geburtsstadt Ferrara angesiedelt ist. Um es gleich vorwegzunehmen: Die Beschreibungen der Spaziergänge Antonias durch Ferrara, die sehr atmosphärische Begegnung mit dieser norditalienischen Stadt und ihren Bewohnern, waren für mich der größte Pluspunkt an diesem Buch. Daria Bignardi hat bei mir, die ich die Stadt nur von einem zweitägigen Aufenthalt ein wenig kenne, ein Kopfkino und ein Wiedererkennen mit allen Sinnen ausgelöst.

Inhaltlich erzählt uns Alma von ihrer Kindheit in Ferrara, die sie bis zum Wendepunkt ihres Lebens an dem Tag, als sie ihren geliebten Bruder aus jugendlichem Übermut dazu aufforderte, gemeinsam Heroin auszuprobieren, als ausgesprochen glücklich empfand. Sie, die immer dominant war, ihr ein Jahr jüngerer Bruder Marco, genannt Maio, und die gemeinsame Freundin Michela waren ein eingeschworenes Trio, probierten auch vorher schon gemeinsam Drogen. Bei Alma blieb es beim einmaligen Heroinkonsum, während Maio süchtig wurde und eines Tages spurlos verschwand. Die Familie zerbrach und Alma, die allein zurückblieb, verließ Ferrara für immer.

Nun, da ihre Tochter Antonia ihr erstes Kind erwartet, erzählt Alma ihr von dieser Schuld, die ihr Leben für immer überschattet hat. Antonia, von Beruf Krimiautorin, möchte dem Verschwinden Maios auf die Spur kommen und fährt zu Recherchezwecken nach Ferrara. Dort stellt sie zwar fest, dass „es leichter ist, ein Geheimnis zu erfinden, als eins aufzudecken“, findet jedoch nach und nach mehr über ihre Familie heraus, als sie je erwartet hätte…

Abwechselnd erzählen die beiden Frauen in sehr kurzen, mir manchmal zu kurzen Kapiteln, Alma meist von der Vergangenheit, Antonia von der Gegenwart. Dies ist Daria Bignardi sehr gut gelungen, der Roman ist spannend und durch die beiden Perspektiven abwechslungsreich. Der Sprachstil ist eher einfach, dafür flüssig zu lesen, aber leider war mir die Handlung an einigen Stellen zu konstruiert. Überrascht war ich wieder einmal, wie leicht ich mich von Ich-Erzählern hinters Licht führen lasse, denn ein einziger Brief hat genügt, um manche Aussage des Buches zu relativieren, und dieser Kunstgriff ist der Autorin sehr gut gelungen.

Trotz der genannten Einschränkungen habe ich den Roman gerne gelesen, habe mich gut unterhalten gefühlt und kann ihn mit den genannten Einschränkungen weiterempfehlen.

Daria Bignardi: So glücklich wir waren. Insel 2016
www.suhrkamp.de

Christina Reuth-Jarraß: Die Tiefsee-Agenten im Bann der Kristalle

Ein Fantasy-Abenteuer für Erstleser

Achtung: Bei diesem Erstlesebuch des Loewe Verlags aus der Reihe Lesepiraten, vierte Lesestufe, handelt es sich um ein Buch für die zweite Klasse, nicht etwa, wie man fälschlicherweise vermuten könnte, für Viertklässler!

Die Lesepiraten-Bände zeichnen sich durch eine große, serifenlose Fibelschrift, kurze Zeilen im Flattersatz und viele, das Textverständnis unterstützende Bilder aus. Diese stammen hier von der Illustratorin Silvia Christoph, die die Bilder in den Farben blau, grün und braun ganz an die Zielgruppe Jungs angepasst hat.

Am Strand findet Tim eines Tages einen grün glitzernden Kristall an einer Kette, der hell aufleuchten kann, und einen silbernen Taucheranzug. Kaum hat er ihn angezogen und die Kette umgelegt, zieht es ihn schon magisch ins Meer, wo er immer weiter in die Tiefe gezogen wird. Am Meeresgrund wird er bereits erwartet: Die Tiefseeagenten, die dort ihre Kommandozentrale haben, brauchen dringend seine Hilfe…

Ein spannendes, gefährliches Abenteuer, das aber nie zu gruselig wird, viel Technik und ein altersmäßig passender kleiner Held sind die Zutaten zu diesem Fantasy-Erstlesebuch, das sicher viele kleine Leser, hoffentlich auch Lesemuffel, begeistern kann.

Christina Reuth-Jarraß: Die Tiefsee-Agenten im Bann der Kristalle. Loewe 2013
www.loewe-verlag.de

Silke Schlichtmann: Pernilla oder Wie die Beatles meine viel zu große Familie retteten

Sargnagel und Kuhlengräber – was für eine tolle Familie!

Nachdem ich Band zwei, Pernilla oder Warum wir nicht in den sauren Apfel beißen mussten, bereits kannte und sehr liebe, waren meine Erwartungen an Band eins, Pernilla oder Wie die Beatles meine viel zu große Familie retteten, entsprechend hoch – und wurden voll erfüllt!

Pernilla Petersen, die liebenswerte, vor Fantasie nur so sprühende siebenjährige Plappertasche aus Buxtehude, erzählt so fröhlich, unbeschwert und ungefiltert vom Familienalltag, man könnte es auch Familienwahnsinn nennen, dass es Erwachsenen wie Kindern einfach großen Spaß macht, ihr dabei zuzuhören.

Im vorliegenden Band freut sich Pernilla auf das neue Geschwisterchen. Doch dann kommen ihr Zweifel, als die unsensible Horterzieherin behauptet, Familien mit vier Kindern würden nirgendwohin mehr eingeladen. Dabei macht sie doch so gerne Besuche! Aber Pernilla wäre nicht Pernilla, wenn sie das Problem nicht offensiv angehen würde. Zusammen mit ihrem zwei Jahre älteren Bruder Ole heißt es nun „einen Plan planen“, und der hat es natürlich in sich. Mit viel List binden die beiden Verschwörer sogar den pubertierenden großen Bruder Lars in die „Soko the Beatles“ ein, der dank der hübschen Deike auf einmal überraschenderweise Spaß an der Musik findet. Und da die Kinder bei der Umsetzung ihrer Pläne wirklich keine „Fürchterlichkeit“ scheuen, wird es ganz schön turbulent…

Ob ich gerne Teil der Familie Petersen wäre? Als Kind bestimmt, denn die positive, warme Grundstimmung, die gemeinsamen Mahlzeiten, die kreativen Auseinandersetzungen unter den Geschwistern, das Füreinander-Einstehen und die perfekt ausbalancierte Mischung aus Strenge und Freiheit, Chaos und Ordnung ermöglichen Pernilla & Co. eine beneidenswerte Kindheit. Aber ob ich die Nerven von Vater und Bestattungsunternehmer Hannes oder Mutter und Krimiautorin Antje hätte, die fast immer gute Miene zum bösen Spiel machen, wenn ihre Kinder, natürlich mit den besten Absichten und dank überschießender Fantasie, wieder alles in Chaos stürzen? Bei Petersens lässt man sich jedenfalls nicht so leicht die Laune verderben, auch wenn „der Sarg mal wieder direkt in die Grube gerutscht ist“.

Ein wirklich herzerfrischendes, zugleich lustiges und nachdenkenswertes Kinderbuch, das eine meiner Lieblingsillustratorinnen, Susanne Göhlich, mit ihren kleinen Schwarz-Weiß-Zeichnungen wunderbar passend ergänzt hat. Ich kann das Buch aus den genannten Gründen zum Vorlesen ab sieben Jahren, zum Selberlesen für gute Leserinnen und Leser ab der dritten Klasse uneingeschränkt empfehlen. Die promovierte Literaturwissenschaftlerin Silke Schlichtmann gehört damit endgültig in die Reihe meiner Lieblings-Kinderbuchautorinnen.

Silke Schlichtmann: Pernilla oder Wie die Beatles meine viel zu große Familie retteten. Hanser 2015
www.hanser-literaturverlage.de

Banana Yoshimoto: Lebensgeister

Zu viele Geister für meinen Geschmack

Ich hatte mich sehr auf dieses kleine Büchlein gefreut, da die Gestaltung der sehr hochwertig hergestellten Klappenbroschur, die auch nach dem Lesen keinerlei Gebrauchsspuren zeigt, außerordentlich gut gelungen ist. Das Cover mit den federleicht schwebenden Blüten und der angenehmen Farbgebung passt sehr gut zum Titel und so hatte ich zunächst den Eindruck, eines „meiner“ Bücher in Händen zu halten.

Die Japanerin Banana Yoshimoto, geboren 1964, erzählt in Lebensgeister vom Kampf einer jungen Frau zurück ins Leben. Die Ich-Erzählerin Sayoko hat bei einem Autounfall ihren Lebenspartner verloren und wurde selbst schwer verletzt. Dabei wiegen die seelischen Wunden noch schwerer als die ebenfalls gravierenden körperlichen, denn der Künstler Yōichi war Sayokos große Liebe.

Konnte ich die Geister im ersten Teil der Geschichte, ihr verstorbener Großvater und ihr Hund, denen sie an der Schwelle zwischen Leben und Tod begegnet, noch gut akzeptieren, so sind mir die Geister von Verstorbenen, die sie nicht kannte und im zweiten Teil bei fortgeschrittener Heilung immer wieder sieht, zu viel geworden. Ob es daran liegt, dass mir jeglicher Sinn für Übersinnliches und Esoterik komplett abgeht? Auch die Menschen, die Sayoko neu kennenlernt, der Barkeeper aus ihrer Stammkneipe, in der sie jeden Abend trinkt, und der schwule Ataru sind mir fremd geblieben. Gut gefallen hat mir dagegen, wie Sayoko schließlich den Absprung aus der Wohnung ihrer liebevoll-besorgten Eltern schafft, ihr Verhältnis zu Yōichis Eltern, das dem einer Tochter sehr nahekommt, und das Bemühen um seinen künstlerischen Nachlass. Interessant fand ich auch das Bild des Nabels, den Sayoko verloren hat, und ihr Bemühen darum, ihn wieder zu finden.

Da ich bisher zu wenig japanische Literatur gelesen habe, kann ich nicht beurteilen, ob ich lediglich zu diesem Titel der Bestsellerautorin keinen guten Zugang gefunden habe, oder ob mir die Literatur dieses Landes generell fremd ist. An der Arbeit des Übersetzers Thomas Eggenberg hat es jedenfalls nicht gelegen, denn mit den vielen erklärenden Fußnoten hat er mich als japanunkundige Leserin bestens unterstützt.

Banana Yoshimoto: Lebensgeister. Diogenes 2016
www.diogenes.ch

Donal Ryan: Die Gesichter der Wahrheit

Ein irisches Stimmenpotpourri

Grund für die irische Finanzkrise 2008 waren eine Aufblähung des Finanzsektors durch den Kapitalzufluss ausländischer Unternehmen und riskante Immobilieninvestments. Zunächst verdienten die meisten Iren mit, dann kam der jähe Zusammenbruch, der von einigen als die schlimmste Zeit seit der großen Hungersnot in den 1840er-Jahren beschrieben wird.

In seinem zweiten Roman, Die Gesichter der Wahrheit, gibt der irische Schriftsteller Donal Ryan der Krise ein Gesicht, genauer gesagt 21 Gesichter. Diese 21 verschiedenen Protagonisten leben in einem Dorf in der Mitte Irlands, im County Tipperary, nicht weit von Limerick, wo auch der Autor zu Hause ist. In 21 Kapiteln erzählen sie von dem Strudel, in den die Krise sie gerissen hat, und von den Veränderungen im Dorf: „Es liegt was in der Luft, man merkt es daran, wie die Leute sich begegnen, mit grimmigen Gesichtern und funkelnden Augen, entweder voller Hektik oder zusammengedrängt in Grüppchen, die leise sprechen oder zu Boden schauen.“ Am Anfang scheinen es 21 lose Fäden zu sein, doch je länger man liest, desto mehr verwebt Donal Ryan sie zu einem Ganzen, zu einem bunten Teppich von Schicksalen, die aus der Bahn geraten sind, so sehr, dass am Ende ein Mord und eine Kindesentführung zu beklagen sind.

Ich habe diesen Roman während einer Irland-Rundreise gelesen und habe dabei ganz andere Menschen kennengelernt, als die freundlich lächelnden, völlige Ruhe ausstrahlenden Gastgeberinnen unserer B&Bs. Raue, wütende Stimmen sind dabei, depressive, anklagende und solche mit einer derben, sexualisierten und oft auch sehr fantasievollen Sprache. Mein Favorit für letzteres ist die Bezeichnung „Teekannen-Taliban“ für die Tratschweiber des Dorfes. Alle, die hier zu Wort kommen, haben es verdient, dass wir ihnen zuhören, und der 1976 in diesem Landstrich geborene Donal Ryan hat für sein Stimmungsbild eines irischen Dorfes zu Recht 2012 den Irish Book Award sowie 2013 den Guardian First Book Award erhalten und stand außerdem 2013 auf der Longlist des Man Booker Prize.

Donal Ryan: Die Gesichter der Wahrheit. Diogenes 2016
www.diogenes.ch

Henning Mankell: Die schwedischen Gummistiefel

Auch Menschen haben Tragebalken, die zerbrechen

Mag sein, dass ein Teil meiner Begeisterung für dieses Buch einerseits meiner Verehrung für Henning Mankell und andererseits meiner Liebe zu Schweden und zur Schärenlandschaft geschuldet ist. Mankells Tod im Oktober 2015 hat mich erschüttert und das Wissen, hier seinen letzten Roman in Händen zu halten, der von so tiefer Melancholie durchzogen ist, hat mich stark bewegt. Die Themen Einsamkeit, Alter und Tod stehen im Mittelpunkt, viel mehr als die eigentliche Handlung, und mit dem Wissen um Mankells schwere Erkrankung lesen sich die Gedanken und Gefühle seines Protagonisten Fredrik Welin mit einer selten empfundenen tiefen Intensität.

Fast alle Bücher von Henning Mankell haben mich begeistert, seine Wallander-Krimis natürlich, seine Kinderbücher und von seinen Afrika-Romanen vor allem Der Chronist der Winde. Besonders gut gefallen hat mir aber Die italienischen Schuhe, erschienen 2006, der Roman über einen einsamen älteren Chirurgen, der sich nach einem nicht wiedergutzumachenden Kunstfehler auf eine Schäreninsel zurückzieht und dort noch einmal mit seiner Vergangenheit konfrontiert wird. Nun hat Mankell als letztes Buch eine Fortsetzung dazu geschrieben, die acht Jahre später spielt und auch unabhängig gelesen werden kann.

Fredrik Welin, der mittlerweile 70jährige Schäreneremit, verliert in einer Nacht zu Beginn des Romans durch den Brand seines Hauses nahezu seinen ganzen Besitz. Retten kann er lediglich zwei linke Gummistiefel. Er ist ein alter, gebrochener Mann, der sich verzweifelt bemüht, neue schwedische Gummistiefel zu kaufen, wie man sie früher an jeder Ecke bekommen konnte, und der die chinesischen Produkte, die sich überall ausgebreitet haben, zutiefst ablehnt. Er, der „die neue Zeit“ in seinen Augen nur noch wird „streifen können“, fragt sich, ob sich ein Neuanfang, ein Neubau seines großelterlichen Hauses überhaupt noch lohnt. In seinen Gedanken hängt er mehr der Vergangenheit nach, jeder noch so kleine Anlass löst Erinnerungen an seine Großeltern, seinen Vater, seine Jugend aus, und die Angst vor körperlichem und geistigem Verfall, vor Siechtum und Tod lähmt ihn.

Doch Welin bleibt auf seiner Insel, haust in einem alten Wohnwagen und einem Zelt, trifft eine jüngere Journalistin, in die er sich zu verlieben glaubt, immer in der Hoffnung, dem Alter damit ein Schnippchen zu schlagen. Und dann ist da noch seine Tochter Louise, von deren Existenz er erst wenige Jahre zuvor erfahren hat, und die er kaum kennt. Mit ihr, der mir unsympathischsten Figur in einem Roman, in dem es kaum mir wirklich sympathische Figuren gibt, auch nicht Welin, kommt ein Stück Lebensmut zurück und der Entschluss zum Neubau.

Im letzten der vier Kapitel, von denen eines Welin zur Rettung seiner schwangeren Tochter sogar nach Paris führt, finden sich dann deutliche Spuren des begnadeten Krimiautors Mankell, wenn es um die Suche nach dem Brandstifter geht. Der hat inzwischen dreimal zugeschlagen und Welins Gedankengänge haben mich frappierend an Kurt Wallander erinnert.

Ein für mich großartiges Abschiedsbuch voller Melancholie, voller grandioser Naturbeschreibungen und den tröstlichen Schlusssätzen:

„Mittlerweile war es spät im August.
Bald würde der Herbst kommen.
Aber die Dunkelheit schreckte mich nicht mehr.“

Henning Mankell: Die schwedischen Gummistiefel. Zsolnay 2016
www.hanser-literaturverlage.de

Petra Gabriel: Die Gefangene des Kardinals

Eine Frau in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges

Auch der zweite historische Roman der geborenen Stuttgarterin Petra Gabriel spielt in Südbaden, allerdings dieses Mal nicht wie Zeit des Lavendels im 16., sondern im Falle von Die Gefangene des Kardinals im 17. Jahrhundert.

Es ist das Jahr 1638 mitten im Dreißigjährigen Krieg. In Laufenburg am Rhein muss Johanna, die Tochter des Bürgermeisters, erleben, wie schwedische Truppen unter dem Befehl des Herzogs von Weimar ihre Familie ermorden. Sie selber wird vergewaltigt und verstummt.

Als Junge verkleidet, um weiteren Nachstellungen zu entgehen, wird sie Schreiber im Dienst von Bernhard von Weimar. Aus Rache für das Schicksal ihrer Familie  versorgt sie die katholischen Widerstandskämpfer mit geheimen Informationen.

Doch wie kaum anders zu erwarten, verliebt Johanna sich in Bernhard von Weimar und dieser, als er die Verkleidungsposse durchschaut hat, auch in sie. Als Johanna schwanger wird, wird sie zum Spielball der Politik und Kardinal Richelieu möchte mit ihrer Geiselnahme die Herausgabe der bedeutenden Festung Breisach erpressen…

Ein historischer Roman für die Hängematte und für alle, die die Kombination von historischen Fakten und dramatischer (Liebes-)Geschichte mögen.

Petra Gabriel: Die Gefangene des Kardinals. Piper 2003
www.piper.de

Petra Gabriel: Zeit des Lavendels

Ein historischer Roman aus der Zeit der Reformation

Zum Reformationsjubiläum 2017 passt der historische Roman Zeit des Lavendels von Petra Gabriel, in dem es um das dramatische Schicksal einer jungen Frau Mitte des 16. Jahrhunderts geht. Der Bauernkrieg ist kaum 20 Jahre vorbei, die Buntschuhler noch in den Wäldern, Luthers Lehren faszinieren immer mehr Menschen, obwohl die katholische Kirche die „Ketzer“ verfolgt, und die Hexenverfolgungen sind auf ihrem Höhepunkt.

Im Mittelpunkt des Romans steht Katharina, ein Findelkind, das im weltlichen Damenstift Seggingen aufgezogen wurde. Als sie wegen ihrer Heilkünste als Hexe „entlarvt“ wird, muss sie zur Schwester der Äbtissin des Stifts ins reformierte, tolerante Basel fliehen. Dort verfällt sie dem Diakon, Frauenheld und Bösewicht Thomas Leimer, der mit den Protestanten sympathisiert. Es bedarf zahlreicher Verwicklungen und Schicksalsschläge, ehe es für Katharina zu einem Happy End kommt.

Ich habe bei der Lektüre wieder einmal festgestellt, dass historische Romane dieser Art nicht mein Ding sind, weder in sprachlicher Sicht noch mit der klaren Gut-Böse-Zuordnung. Außerdem bin ich mit der Figur der Katharina und ihren Entscheidung nicht recht warm geworden. Wer aber gerne historische Romane mit einer Liebesgeschichte liest, wird mit diesem Buch wahrscheinlich glücklicher als ich.

Petra Gabriel: Zeit des Lavendels. Bastei Lübbe 2002
www.luebbe.de/bastei-luebbe