Impressionen aus dem Literaturland Normandie – Teil 2 (Calvados)

Teil 1 des Beitrags gibt es hier.

Flagge der Normandie. © M. Busch

Département Calvados

La tapisserie de Bayeux, der Teppich von Bayeux, wird von manchen als mittelalterlicher Urcomic bezeichnet. Bei dem 68 Meter langen und 50 Zentimeter hohen, mit farbigen Wollfäden bestickten Leinen aus dem 11. Jahrhundert handelt es sich um eine bildhafte Geschichtsdarstellung, die in 73 Szenen die Ereignisse rund um die Schlacht von Hastings mit der normannischen Unterwerfung Englands durch Wilhelm den Eroberer erzählt – mit verblüffenden und oft witzigen Details.

Der Teppich von Bayeux. © B. Busch
© B. Busch

In der weitgehend gotischen Kathedrale von Bayeux, für die der Teppich einst angefertigt wurde, gibt es einen Tympanon, der dem Märtyrer Thomas Becket (1118 – 1170), Erzbischof von Canterbury, gewidmet ist. Erinnert hat mich das an eines meiner Abiturthemen im Leistungskurs Französisch, das Schauspiel Becket ou l’Honneur de Dieu von Jean Anouilh (1910 – 1987), uraufgeführt 1919, das mir damals sehr gut gefallen hat – ganz im Gegensatz zum zweiten literarischen Schwerpunkt, Candide von Voltaire (1694 – 1778).

Auch wenn das erstmals 1938 erschienene Buch La Marie du Port des Belgiers Georges Simenon (1903 – 1989) beim Verlag Gallimard in der Reihe folio policier erscheint, ist es doch ausnahmsweise kein Krimi. Georges Simenon schrieb den Roman, der bei seinem Erscheinen auf allgemeine Begeisterung stieß, und mit dem er eine neue Stufe in seiner künstlerischen Entwicklung zu erreichen hoffte, 1937 während eines Aufenthalts im Hotel de l’Europe in Port-en-Bessin, wo er auch größtenteils spielt. Besonders die Szenen am Hafen und an der Drehbrücke mit der stimmungsvollen Atmosphäre, aber auch die sehr geheimnisvolle Protagonistin haben mir beim Lesen vor Ort Spaß gemacht.

Port-en-Bessin. © B. Busch

Deauville, international bekanntes Seebad an der normannischen Küste mit großem Yachthafen, Edelbutiken, fast endloser Strandpromenade „Les planches“, nostalgischen Strandkabinen, Pferderennbahn, Casino sowie Villen und Luxushotels aus der Belle Époque, zieht schon lange viel Prominenz an, unter ihnen die Maler des Impressionismus.

Der große französische Schriftsteller Gustave Flaubert (1821 – 1880) war ein Stammgast, als Deauville noch ein einfaches Dorf war. Seine Eltern besaßen hier einen Bauernhof, den er 1875 verkaufte.

Wesentlich mondäner war Deauville durch die Eisenbahnverbindung nach Paris schon längst, als der britische Romancier, Lyriker, Kritiker und Verleger Ford Maddox Ford (1873 – 1939) seinen Lebensmittelpunkt ab 1922 nach Frankreich verlegte, später zusätzlich in die USA. Er starb in Deauville. Von ihm stammt die Theorie der Seite 99, die man von einem Buch lesen muss, um sich ein Bild vom Ganzen zu machen. Tatsächlich nutze ich diese Idee von Zeit zu Zeit erfolgreich.

Deauville. © M. Busch

Nur durch das Flüsschen Touques von Deauville getrennt, ist Trouville-sur-Mer zwar älter und traditionsreicher, jedoch nicht so mondän wie die berühmte Nachbarin. „Nach Deauville kommt man, um sich zu zeigen; nach Trouville kommt man, um zu leben“, sagt der Volksmund.

Gustave Flaubert (1821 – 1880) erlebte am Strand von Trouville-sur-Mer einen fulminanten „Coup de foudre“, als er im Alter von 15 Jahren der 26-jährigen verheirateten Elisa Schlésinger begegnete. Diese unerfüllte Liebe beschäftigte ihn lebenslang und fand Eingang in sein Werk, unter anderem in L’éducation sentimentale. Eine Statue Flauberts am Ufer der Touques blickt in Richtung des Hotels der Verehrten und erinnert an die Begegnung.

Das direkt am Strand gelegene ehemalige Hotel Les Roches Noires aus dem Jahr 1866, das 1959 in Privatappartements umgewandelt wurde, war ein beliebter Urlaubsort für Persönlichkeiten wie Marcel Proust (1871 – 1922) und Marguerite Duras (1914 – 1996). Proust weilte ab 1885 mehrere Sommer in Trouville, wechselte aber nach der Eröffnung des neuen Grand Hotels ab 1907 bis 1914 ins nur 20 Kilometer entfernten Cabourg. Diesem Seebad setzte er in seinem Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit unter dem Namen „Balbec“ ein Denkmal, allerdings ergänzt durch die Felsen von Trouville.

Les Roches Noires in Trouville-sur-Mer. © M. Busch
Trouville-sur-Mer, Strand. © M. Busch

Wie an viele andere Berühmtheiten erinnert auch an Marcel Proust heute eine Bank am Strand.

Marguerite Duras kaufte 1963 ein Appartement in Les Rouges Noires und verbrachte ihre letzten beiden Lebensjahrzehnte berühmt, vereinsamt und schwer alkoholabhängig hauptsächlich hier. Ab 1980 bis zu ihrem Tod leistete ihr der junge homosexuelle Philosophiestudent Yann Andréa (1952 – 2014) Gesellschaft, Möchtegern-Dichter, Bewunderer, Muse, Sekretär, Fahrer, Vertrauter, Hausmädchen, letzter Geliebter und Krankenpfleger. Die Treppe neben dem ehemaligen Hotel ist heute nach ihr benannt und eine Tafel erinnert an sie: „Regarder la mer est regarder le tout“. Ihre Bücher habe ich vor vielen Jahren mit Begeisterung gelesen, zuletzt dann 2018 die Biografie von Jens Rosteck mit dem Titel Marguerite Duras. Der Besuch in Trouville motiviert dazu, ihr Werk wiederzuentdecken.

Trouville-sur-Mer und Marguerite Duras. © M.&B. Busch

Das „Maison des Associations“ in Trouville-sur-Mer trägt zu Ehren von Stéphane Hessel (1917 – 2013) dessen Namen. 2010 landete der Widerstandskämpfer, KZ-Überlebende, Diplomat und Essayist mit seinem schmalen politischen Manifest Empört euch! einen internationalen Bestseller. Während der letzten 20 Jahre seines Leben verbrachte er viel Zeit in seinem eigenen Appartment in der Stadt, die für ihn zum Zufluchts- und Rückzugsort wurde.

„Seltsame und faszinierende Menschen am Strand, in den Hotels und auf den Promenaden“ sind der Stoff  von Undine Gruentner (1952 – 2003) in ihrem Erzählband Sommergäste in Trouville aus dem Jahr 2003, den ich unbedingt bald lesen möchte.

Ab 1859 hielt sich der Dichter Charles Baudelaire (1821 – 1867), der Verfasser von Les Fleurs du mal, nach dem Tod des verhassten Stiefvaters mehrmals länger in Honfleur bei seiner Mutter auf, deren Haus heute verschwunden ist. Einige seiner berühmten Gedichte sind in Honfleur entstanden, unter anderem Le Port, veröffentlich 1869 in der Sammlung Le Spleen de Paris: „Un port est un séjour charmant pour une âme fatigueé des luttes de la vie…“. Während seiner Besuche in der Stadt, die er mehr liebte als sie ihn, verbrachte er viel Zeit am Hafen.

Honfleur. © M. Busch

Nur etwa fünf Kilometer vom Trubel von Honfleur entfernt liegt abgeschieden das malerische Dörfchen Barneville-la-Bertrand. Etwas außerhalb davon findet man Le manoir de Breuil, einen alten normannischen Herrensitz aus dem 18. Jahrhundert, den Françoise Sagan (1935 – 2004) mit einem Casinogewinn im nahen Deauville 1958 kaufte. Sie behielt ihn bis zu ihrem Tod 2004 in einem nahen Krankenhaus. Die vorherigen Besitzer und Bewohner waren Vater und Sohn Guitry, der Schauspieler Lucien Guitry (1860 – 1925) und Sacha Guitry (1885 – 1957), ebenfalls Schauspieler, aber auch Filmregisseur, Dramatiker und Drehbuchautor. Die Romane von Françoise Sagan habe ich als Jugendliche verschlungen, vor allem Bonjour tristesse von 1954, das 2017 von Rainer Moritz neu übersetzt wurde, und Ein gewisses Lächeln von 1955. In jüngerer Zeit hat mir Lieben Sie Brahms aus dem Jahr 1959 gut gefallen.

Le manoir de Breuil und Françoise Sagan. © M&B. Busch

 

Teil 3 des Beitrags gibt es hier.

Impressionen aus dem Literaturland Normandie – Teil 1 (Manche)

Flagge der Normandie. © M. Busch

Als ich während unserer Norwegen-Reise im Sommer 2022 aufgrund einer spontanen Idee Impressionen aus dem Literaturland Norwegen zusammentrug und hier veröffentlichte, war ich überrascht, welch großen Spaß ich dabei hatte und wie groß die Resonanz war.  Nun, im Sommer 2023, bin ich unerwartet in der Normandie wieder auf so viele literarische Spuren gestoßen, dass sich eine Neuauflage fast von selbst ergab, dieses Mal sogar in drei Teilen. Nicht berücksichtigt habe ich die überaus zahlreichen Regionalkrimis deutscher und französischer Autorinnen und Autoren, über die man sich leicht selbst ein Bild machen kann.

Begleitet haben uns auf der Reise durch die Départements Manche (50), Calvados (14) und Seine-Maritime (76) der Reiseführer Normandie aus dem Michael Müller Verlag von Ralf Nestmeyer, fundiert, gut lesbar, mit vielen Anekdoten und interessanten Informationen, auch zu literarischen Bezügen. In der 3. Auflage von 2016 war er noch größtenteils aktuell, inzwischen gibt es eine Neuauflage von 2022. Drei Karten von Michelin im Maßstab 1:200.000 bzw. 1:150.000 haben uns in Ergänzung zum Autonavi überall zuverlässig ans Ziel gebracht. Auf den Ohren hatten wir mit Sehnsucht Frankreich (Der Hörverlag) sehr empfehlenswerte Features vom BR2, von denen drei – Le Havre, Étretat und der Mont-Saint-Michel – die Normandie betreffen.

© B. Busch

Département Manche

2013 war der Roman Die Brandungswelle von Claudie Gallay (*1961), im Original bereits 2008 erschienen, mein Lieblingsbuch. Er spielt auf der Halbinsel Cotentin, besonders am Cap de la Hague, wohin sich die namenlose Ich-Erzählerin in der Trauer um ihren Partner auf eine ornithologische Station zurückgezogen hat. Eine bedeutende Rolle kommt im Roman der rauen Natur zu, den vom Schicksal gezeichneten Dorfbewohnern und einem Gedicht von Jacques Prévert: Le gardien de phare aime trop les oiseaux. Claudie Gallay hat Teile des Buches in einem Fremdenzimmer mit Blick auf den Phare de Goury verfasst. Sehr empfehlenswert ist auch die Verfilmung von Éléonore Faucher mit dem deutschen Titel Gestrandet aus dem Jahr 2013.

Cap de la Hague und Phare de Goury. © M. Busch

Nur wenige Kilometer vom Leuchtturm von Goury entfernt hat der große französische Lyriker, Romancier und Drehbuchautor so berühmter Filme wie die Kinder des Olymp (1945) und Der Glöckner von Notre Dame (1956) gelebt: Jacques Prévert (1900 – 1977). Viele seiner gut zugänglichen Gedichte wurden vertont, darunter Les feuilles sont mortes und Barbara (über die Bombardierung von Brest während des Zweiten Weltkriegs), und von so bekannten Chansonniers wie Juliette Greco oder Yves Montand interpretiert. Sein Haus in Omonville-la-Petite, wo er ab 1971 inmitten eines herrlichen Gartens gelebt hat, sowie sein Grab auf dem örtlichen Friedhof lohnen einen Besuch sehr.

Haus, Grab und Picasso-Porträt von Jacques Prévert in Omonville-la-Petite. © B.&M. Busch

Von eher lokaler Bedeutung, wegen ihrer bäuerlichen Herkunft jedoch interessant, ist die Müllerin und Dichterin Marie Ravenel (1811 – 1893), die ihr ganzes Leben im Cotentin verbrachte. Die reetgedeckte Wassermühle aus dem 18. Jahrhundert in Réthoville, in der sie bis 1838 lebte, ist wunderschön restauriert und heute Museum. Ihre naturverbundenen Gedichte über ihre Heimat, die sie ab 1852 veröffentlichte, erscheinen in Frankreich bis heute.

Die Wassermühle der Marie Ravenel in Réthoville. © B. Busch

Ein weiteres Geburtshaus eines Dichters kann man in Saint-Sauveur-le-Vicomte besichtigen. Hier kam der Schriftsteller, Essayist, Kunstkritiker, Journalist und Moralist Jules Barbey d’Aurevilly (1808 – 1889) zur Welt, exzentrischer Dandy, überzeugter Monarchist, Katholik und scharfer Kritiker der Moderne. Der Verlag Matthes & Seitz hat sieben seiner Werke in den letzten Jahren in neuer deutscher Übersetzung aufgelegt, darunter Die alte Mätresse (2008), verfilmt 1975 und teilweise im Cotentin spielend, Gegen Goethe (2006) und Über das Dandytum (2006). Sein Grab befindet sich heute unterhalb des mittelalterlichen Schlosses seiner Geburtsstadt, nachdem er zunächst auf dem Friedhof Montparnasse in seiner Wahlheimatstadt Paris bestattet worden war.

Saint-Sauveur-le-Vicomte und Jules Barbey d’Aurevilly. © B. Busch

Immerhin einen Urlaub verbrachte Émile Zola (1840 – 1902) im Cotentin: 1881 im hübschen Hafenstädtchen Saint-Vaast-la-Hogue, das für seine Austern bis nach Paris bekannt ist. Allerdings spielt seine pointierte und auch als Hörbuch sehr empfehlenswerte Erzählung Die Muscheln von Monsieur Chabre nicht an der normannischen, sondern an der bretonischen Atlantikküste – leider, denn sie hätte sehr gut hierher gepasst.

St.-Vaast-la-Hogue. © B. Busch

Dafür stammt die Protagonistin Denise aus seinem großen und sehr empfehlenswerten Roman Das Paradies der Damen aus Valognes, einer Kleinstadt im Zentrum der Halbinsel.

Die Ouest-France online berichtete am 3.08.2023 über den Tod des Journalisten und Romanciers Gilles Perrault (1931 – 2023) in seinem Wohnort Sainte-Marie-du-Mont. Da mir sein Name bekannt vorkam und wir am nächsten Tag zufällig durch das Städtchen kamen, ging ich der Sache nach. Tatsächlich steht seit etwa 40 Jahren sein Sachbuch Auf den Spuren der roten Kapelle in meinem Bücherschrank und hat mich seinerzeit bei der Lektüre sehr fasziniert. Allerdings scheint es dem heutigen Forschungsstand zu Widerstandsgruppen im Dritten Reich nicht mehr zu entsprechen.

Sainte-Marie-du-Mont und Gilles Perrault. © B. Busch

In Cherbourg verlockte die sehr gut sortierte und übersichtliche Librairie Ryst zum Einkauf.

Cherbourg, Librairie Ryst. © B. Busch

An der Fassade des Theaters von Cherbourg sind die Büsten der großen französischen Dramatiker Molière (1622 – 1673) und Pierre Corneille (1606 – 1684) zu sehen, die den Komponisten François-Adrieu Boieldieu (1775 – 1834) einrahmen. Corneille und Boieldieu sind gebürtig in der normannischen Hauptstadt Rouen.

Theater von Cherbourg. © B. Busch

Eine besondere Entdeckung bot das Château des Ravalets im Cherbourger Vorort Tourlaville: eine Ausstellung des Comic- sowie Graphic-Novel-Künstlers und Schriftstellers Fabio Viscogliosi (*1965). Seine knallbunten, flächigen Comiczeichnungen an den Wänden eines deutlich in die Jahre gekommenen Renaissance-Schlosses bildeten einen ebenso überraschenden wie gelungenen Kontrast.

Château des Ravalets. © B. Busch

Bekannt ist das Schloss für die inzestuöse Liebe der Geschwister Ravalet, die deswegen am 2. Dezember 1603 in Paris enthauptet wurden. Für den französischen Autor Tancrède Martel (1856 – 1928) war dieser Skandal 1920 Vorlage für seinen historischen Roman Julien et Marguerite de Ravalet 1582 – 1603.

Gedenktafel im Museum Utah Beach. © B. Busch

Im Musée du débarquement am Utah Beach, einem der Landungsstrände der Alliierten am 6. Juni 1944, gibt es eine Gedenktafel für den Schriftsteller und Piloten Antoine de Saint-Exupéry (1900 – 1944), der vor allem mit Der kleine Prinz bekannt wurde. Obwohl er nicht an der Landung beteiligt war, wird an sein tiefes Gefühl der Dankbarkeit gegenüber den Amerikanern erinnert, das er in einem Lettre à un américan 1944 zum Ausdruck brachte.

Überall in der Manche gibt es inzwischen offene Bücherschränke, selbst in kleinsten Dörfern. Leider kann der Inhalt meist nicht mit dem Äußeren der Boîtes à livres mithalten.

Offene Bücherschränke in der Manche. © B. Busch

 

Teil 2 des Beitrags gibt es hier.

Ewald Frie: Ein Hof und elf Geschwister

  Die stille Revolution

Neben vielen anderen Literaturauszeichnungen gibt es seit 2021 den Deutschen Sachbuchpreis für das beste Sachbuch des Jahres, ausgewählt von der Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels. Ausgezeichnet wird ein herausragendes Sachbuch in deutschsprachiger Originalausgabe, das Impulse für die gesellschaftliche Auseinandersetzung gibt. Der Siegertitel 2023, Ein Hof und elf Geschwister von Ewald Frie, stand bereits vorher fest auf meiner Leseliste. Der Text setzt sich aus persönlicher Perspektive und Fakten zusammen, deren Quellen im 20 Seiten umfassenden Anhang akribisch dokumentiert sind, „ein Grenzfall, von Wissenschaft wie von Familiensinn“ (S. 16) und ein Glücksfall im Bereich des erzählenden Sachbuchs.

Münsterland statt Pazifik
Es spricht für die große Flexibilität von Ewald Frie, geboren 1962, Professor für Neuere Geschichte an der Universität Tübingen, dass er während der Coronazeit wegen der Einschränkungen der Reise- und Recherchemöglichkeiten von einem Projekt über die Geschichte des Pazifiks auswich auf eine bereits länger bestehende Idee: die Entwicklung der Landwirtschaft in Deutschland ab den 1940er-Jahren. Am Beispiel der eigenen Familiengeschichte auf einem Hof in einer Bauernschaft im stark katholisch geprägten Münsterland zwei Kilometer abseits des Dorfes Nottuln untersuchte Ewald Frie den Umbruch des bäuerlichen Lebens. Grundlage waren Nachforschungen im hofeigenen und in örtlichen Archiven sowie das Studium von 20 Jahrgängen des Landwirtschaftlichen Wochenblatts und zeitgenössischer Literatur, vor allem aber Interviews mit seinen zehn Geschwistern. Diese Protokolle sind vor allem deshalb so ergiebig, weil deren Geburtsdaten zwischen 1944 und 1969 weit auseinanderliegen. Ihre Kindheiten waren dadurch sehr unterschiedlich und sie vermitteln dementsprechend in den von ihnen beschriebenen Familienszenen völlig unterschiedliche Sichtweisen auf das bäuerliche Leben:

In ihnen spiegelt sich die Geschichte der Bundesrepublik, aus dem ungewöhnlichen Blickwinkel einer katholischen Bauernfamilie jenseits des Dorfes. Elf Geschwister erleben Wandel: von Familie und Bauerngesellschaft, von Arbeit und Fest, von Katholizismus und Alltagsreligiosität, von Essen und Trinken, von Spiel und Schule. (S. 14)

© Hintergrund: M. Busch, Collage: B. Busch

Neue Wege
Erlebten die älteren Kinder noch die Zeit der Knechte und Mägde und der körperlichen Schwerstarbeit, die Hochphase der Rindviehzucht mit den dazugehörigen Zuchtviehmärkten, waren stolz auf den Vater, einen erfolgreichen, angesehenen Landwirt und von ganzem Herzen Bauer, hatten kaum Sozialkontakte zum Dorf, durften nicht in den Fußballverein und waren zuhause als Arbeitskräfte unentbehrlich, schämten sich die jüngeren für den Stallgeruch und hörten allmählich auf, Bauernkinder zu sein. 1972 fand letztmals eine traditionelle Hofübergabe vom Vater an den ältesten Sohn statt, gefördert vom Staat, der den Wandel zum nun propagierten Einmannbetrieb unterstützte. Nur der älteste Bruder blieb in der Landwirtschaft, alle anderen verließen den bäuerlichen Sektor. Sehr eindrücklich ist der Einfluss der katholischen Kirche und insbesondere des 1971 eingeführten BAföGs auf die Bildungsbiografien beschrieben. Den größten Anteil an der erfolgreichen Ausbildung aller Kinder hatten allerdings die Eltern, vor allem die Mutter:

Alle sollten genau das machen, wofür sie eine besondere Neigung verspürten. (S. 143)

Innovative Geschichtsschreibung
Nicht nur der Inhalt dieses zu recht preisgekrönten, nur 169 Textseiten umfassenden Sachbuchs hat mich beeindruckt, sondern insbesondere auch sein Ton: unaufgeregt und klar, voller Dankbarkeit und Wertschätzung für die Leistung der Eltern, aber ohne nostalgische Verklärung und ohne jeden Anflug von Überheblichkeit.

Die Jury nennt Ewald Fries Buch „ein inspirierendes Beispiel für innovative Geschichtsschreibung“, ein lehrreiches, mitreißendes, glänzend geschriebenes und unterhaltsames ist es dazu.

Ewald Frie: Ein Hof und elf Geschwister. C.H. Beck 2023
www.chbeck.de

Roxanne Bouchard: Der dunkle Sog des Meeres

  Zwei Fremde in der Gaspésie

Die Gaspésie ist ein Arme-Leute-Land, sein einziger Reichtum ist das Meer, und das stirbt gerade. (S. 303)

Jahrhundertelang war die ostkanadische Halbinsel Gaspésie zwischen der Mündung des Sankt-Lorenz-Stroms und der Baie-des-Chaleurs für viele Einwanderer und Seefahrer erster Eindruck vom amerikanischen Kontinent. Prägend ist bis heute der Fischfang, obwohl dieser traditionell bedeutendste Wirtschaftszweig durch Überfischung zugunsten des Tourismus an Bedeutung verliert.

Der Erinnerung an schöne Ferientage 2014 in der Gaspésie, an Leuchttürme, verschlafene Dörfer mit Holzhäusern, den Parc national de Forillou, Wale, Seevögel, Seehunde, den berühmten Felsen von Percé (leider im Regen) und die wohltuende Stille nach dem lebhaften Montréal ließ mich 2022 zu einem Gaspésie-Krimi greifen: Die Korallenbraut von Roxanne Bouchard, zweiter Band der Joaquín-Morales-Reihe, mit dem von Montréal in die Gaspésie umgezogenen, aus Mexiko stammenden Ermittler. Nun habe ich den ersten Band Der dunkle Sog des Meeres nachgeholt, ebenfalls mit viel Gaspésie-Atmosphäre, allerdings nicht ganz so gut wie Band zwei. Bei beiden tritt die Krimihandlung zugunsten der Beschreibung von Meer, Land und Leuten, aber auch der Midlife-Krise des Ermittlers zurück. Krimifans könnten deswegen enttäuscht, Gaspésie-Interessierte dafür umso entzückter sein.

Eine Tote im Meer
Die 1972 geborenen, mehrfach ausgezeichnete franko-kanadischen Autorin Roxanne Bouchard verwebt in Der dunkle Sog des Meeres mehrere Handlungsebenen und Perspektiven.

Zeitweise Ich-Erzählerin ist Catherine Day, Mitte 30, aus Montréal und nach dem Tod ihrer Pflegeeltern depressiv. Die Suche nach ihrer leiblichen Mutter führt sie nach Caplan an der Baie-des-Chaleurs, doch niemand dort will mit ihr über Marie Garant reden. Bevor es zu einem Treffen kommt, wird die Leiche dieser Frau, die die Dorfgemeinschaft polarisierte und die oft jahrelang mit ihrem Segelboot unterwegs war, aus dem Meer gefischt.

Glück für den Polizeiposten Bonaventure, dass zeitgleich der neue Ermittler Joaquín Morales aus Montréal eintrifft, der eigentlich zunächst das neue Haus für sich und seine Frau Sarah einrichten will. Kurzerhand überträgt man ihm den Fall, obwohl – oder eher gerade weil – er hier niemanden kennt.

© Einzelfotos: M. Busch, Collage: B. Busch

Düsteres Schweigen
Beide, Catherine und Morales, unvertraut mit der Mentalität und den Gepflogenheiten der Gaspésie, beginnen ihre Recherchen, Catherine nach dem Leben ihrer Mutter und ihrem unbekannten Vater, Morales nach der Todesursache Marie Garants: Unfall? Mord? Oder Selbstmord? Wenig tragen die Dörfler zur Aufklärung bei, freiwillig reden sie nur über das Meer. Außerdem ist der Ermittler viel zu sehr durch Eheprobleme und seine Midlife-Krise abgelenkt. Keine Chance, hier mit Montréaler Methoden zum Erfolg zu kommen, wie ihm der todkranke alte Fischer Cyrille Bernard vorwirft:

Weil Sie nicht wissen wollen, wer sie war, wie sie gelebt hat, was sie liebte. Sie wollen gar nichts wissen! Sie hängen viel zu sehr an ihrer Leiche, dass Sie sich nicht mehr daran erinnern, dass das mal eine lebendige Frau war! (S. 274)

Insgesamt hätte ich mir für diesen ersten Band weniger männliche Lebenskrise und dafür mehr Spannung gewünscht. Menschliche Verwicklungen, die Atmosphäre im abgeschiedenen Fischerdorf, die Probleme der Gaspésie und Möglichkeiten der Neuorientierung beschreibt Roxanne Bouchard allerdings sehr gut, und wenn im Bistro mal wieder ein Gemüse brutal erdolcht wird, kann man, bei aller Düsternis, sogar schmunzeln.

Roxanne Bouchard: Der dunkle Sog des Meeres. Aus dem Französischen von Frank Weigand. Atrium 2021
www.w1-media.de

 

Weitere Rezension zur Joaquín-Morales-Reihe von Roxanne Bouchard auf diesem Blog:

Bd. 2

Jørgen Norheim: Der Adjutant

  Schuld und Verantwortung

Bücher über seelisch verwundete Aussteiger, die sich in die Einsamkeit skandinavischer Inseln oder Wäldern zurückziehen, üben schon lange eine große Faszination auf mich aus, Pferde stehlen von Per Petterson und Die italienischen Schuhe von Henning Mankell gehören dazu. Aus diesem Grund, und weil ich wissen wollte, warum ein norwegischer Autor so tief in die deutsche Geschichte eintaucht, stand Der Adjutant von Jørgen Norheim schon lange auf meiner Wunschliste, als ich ihn zufällig im Offenen Bücherschrank in Mainz-Bretzenheim entdeckte, ein vermutlich ungelesenes Exemplar, ausgeschieden aus der Katholischen öffentlichen Bücherei am Dom in Mainz. Schade, dass der Roman, der in Norwegen 2008, auf Deutsch in der Übersetzung von Frank Zuber 2010 erschien, hierzulande wenig Aufmerksamkeit fand und nur noch antiquarisch zu erwerben ist, während er in Norwegen 2008 für den bedeutenden Bragepreis nominiert war.

„Manche Dinge sehe ich klarer, seit ich hier oben wohne.“ (S. 21)
Der namenlose Ich-Erzähler, der sich 1941 an den Sognefjord auf den alten westnorwegischen Berghof Hylla zurückgezogen hat, den man nur über einen zehn Kilometer langen Saumpfad mit 800 Meter Höhenunterschied erreicht, wurde 1871 in Königsberg als Sohn einer gutbürgerlichen Pfarrersfamilie geboren. Sein Interesse für Philologie stellte er zugunsten der elterlichen Erwartungen zurück und wurde kaiserlich-preußischer Offizier, nachdem er schon als junger Mann Kaiser Wilhelm II auf dessen Norwegenfahrten mit dem Vergnügungs- und Expeditionsschiff Hohenzollern begleitet und die Reisen dokumentiert hatte. In verantwortlicher Stellung bei der Vorbereitung und während des Ersten Weltkriegs, folgte er aus Loyalität Wilhelm II nach der Abdankung 1918 bis zu dessen Tod 1941 ins niederländische Exil.

© Hintergrund: M. Busch, Collage: B. Busch

„Man sieht erst hinterher, was man getan hat.“ (S. 125)
So abgeschieden er lebt, insbesondere im Winter, seine Gespenster verfolgen ihn doch. Wenn er auf seinem batteriebetriebenen Plattenspieler Schostakowitschs 13. Sinfonie „Babi Jar“ hört, fragt er sich, ob „seine“ Leute an den Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs beteiligt waren. Albträume plagen ihn nach dem Besuch seines Bruders Karl 1961, der vor dem Kriegsdienst in die USA flüchtete und als Fabrikant reich wurde. Karls Schuldzuweisungen, auch für das Schicksal der Familie, erschüttern ihn:

Ohne deinen Krieg hätte es auch keinen Zweiten Weltkrieg gegeben. (S. 183)

Mach dich nicht kleiner, als du bist, du musst Verantwortung übernehmen. (S. 184)

Auch sein junger Vermieter, Obstgärtner, Sozialist und Kriegsdienstverweigerer, der ihn ab etwa 1957 regelmäßig besucht, „gräbt und gräbt“ (S. 157) und selbst dessen Tochter, die kleine Helga, stellt Fragen. Immer häufiger blättert der ehemalige Adjutant in alten Tagebüchern, versinkt in Erinnerungen, leidet unter Albträumen, wägt seine Schuld ab und sucht Erklärungen:

Ich verteidige nicht alles, was ich getan habe, aber ich möchte so gerne, dass er mich versteht! Dass er begreift, warum wir damals so dachten und handelten und wie wenig Spielraum wir hatten […] (S. 154)

„Ist es die Strafe des Herrn, dass ich Jahr für Jahr weiterleben […] muss […]?“ (S. 286)
Der Adjutant
ist ein stiller, ruhig erzählter Roman über persönliche Schuld und Verantwortung, der man nicht entkommt, aber auch über Freundschaft und Zuneigung, die dem Ich-Erzähler im hohen Alter zuteil wird – allerdings mit einem Zufall zuviel für mich. Die Beschreibungen des einsamen Lebens in den mächtigen Fjorden, verwoben mit den Kriegserinnerungen eines einflussreichen Offiziers, machen den Roman des norwegischen Historikers Jørgen Norheim so interessant und absolut lesenswert.

Jørgen Norheim: Der Adjutant. Aus dem Norwegischen von Frank Zuber. Osburg 2010
www.osburg-verlag.de

Margaret Kennedy: Das Fest

  Wer überlebt? Und wer nicht?

 

Wer auf der Suche nach einer äußerst unterhaltsamen und trotz eines tragischen Ereignisses vergnüglichen, jedoch keinesfalls flachen Lektüre ist, dem möchte ich wärmstens einen modernen Klassiker der englischen Autorin Margaret Kennedy (1896 – 1967) empfehlen. Der Schöffling Verlag hat ihren neunten Roman Das Fest aus dem Jahr 1950 mit einem wunderschön passenden Cover veröffentlicht, für mich eine großartige Entdeckung.

Das Unglück
Bereits im Epilog erfahren wir von einer Tragödie, die sich im Sommer 1947 in einem Küstenstädtchen in Cornwall ereignet hat. Herabstürzende Klippen haben ein Hotel unter sich begraben samt allen, die sich zum Zeitpunkt des Unglücks darin aufhielten, obwohl es rechtzeitig eine Warnung gegeben hatte. Glück im Unglück war das zeitgleich stattfindende titelgebende Fest außerhalb des Unglücksbereichs, ein Picknick, dessen Teilnehmerinnen und Teilnehmerin körperlich unversehrt blieben. Nur von einem Opfer erfahren wir bereits an dieser Stelle, aber wer sind die anderen? Wieviele der 23 Personen, Hotelgäste, Besitzerfamilie und Angestellte, sind umgekommen?

© Hintergrundbild: M. Busch, Collage: B. Busch

Literarisches Rätselraten
Es braucht Geduld, um dies zu erfahren, denn Margaret Kennedy spannt ihr Publikum bei vielen von ihnen bis zu den letzten Seiten auf die Folter, lässt sie ihre Pläne ändern und bringt Zufälle ins Spiel. Diese krimihafte Spannung einerseits und die eigene, moralisch nicht ganz einwandfreie Positionierung – wer soll überleben, wen soll das grausame Schicksal ereilen? – machen einen großen Teil des Lesevergnügens aus. Ein anderer Teil besteht in der Beschreibung der denkwürdigen und eigenwilligen Charaktere und der lebensverändernden Entwicklungen, die einige von ihnen in der dem Unglück vorausgehenden Woche durchmachen. Diese sieben Tage von Samstag bis zum Fest- und Katastrophen-Freitag bilden in sieben mit den Wochentagen überschriebenen Kapiteln den Hauptteil des Romans. Andere Figuren wiederum, insbesondere Mütter und Väter, sind charakterlich untragbar und völlig erstarrt, sieben lassen sich gar mühelos als Verkörperung der sieben Todsünden Hochmut, Habgier, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid und Faulheit identifizieren. Aber da das Leben bekanntermaßen nicht fair ist, gibt es keine Überlebensgarantie für die Fleißigen, Hilfsbereiten, Selbstlosen, Freundlichen, Friedfertigen und Großzügigen, die man so gerne gerettet sähe – oder doch?

Ein bunter Haufen
Die Gäste, die sich im malerisch gelegenen, etwas heruntergekommenen Hotel Pendizack, dem aus Geldnot umfunktionierten Familiensitz der ebenfalls anwesenden Siddals, ein Bad teilen und manchmal mehr schlecht als recht miteinander auskommen, sind ein bunt zusammengewürfelter Haufen, ebenso wie die drei Angestellten. Sieben Kinder aus zwei Familien sind unter ihnen. Das Verhalten ihnen gegenüber wird am Ende ausschlaggebend für Tod oder Überleben sein.

So geht gehaltvolle Unterhaltungsliteratur
Dass man jederzeit den Überblick über die illustre Schar behält, ist ein großes Verdienst der Autorin, ebenso wie ihre sprachliche Gewandtheit, ihre leichte Hand und feine Ironie. Bedauert habe ich nur die unnötig gehäuften Druckfehler, über die ich jedoch dank des präzise durchdachten Handlungsaufbaus, der abwechslungsreichen Erzählweise mit eingebauten Briefen, Tagebucheinträgen, einer Predigt, inneren Monologen, vielen Dialogen und Streitgesprächen zur politischen und wirtschaftlichen Situation im Nachkriegsengland mit den daraus resultierenden Nöten und gesellschaftlichen Umbrüchen hinwegsehen konnte. Kein Wunder also, dass ich diese Mischung aus Moralgeschichte, Gesellschaftskomödie, Nachkriegstragödie und Familienroman von Beginn an kaum noch aus der Hand legen konnte.

Bitte weitere Übersetzungen von Margaret Kennedy!

Margaret Kennedy: Das Fest. Aus dem Englischen von Mirjam Madlung. Schöffling 2023
www.schoeffling.de

Lidia Ravera: Sprich mit mir

  Korrekturen

Ich bin eine alte Frau und an Einsamkeit gewöhnt.
Ich trinke viel.
Gelegentlich nehme ich Psychopharmaka.
Ich habe neun Jahre im Gefängnis gesessen. (S. 86)

Abgeschottet lebt die 66-jährige Ich-Erzählerin Giovanna Reggiani als Einsiedlerin in ihrer Eigentumswohnung mit Tiber-Blick in einem besseren Viertel Roms, die sie im Jahr 2000 mit dem Erbe ihrer Eltern als Rückzugsort gekauft hat. Allmorgendliche Spaziergänge, Stippvisiten im Supermarkt, eine nach seelischen Zuständen geordnete Plattensammlung und ihre Bücher bilden die einzige Abwechslung. Der letzte Haarschnitt liegt 26 Jahre zurück, ihren Körper nimmt Giovanna kaum noch wahr.

Wahrscheinlich wäre ihr Leben bis zum Ende so weitergegangen, hätte nicht im Sommer 2018 eine vierköpfige Familie die leerstehende Nachbarwohnung bezogen. Der 37-jährige Michele, ein mäßig erfolgreicher Musiker, seine hübsche Frau Maria, die gemeinsame dreijährige Tochter Malvina und Malcolm, Micheles 13-jähriger Sohn aus erster Ehe und Klimaaktivist, fachen nach langer Isolation Giovannas Neugier an:

Die Wahrheit ist, dass ich angefangen hatte, den Geräuschen hinter der Wand zuzuhören. Mit einer Neugier, die von Stunde zu Stunde gieriger wurde. (S. 30)

© B. Busch

Aus dem Schatten ans Licht
Zuerst lauscht sie nur an der Rigipswand und späht durch den Türspion, dann sorgt ein Missgeschick Malcolms für direkten Kontakt und schließlich wird Giovanna, die sie „Weißmähne“ nennen, zur ehrenamtlichen Kinderfrau. Obwohl ihre innere Stimme sie warnt, wird aus der anfänglichen Rolle als stumm-bewunderndes Theaterpublikum die eines unverzichtbaren Rädchens im Familiengetriebe. Doch gerade die zunehmende Vertrautheit und Liebe zu den Kindern lassen ihre unverarbeiteten Erinnerungen und Entbehrungen schmerzhaft neu erstehen:

Monatelang war die Nachbarschaft mit dieser jüngeren, ganz aus Kindern bestehenden Familie für mich das Vorbild eines Glücks, das ich nicht aufbauen konnte, als ich im richtigen Alter war. (S. 119)

Und noch eine Gefahr zieht herauf: Je weiter Giovanna ihre Fühler aus ihrem Schneckenhaus streckt, desto nackter und verletzlicher wird sie. Lässt sich die schambehaftete Vergangenheit dauerhaft schützen, während immer größere Nähe entsteht, nicht nur zur Familie nebenan, sondern auch zu Marias charmantem Vater Pietro, der unverholenes Interesse an ihr zeigt?

Im Sommer 2019, ein Jahr nach dem Einzug der Familie, beginnt Giovanni, die nach eigenem Bekunden nicht gerne schreibt, ein „rückläufiges Tagebuch“ (S. 10), einen Bericht über das Wendejahr und die sich anbahnende Katastrophe. Eingewoben sind Bruchstücke aus ihrer Vergangenheit, der politischen wie der privaten, die sich allmählich zu einem Gesamtbild verdichten. Wie Giovanna das Leben der Nachbarsfamilie ausspioniert, habe ich Puzzlesteine über ihr Leben gesammelt und zusammengesetzt, immer neugieriger auf ihr Geheimnis.

Steigende Spannung
Es hat ein wenig gedauert, bis mich der Roman Sprich mit mir in Bann gezogen hat, aber schließlich haben das zunehmende Tempo und die ansteigende Dramatik ab dem zweiten Drittel dafür gesorgt, dass ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen konnte. Die 1951 in Turin geborene Autorin, Journalistin und Feministin Lidia Ravera hat den Roman äußerst raffiniert aufgebaut und lässt ihre geheimisvolle Protagonistin so viele kluge Gedanken und stimmige Bilder notieren, dass ich gedanklich stets mit dem Textmarker gelesen habe. Die Frage, ob sich ein durch Fehlentscheidungen verpfuschtes Leben spät korrigiert lässt sowie die Verbindung aus Einzelschicksal und neuerer italienischer Geschichte machen Lidia Raveras italienischen Bestseller auch für das deutsche Publikum zu einer sehr empfehlenswerten Entdeckung.

Lidia Ravera: Sprich mit mir. Aus dem Italienischen von Annette Kopetzki. Rowohlt 2023
www.rowohlt.de

Monika Fagerholm: Wer hat Bambi getötet?

  Nichts sehen, nichts hören, nichts sagen

Im angesagten Villenviertel Kaltsee, keine 15 Autominuten vom Zentrum der Hauptstadt (Helsinki?), wird im Februar 2008 die 18-jährige Sascha Anchar aus einer privaten sozialpädagogischen Jugendeinrichtung Opfer einer Gruppenvergewaltigung mit anschließender Freiheitsberaubung. Täter sind vier Gleichaltrige aus dem privilegierten Viertel, verniedlichend auch „die Boys“ genannt. Motiv für die vom Haupttäter Nathan Häggert geplante Tat ist Rache wegen Zurückweisung:

Toy girl. Eine Puppe, die kaputtgegangen war. Alle Löcher und Öffnungen des Körpers mehr oder minder zerfetzt. (S. 194)

Im Mittelpunkt des Romans Wer hat Bambi getötet? der 1961 geborenen Finnlandschwedin Monika Fagerholm, für den sie den Großen Preis des Nordischen Rats 2020 erhielt, steht jedoch mit Gusten Grippen ein Täter, während Sascha größtenteils eine Leerstelle bleibt. Er hat das Opfer damals befreit, das Verbrechen gegen ihren Willen angezeigt und sich davon Erlösung von seinen Schuldgefühlen erhofft. Viel lieber hätte man im Villenviertel den Mantel des Schweigens über das Verbrechen gelegt und Saschas Mutter, eine in Kalifornien lebende Jetsetkönigin und Charity-Lady, großzügig finanziell abgefunden:

Wir hätten das doch klären können, between us, und wie man hört, war das schon auf einem guten Weg. (S. 182)

Als es doch zur Gerichtsverhandlung kommt, mit Staranwalt, Promitherapeut und skandalös mildem Urteil, reagiert Nathans Mutter Annelise Häggert, eine Top-Karrierefrau und operative Leiterin eines neoliberalen Think Tanks, mit den Worten des schwedischen Königs Carl Gustav nach seinem Sexskandal:

Jetzt blättern wir die Seite um, und eines schönen Tages werden wir so viele Seiten umgeblättert haben, dass nichts von alldem passiert ist. (S. 137)

2014, gute sechs Jahre nach der Tat, plant der ehemals gemobbte Mitschüler und jetzige Filmproduzent Cosmo Brant eine Verfilmung der Tat unter dem Titel Wer hat Bambi getötet?.

© B. Busch

 

Nur Verlierer
Nach dem milden Urteil hätte alles wieder so werden sollen, wie es war. Stattdessen sind Familien auseinandergefallen, wurden Karrieren nicht gestartet oder brutal abgebrochen, sind Menschen gestorben und die stolze Villa der Häggerts heruntergekommen. Auch der „Judas“ Gusten hat nie wieder Fuß gefasst, war in der Psychiatrie, leidet unter Schuldgefühlen und dem Verlust seiner große Liebe Emmy, die ihn verlassen hat. Mit deren Freundin Saga-Lill versucht er sich zu trösten.

Nicht mein Erzählstil
Zwar haben mir die schnellen Schnitte, Zeitsprünge und wechselnden Perspektiven gefallen und ich bewundere aufrichtig, wie Antje Rávik Strubel die komplizierte Übersetzungsarbeit gemeistert hat. Der fragmentierte Erzählstil mit unter anderem englischen Einschüben, verkürzten Sätzen, Kursivschrift, Großbuchstaben, Einrückungen und – für mich besonders störend – vielen Klammern, war mir aber definitiv zu dominant und leider habe ich keinen Zugang zum in den Feuilletons vielgepriesenen „punkigen“ Rhythmus des Romans gefunden. Am Themenpanorama liegt es jedenfalls nicht, dass ich mich beim Lesen schwergetan habe. Missbrauch und Gewalt, Rache, Schuld und Scham, Verdrängung und Verleugnung, Gruppendynamik und Gruppenzwang, Klassengesellschaft, Frauenfreundschaft und weibliche Konkurrenz, die Metoo-Debatte (finnlandschwedisch: #dammenbrister) und die Hintergründe einer solchen Tat sind großartige Romansujets – nur hätte ich eine andere Erzählweise vorgezogen.

Sehr empfehlenswert sind Interviews mit der Autorin und die begeisterten Diskussionen über den Roman, die man im Netz hören und nachlesen kann.

Monika Fagerholm: Wer hat Bambi getötet? Aus dem Schwedischen übersetzt von Antje Rávik Strubel. Residenz 2022
www.residenzverlag.com

 

Weitere Rezension zu einem Roman, der mit dem Großen Preis des Nordischen Rates ausgezeichnet wurde:

1964

Alex Schulman: Glöm mig

  Jenseits der Schmerzgrenze

Die beiden auf Deutsch erschienenen Romane des 1976 geborenen Autors Alex Schulman, in Schweden sehr prominent als Blogger, Podcaster, Fernseh- und Radiomoderator, habe ich mit so großer Begeisterung gelesen, dass ich mich nun an sein 2016 erschienenes Buch Glöm mig im Original gewagt habe. Obwohl ausgezeichnet als Årets bok 2017 auf der Buchmesse in Göteborg, wurde es leider bisher nicht übersetzt.

Immer wieder das Familienthema
Sein Roman Die Überlebenden von 2020, deutsche Ausgabe 2021, erzählt mit deutlichen autobiografischen Anklängen von einer dysfunktionalen Familie und der Entfremdung der drei Söhne. Für Verbrenn all meine Briefe aus dem Jahr 2018, deutsche Ausgabe 2022, hat Alex Schulman über seine Großeltern mütterlicherseits recherchiert, den Schriftsteller Sven Stolpe und seine Frau Karin, mit der Frage nach der Vererbung von Gefühlen und Verhaltensmustern. Auslöser war eine Familienaufstellung, die hohes Aggressionspotential in diesem Familienzweig zeigte.

Glöm mig (Vergiss mich) ist ein Buch über seine Mutter Lisette Schulman, geborene Stolpe, Fernsehmoderatorin, Juristin, Redenschreiberin für Wirtschaftsbosse, Politikerin. Alex Schulman setzte sich darin kurz nach ihrem Tod mit ihrer 30 Jahre währenden Alkoholsucht auseinander, damit, wie das Aufwachsen unter schrecklichen Bedingungen ihn bis heute prägt, wie er nach Versöhnung suchte und sich nach der Mutter aus seinen frühesten Kinderjahren sehnte:

Det har varit trettio mörka år. Och kanske några år till. Men bakom alla de där åren finns en sommaräng, där finns min riktiga mamma och väntar på mig. (S. 155)

[Es waren dreißig dunkle Jahre. Oder vielleicht mehr. Aber hinter all diesen Jahren gibt es eine Sommerwiese, auf der meine richtige Mama auf mich wartet.]

1983 begannen die drei Söhne, die leeren Pfandflaschen aus dem mütterlichen Kleiderschrank einzutauschen. Eine verwirrende Unsicherheit breitete sich in dieser Übergangsphase aus:

[…] den mamma jag hade en gång hade inte riktigt fanns kvar. Jag hade en ny mamma och hennes tålamod med mig var nästan alltid slut. (S. 43)

[…von der Mutter, die ich vorher hatte, blieb nicht wirklich etwas übrig. Ich hatte eine neue Mama, die kaum noch Geduld für mich aufbrachte.]

© B. Busch

Intuitiv verstanden die Söhne, dass über die Sucht unbedingt geschwiegen werden musste. Auch der 32 Jahre ältere Ehemann Allan Schulman, ein cholerischer Fernsehproduzent, der Mutter jedoch sehr zugetan, schaute lieber weg. Erst als Alex Schulman selbst zwei Kinder hatte, unter Panikattacken litt, nicht mehr arbeiten konnte und seine Ehe gefährdet war, suchte er professionelle Hilfe und konfrontierte die Mutter mit ihrer Sucht:

Jag säger det här både för din skull och min skull, för jag vill att vi ska överleva både två. (S. 119)

[Ich sage das für uns beide, weil ich will, dass wir beide überleben.]

Gestohlene Kindheit
Schätzungen zufolge gibt es in Deutschland derzeit etwa drei Millionen Kinder mit  suchtkranken Elternteilen, verstrickt in eine Co-Abhängigkeit. Etwa ein Drittel von ihnen entwickelt selbst eine Sucht, ein weiteres leidet unter psychischen Erkrankungen. Fehlende Hilfe von außen, wie in Glöm mig, verschlechtert die Prognose.

Alex Schulman schildert höchst emotional, wie seiner Mutter der Alkohol wichtiger war als die Beziehung zu ihren Söhnen und Enkeln, wie die Kinder auch als Erwachsene unter dem Terror, der Manipulation und dem Ignorieren durch die Mutter litten und vom schweren charakterlichen Erbe – nicht als Abrechnung, sondern im Ringen um Verstehen und Versöhung. Thematisch erinnert der Roman an Shuggie Bain von Douglas Stewart, hat mich aber durch die ruhige, nachdenkliche Erzählweise noch mehr bewegt.

Ein trauriges, herzzerreißend ehrliches Buch, das man nach der Lektüre garantiert nicht wieder vergisst.

Zoom-Meeting für Bloggerinnen und Blogger mit Alex Schulmann am 15.08.2021. © B. Busch

Alex Schulman: Glöm mig. Bookmark 2020
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Weitere Rezensionen zu Romanen von Alex Schulman auf diesem Blog:

  Schulman

Weitere Rezension zu einem Roman, der in Schweden als „Årets bok“ ausgezeichnet wurde:

2021

Helga Flatland: Eine moderne Familie

  Stürmische Zeiten

So wie die Schrift auf dem Cover des Romans Eine moderne Familie in Schieflage gekommen ist, so gerät auch das Leben der darin porträtierten norwegischen Mittelstandsfamilie aus dem Lot. In ihrem 2017 mit dem norwegischen Buchhändlerpreis ausgezeichneten Roman zeigt die 1984 geborene Autorin Helga Flatland eine Familie, die nach der Trennung der Eltern komplett auseinanderzubrechen droht. Die Ankündigung der Scheidung anlässlich einer gemeinsamen Italienreise zum 70. Geburtstag von Vater Sverre kommt für die drei erwachsenen Geschwister wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Nur Minuten, nachdem die älteste Tochter in ihrer Gratulationsrede die Einheit der Eltern Sverre und Torill für die Geschwister und füreinander beschworen hat, lässt der Vater die Bombe platzen:

«Wir haben beschlossen, uns scheiden zu lassen», sagt er […] (S. 60)

«Es ist eine wohlüberlegte Entscheidung. Wir haben beide ein Gefühl von Leere, daß wir aus einander und aus dieser Ehe alles herausgeholt haben, was möglich war», spricht Papa weiter, «Wir sehen im anderen keine Zukunft mehr.» (S. 61)

Drei Perspektiven für unterschiedliches Erleben
Nun könnte man erwarten, dass es im Folgenden um die Beweggründe der Eltern und die Durchführung der Trennung geht, aber weit gefehlt. Stattdessen lässt Helga Flatland die drei Geschwister aus der Ich-Perspektive erzählen, je zweimal Liz, die 40-jährige Älteste, und Ellen, ihre um zwei Jahre jüngere Schwester, sowie abschließend einmal den 30-jährigen Bruder Håkon. Obwohl alle längst auf eigenen Beinen stehen, reißt sie die Nachricht mehr oder weniger aus dem Gleichgewicht und bringt nicht nur ihr Verhältnis zu den Eltern, sondern auch ihre Beziehung untereinander in schweres Fahrwasser.

© B. Busch

Liz, verheiratet und selbst Mutter zweier Kinder, hasst Veränderungen seit jeher, fühlt wie immer die gesamte Verantwortung auf ihren Schultern, geht auf Distanz zu Eltern und Geschwistern, schämt sich für Mutter und Vater, gefährdet ihre eigene Ehe und schlingert am Rande einer Depression:

Mit einem Achselzucken reißen sie alles ein, worauf ich mein eigenes Leben gebaut habe. (S. 135)

Ellen, die endlich den Mann fürs Leben gefunden hat, versucht verzweifelt, Mutter zu werden. Sie reagiert wütend, mit Unverständnis und verbittert:

»Auseinandergelebt? Zukunft? Mal im Ernst, ihr seid siebzig!« (S. 62)

Håkon, verhätscheltes, nie ganz erwachsen gewordenes Nesthäkchen, nimmt die Nachricht zunächst vergleichsweise gelassen auf und sieht sich in seiner Verweigerung monogamer Beziehungen bestätigt – bis eine Frau seine Lebensphilosophie erschüttert.

Komplexe Familienstrukturen
Zwei Jahre lang folgt Eine moderne Familie den drei Geschwistern, zeigt, wie die Nachricht sie in längst überwunden geglaubte Verhaltensmuster aus der Kindheit zurückwirft, wie alte Konkurrenzkämpfe neu aufleben und wie sie sich auf den Weg zu einem neuen Selbstverständnis und Miteinander machen. Der besondere Reiz des Romans liegt dabei für mich in der Erzählweise, die einerseits gleiche Szenen aus verschiedenen Blickwinkeln wiederholt, andererseits die Handlung vorantreibt.

Helga Flatland erzählt ruhig und nicht wertend über das Beziehungsgeflecht innerhalb einer ganz normalen Familie und die Neuzusammensetzung der familiären Puzzlesteine. Ihr Roman handelt von Rollen, Abhängigkeiten, Verletzungen, Empfindlichkeiten, Selbst- und Fremdwahrnehmung, meist ernst, manchmal ironisch, mit hohem Wiedererkennungswert und absolut lesenswert.

Helga Flatland: Eine moderne Familie. Aus dem Norwegischen von Elke Ranzinger. Weidle 2019
www.weidleverlag.de

 

Weitere Rezensionen zu Büchern auf diesem Blog, die mit dem Norwegischen Buchhändlerpreis für den besten Roman des Jahres ausgezeichnet wurden:

2003
2014
2015
Hjorth
2016
2018