Bret Anthony Johnston: Justins Heimkehr

Eine Familie am Abgrund

Verschwindet ein Kind, liegt der Fokus der Medien zunächst auf der betroffenen Familie. Taucht das Kind jedoch wieder auf, stehen Opfer und Täter im Mittelpunkt des Interesses, das Verbrechen und der Prozess.

Ganz anders macht es der US-Amerikaner Bret Anthony Johnston in seinem Debütroman Justins Heimkehr. Auch nachdem Justin vier Jahre, zwei Wochen und vier Tage nach seiner Entführung befreit wird, bleibt der Fokus auf den Eltern Laura und Eric, dem jüngeren Bruder Griff und dem Großvater Cecil. Sie sind die Hauptfiguren in Johnstons Roman, Justin und sein Entführer Dwight Harrell bleiben dagegen im Hintergrund und nur ab und zu erfährt man mehr zufällig Bruchstücke ihrer Geschichte. Sensationslust wird hier definitiv nicht befriedigt und das Buch ist kein Thriller. Die Tat als solche ist deutlich weniger wichtig als die Folgen.

Die ersten Seiten des Romans schildern den Zustand von Justins Familie kurz vor der Rückkehr des mittlerweile 16-Jährigen, die Suche, die Hoffnung, die Selbstvorwürfe, die Grübeleien, die Verzweiflung, den Schmerz, die Fluchten, die Gewöhnung an das Unvorstellbare, die Sprachlosigkeit und die Entfremdung. Jedes Familienmitglied hat im Laufe der Jahre eigene Überlebensstrategien entwickelt.

Dann ist Justin von einer zur anderen Stunde plötzlich wieder da. „Sie können wieder eine richtige Familie sein“, sagt Staatsanwalt Garcia, aber auch: „Wir sind noch nicht aus dem Gröbsten heraus“. Erneut sind Strategien gefragt, Strategien, um aus Laura, Eric, Griff und Justin wieder das zu machen, was sie vier Jahre zuvor ganz selbstverständlich waren: eine texanische Mittelklassefamilie in einem kleinen Farmhaus in Corpus Christi, nahe der mexikanischen Grenze. Und noch etwas will gelernt sein, die Beherrschung von Rachegefühlen.

Der Spannungsbogen, den der „Fiction Writing“ an der Harvard University unterrichtende Autor aufbaut, beschränkt sich nicht nur auf die sehr intensive Beschreibung des Innenlebens der Protagonisten Laura, Eric, Griff und Cecil. Neben dem Schicksal des Täters, der sich nicht schuldig bekennt und zwischendurch sogar gegen Kaution auf freien Fuß kommt, hat eine im Prolog unterhalb der Harbor Bridge mit dem Kopf nach unten treibende Leiche meine Fantasie während der gesamten Lektüre beschäftigt. Nach und nach hätte ich jeder der Hauptfiguren einen Selbstmord zugetraut, vielleicht sogar einen Mord.

Justins Heimkehr hat mich durch seine ungewöhnliche Perspektive, durch das Einfühlungsvermögen des Autors, das texanische Lokalkolorit und die perfekte Komposition überzeugt. Dass nicht jede Frage am Ende geklärt wird, liegt in der Natur des Themas, denn einen wirklichen Abschluss wird die Geschichte niemals finden, jedoch habe ich den Schluss nicht als offen empfunden. Für mich ein Lesehighlight 2016!

Bret Anthony Johnston: Justins Heimkehr. C.H. Beck 2016
www.chbeck.de

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