Antons beste Jahre
Am 18. März 2018 wurde Wladimir Putin für eine vierte Amtszeit als Präsident der Russischen Föderation wiedergewählt. Angesichts seiner halbdemokratischen, halbautoritären Regierungsweise sprechen westliche Kritiker von Putinismus. Wer verstehen möchte, warum sich dieser ehemalige KBG-Mitarbeiter in Russland großer Zustimmung erfreut, könnte im Roman Blasse Helden des unter Pseudonym schreibenden Arthur Isarin Antworten finden.
In sieben Episoden begleiten wir den Protagonisten Anton durch das Russland der Jahre 1990 bis 1999, dem Jahr, als Putin erstmals als Ministerpräsident vereidigt wurde. Anton ist Deutscher, studierter Ökonom, profunder Kenner und Liebhaber russischer Literatur und Musik und arbeitet in Moskau für einen russischen Kohle- und Stahlkonzern. Zu Beginn 32 Jahre alt, ist er nach Russland gekommen, „um mehr zu erleben als in London oder New York“. Er fühlt sich frei, genießt die Privilegien, die sich für ihn nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion auftun, beutet als Parasit das Land aus und „lebt zum ersten Mal nicht mehr vorläufig“: „Diese Stadt war für ihn geschaffen, sie verzieh alles, auch seinen Mangel an Grundsätzen, Substanz und Tiefe.“ Es ist die beste Phase seiner Existenz: „Er fühlte sich wohl in Russland, in seiner überbezahlten Position, die ihm alles ermöglichte, wovon ein zur Faulheit neigender Mann seiner Herkunft mit durchschnittlichen Fähigkeiten nur träumen konnte.“ Für Anton zählt nur das Geld, das er für Frauen, Theater- und Konzertbesuche der ersten Kategorie mit vollen Händen ausgibt. Korruption ist sein alltägliches Geschäft, er interessiert sich nicht für Politik, lebt in einer surrealistisch anmutenden Blase und schaut beim Überlebenskampf der Massen gerne weg. Immerhin hat er einige wenige Grundsätze: Er beteiligt sich nicht am Handel mit Drogen, Waffen und Frauen.
Ich habe mich mit dem Einstieg in diesen Episoden-Roman nicht leichtgetan, denn Isarin setzt eine Menge Wissen um die neuere russische Geschichte und Politik voraus, und auch die Anspielungen auf die russischen Klassiker habe ich mangels Vorkenntnissen leider nicht immer verstanden. Mit zunehmender Lektüre haben mich der Gang der Handlung und die Atmosphäre des Romans aber immer mehr gefesselt, bis zum Ende 1999, als der „blasse Held“ Anton sich entscheiden muss. Das Volk hat endgültig genug von Korruption, der Macht der Oligarchen, dem Krieg im Kaukasus und der Expansion von McDonald’s. Mit dem Aufstieg Putins kommen alte KGB-Funktionäre wieder in Amt und Würden und einer von ihnen stellt Anton vor die Wahl: entweder Teil des neuen, aufsteigenden Russlands und noch reicher werden oder den russischen Traum aufgeben. Für Anton ist es die Entscheidung zwischen Geld und Freiheit.
Auch wenn das Lesen dieses Romans sich für mich manchmal wie Arbeit angefühlt hat, hat sich die Mühe doch eindeutig gelohnt. Neben den Einblicken in die 1990er-Jahre der untergegangenen Sowjetunion habe ich viele Anregungen zum Lesen russischer Klassiker bekommen. Auf einige Sexszenen, vor allem zu Beginn des Romans, hätte ich gerne verzichtet, aber die Ironie Isarins hat mich immer wieder laut auflachen lassen, wenn er beispielsweise die sich nach einem Anschlag in einem Restaurant unter dem Tisch versteckten Gäste beschreibt: „Unter dem Tisch hatte sich eine idyllische Szene entwickelt, die entfernt an Manets ‚Frühstück im Grünen‘ erinnerte.“
Arthur Isarin: Blasse Helden. Knaus 2018
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