Scott Alexander Howard: Das andere Tal

  Zeit und Schicksal

Der Debütroman des Kanadiers Scott Alexander Howard spielt in einem auf den ersten Blick idyllischen Tal: eine Stadt, ein See, Obstbaumwiesen, hohe Berge. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich der Ort als isoliert, umgeben von Stacheldrahtzäunen, Wachtürmen und patrouillierenden Gendarmen. Niemand darf das Tal ohne Zustimmung des Conseils verlassen, um in die identische Stadt im Osten zu gelangen, die 20 Jahre in der Zeitlinie voraus ist, oder im Westen, wo es 20 Jahre früher ist. In 20-Jahres-Schritten wiederholen sich die Täler in unendlicher Abfolge. Flüchtlinge werden gnadenlos gejagt. Wer auf eine Eingabe hin eine der seltenen Besuchsbewilligungen in die Zukunft oder Vergangenheit erhält, meist im Zusammenhang mit einem Trauerfall, darf die Zeitlinie bei Androhung drakonischer Strafen weder stören noch gar verändern:

Verlass nie dein Tal, misch dich nirgendwo ein. (S. 100)

Ein ungeplanter Zwischenfall
Die zunächst jugendliche Erzählerin Odile Ozanne steht als 16-Jährige zu Beginn des Romans kurz vor dem Schulabschluss und soll sich auf Wunsch ihrer Mutter für das Auswahlverfahren zum Conseil bewerben, wo ihr dauerhaft Macht, Ansehen und finanzielle Sicherheit winkt. Odile ist eine schüchterne, unsichere Außenseiterin, die gerade erst eine Gruppe von Freunden gefunden hat. Während sie am strengen Ausscheidungswettbewerb teilnimmt, wird sie zufällig Zeugin eines Besuchs aus dem Osten, der Zukunft. Odile erkennt in den trauernden Besuchern ausgerechnet die Eltern ihres Freundes Edme, ihrer ersten Liebe, und erfährt auf diese Weise, dass er bald sterben wird. Der ungeplante Zwischenfall, der dem Conseil nicht verborgen bleibt, stürzt Odile in einen Loyalitätskonflikt: Soll sie dem Conseil gehorchen, der jede Einflussnahme streng verbietet, oder ihren Freund warnen?

Eine gebrochene Biografie
Im zweiten Teil des Romans, der sich nun nicht mehr wie ein Jugendroman liest, ist Odile 20 Jahre älter. Ihre gebrochene Biografie hat sie als einzige Frau in die Grenzgendarmerie geführt, wo sie Flüchtlinge abfängt oder Besucherinnen und Besucher begleitet und in ihrer einsamen Freizeit Holzschnitte anfertigt. Noch einmal erhascht sie einen verbotenen Blick, dieses Mal in die eigene Zukunft. Wieder steht sie vor einer Entscheidung, doch ist sie nun nicht mehr die unerfahrene Jugendlich, sondern eine desillusionierte erwachsene Frau.

© B. Busch, Buchcover: © Diogenes

Ein spannendes Gedankenexperiment
Obwohl ich nie Science-Fiction lese, hat mich das dem Buch zugrundeliegende Gedankenexperiment mit den zeitverschobenen Orten sofort gereizt. Was, wenn man die Vergangenheit oder die Zukunft ändern könnte, wenn Schicksale auf ungeahnte Weise veränderbar wären? Der promovierte Philosoph Scott Alexander Howard hat wohlüberlegt und sorgfältig konstruiert ein Universum erschaffen, in das ich gerne eingetaucht bin. Die bedrückende Atmosphäre der streng abgeriegelten, diktatorisch regierten Stadt, die genauen Ortsbeschreibungen, spannende Nebenschicksale, die gut begründete Entwicklung der Protagonistin und das rasante Ende haben mir gefallen. Sprachlich ist der Roman unspektakulär und eher einfach, gedanklich verlangt er jedoch bisweilen größte Konzentration, wenn es um die Konsequenzen der Zeitverschiebung geht.

Das andere Tal ist ein sehr besonderer Roman über Zeit und Schicksal, Fremdbestimmung und freien Willen. Weniger als die Geschichte von Odile wird mir die ungewöhnliche Prämisse im Gedächtnis bleiben, über die sich immer wieder neu nachdenken lässt.

Scott Alexander Howard: Das andere Tal. Aus dem kanadischen Englisch von Anke Caroline Burger. Diogenes 2024
www.diogenes.ch

Nicolas Mathieu: Wie später ihre Kinder

  Provinztristesse

Und als sie lebten, war es, als lebten sie nicht noch ihre Kinder nach ihnen. (Sirach 44,9, Lutherbibel 2017)

Als der Roman Wie später ihre Kinder von Nicolas Mathieu 2018 in Frankreich erschien und im gleichen Jahr mit dem Prix Goncourt die höchste literarische Auszeichnung des Landes erhielt, wurde er vom Feuilleton stürmisch gefeiert. Wenig später demonstrierte erstmals die sogenannte Gelbwestenbewegung in Frankreich und seitdem gilt das Buch als vorweggenommene Erklärung zu ihrem Entstehen.

Arbeits- und Perspektivlosigkeit
In den vier heißen Sommern 1992, 1994, 1996 und 1998 erzählt der Roman vom Aufwachsen in der fiktiven lothringischen Provinzstadt Heillange an der luxemburgischen Grenze nach dem Vorbild des 16.000 Einwohner zählenden Hayange. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts war die Gegend von der Eisen- und Stahlindustrie geprägt, die vielen Einheimischen und Gastarbeitern Arbeit gab. Die Stilllegung der letzten Hochöfen zu Beginn der 2000er-Jahre bedeutete für sie Arbeits- und Perspektivlosigkeit und wird als ursächlich für das enorme Erstarken des Front national gesehen. Nicolas Mathieus Roman beschäftigt sich mit den Folgen dieser Entwicklung auf die nachwachsende Generation.

Anthony, Hacine, Steph
Im Mittelpunkt steht mit Anthony einer ihrer Vertreter, Sohn eines ehemalig stolzen Arbeiters, der sich inzwischen notdürftig mit Gartenarbeiten durchschlägt, seine Frau verprügelt und mit den Nachbarn grillt und trinkt. Anthony ist zu Beginn 14, angeödet und frustriert vom Kleinstadtleben, einzig am Kiffen, Saufen und Sex interessiert, fühlt sich seiner Familie überlegen und träumt vom großen Ausbruch. Auf keinen Fall will er werden wie die Erwachsenen. Als er sich heimlich das Motorrad seines Vaters ausleiht und der 17-jährige Hacine aus der Plattenbausiedlung, Franzose, Sohn marokkanischer Eltern und ebenso perspektivloser Kleinkrimineller, es zunächst klaut, dann abfackelt, setzt das eine unaufhaltsame Kettenreaktion für beide Familien in Gang. Die dritte im Bunde ist Steph, Tochter aus reichem Haus, in die Anthony sich mit 14 hoffnungslos verliebt, der er aber immer nur dann näher kommt, wenn Alkohol und Drogen im Spiel sind. Auch Steph will unbedingt fort, hat aber im Gegensatz zu Anthony und Hacine Wissen und Geld.

Wie später ihre Kinder wirft ein Bild auf Gewalt, Drogen- und Alkoholmissbrauch, Langeweile, Frustration, Ängste und Sehnsüchte der Menschen in der Provinz und die Unmöglichkeit für das Prekariat, dem zu entkommen. Durch die ehemals vereinte, stolze Arbeiterschaft geht ein Riss, Rassismus ist salonfähig geworden und der Kontakt zwischen den Generationen abgebrochen.

Gemischtes Fazit
Es lag nicht am Sprecher Barnaby Metschurat, dass die ungekürzte Lesung auf zwei mp3-CDs in 13 Stunden 30 Minuten mehr Anstrengung als Genuss für mich war. Besser wurde es, als ich die Anordnung in Episoden im Zweijahresrhythmus durchschaut hatte, die sich in der gedruckten Ausgabe schneller erschließt. Über weite Strecken waren mir die Romanfiguren zu klischeehaft geschildert und zu unsympathisch. Die Hoffnungslosigkeit ist  niederdrückend, und doch ist gerade Nicolas Mathieu selbst ein Beispiel dafür, dass man der Provinztristesse aus eigener Kraft entkommen kann. Gestört hat mich außerdem der extrem detailreich und drastisch beschriebene Sex aus sehr männlicher Sicht ohne Gewinn für das Textverständnis. Die Alltagssprache der Jugendlichen passt zwar ausgezeichnet, ist aber über eine so lange Hör-Zeit anstrengend.

Trotzdem bin ich, durchgehalten zu haben. Was bleibt, ist ein soziologisch durchaus interessanter, sehr atmosphärischer Blick auf die Gruppe der sonst eher unsichtbaren „Abgehängten“ in der französischen Provinz.

Nicolas Mathieu: Wie später ihre Kinder. Lesung mit Barnaby Metschurat. SR2 Kulturradio. DAV 2019
www.der-audio-verlag.de

 

Weitere Rezensionen zu Siegertiteln des Prix Goncourt auf diesem Blog:

2016
2019
2021

 

Raffaella Romagnolo: Die Libanonzeder

  Ein Kleinod des Nature Writing

Unter dem Motto „Take Care“ versammelt der Verlag Diogenes in seiner neuen Reihe Diogenes Tapir Sachbücher und Romane, die von der Natur, der Menschheitsgeschichte, Kulturen, Gemeinschaften und Respekt erzählen. Einer der ersten Titel, die als wertige, nachhaltig produzierte Hardcover-Ausgaben in der typischen Verlagsfarbe Weiß, aber mit verändertem Design erscheinen, ist ein nur 120 Seiten umfassendes, entzückendes, exklusives Bändchen der italienischen Autorin Raffaela Romagnolo mit dem Titel Die Libanonzeder. Die 1971 geborene Italienerin hat mich 2019 mit ihrem Roman Bella ciao begeistert und auch Dieses ganze Leben habe ich 2020 gerne gelesen.

Bäume als Protagonisten
Der Verlag der italienischen Originalausgabe Aboca Edizioni ruft in seiner Reihe Il Bosco degli Scrittori (Der Wald der Schriftsteller) Autorinnen und Autoren dazu auf, über Bäume ihrer Wahl zu schreiben. Raffaela Romagnolo hat mit der Libanonzeder den am häufigsten in der Bibel zitierten Baum gewählt. Er steht symbolisch für Macht, Stärke, Erhabenheit, Schutz, Eleganz und Ruhm, aber auch für Langlebigkeit, Heiligkeit und Frieden. Ursprünglich war diese Zedernart im Libanon weit verbreitet, der sie  in seiner Flagge führt, wurde aber dort weitgehend abgeholzt. In Mitteleuropa, wo die Libanonzeder bislang wenig verbreitet ist, könnte diese trocken- und hitzetolerante Sorte zukünftig weniger an den Klimawandel angepasste Baumarten ablösen.

Vier Kurzgeschichten
In Raffaela Romagnolos Büchlein ist die Libanonzeder der rote Faden, der vier Kurzgeschichten aus vier Epochen miteinander verbindet. Die Protagonistinnen und Protagonisten stehen an Wendepunkten ihres Lebens, alle haben dramatische Verluste erlitten. Zu Beginn und zwischen den Geschichten gibt es kurze, sehr poetische Kapitel zum Lebenszyklus des Baumes: Keimung, Verwurzelung, Fortpflanzung und Untergang.

© B. Busch, Buchcover: © Diogenes

Von der Vorzeit bis in die Zukunft
In der ersten Geschichte flieht die 15-jährige Hotti vor ihrer archaischen Familie, um ihrem Geliebten über das Gebirge und durch den großen Zedernwald ans Meer zu folgen.

Die eigenhändige Anpflanzung einer Libanonzeder in der zweiten Erzählung wird 1787 zum Wendepunkt im Leben des wider Willen zum Präfekten des Botanischen Gartens von Pisa ernannten Giorgio Santi.

In der dritten Geschichte möchte eine junge, vom Tod ihres Mannes tief getroffene Gräfin eine bei ihrer Hochzeit 1856 gepflanzte Libanonzeder fällen, bevor sie das Weingut im Piemont verlässt. In der Gewitternacht vor ihrer Abreise greift sie zur Axt.

Die letzte Geschichte ereignet sich in der Zukunft. Nach einer nicht näher beschriebenen großen Katastrophe wird im Rahmen eines Forschungsprogramms nach Möglichkeiten zur Wiederbesiedlung gesucht wird. Mit seiner Einmannkapsel macht Kommandant Lars Nyman im nördlichen Libanon eine sensationelle Entdeckung.

Der Kreis schließt sich
Mit der ersten und letzten Geschichte im Wadi Qadisha, Libanon, wo einst der „Wald der Zedern des Herrn“ stand, schließt sich der Kreis. Die Libanonzeder in Pisa fiel 1935 einem Sturm zum Opfer, während der piemontesische Baum bis heute dort steht.

Die Libanonzeder von Raffaela Romagnolo wurde 2023 von der Stiftung der Gärten Venedigs mit dem Campiello Natura Preis für belletristische, der Natur gewidmete Werke ausgezeichnet. Auch mich hat dieses Kleinod aus dem Bereich Nature Writing in der vorzüglichen Übersetzung von Peter Klöss sehr begeistert.

Raffaela Romagnolo: Die Libanonzeder. Aus dem Italienischen von Peter Klöss. Diogenes Tapir 2024
www.diogenes.ch/microsites/tapir

 

Weitere Rezensionen zu Büchern von Raffaela Romagnolo auf diesem Blog:

 

Isabelle Autissier: Acqua Alta

  Wahrgewordener Albtraum

 

Mit den Romanen der ehemaligen Weltumseglerin und Vorsitzenden des WWF Frankreich, der 1956 geborenen Französin Isabelle Autissier, reist man weit: nach Südgeorgien mit Herz auf Eis, an die äußersten Grenzen Sibiriens mit Klara vergessen und nun mit Acqua Alta nach Venedig. Allerdings liegt die Lagunenstadt schon monatelang in Trümmern, als der Roman 2021 einsetzt:

Der Nebel steht den Ruinen gut. Er säumt die Risse im Gestein, aus dem nutzlos gewordene Stahlträger hervorragen. Er verschleiert die Trostlosigkeit eines eingestürzten Erkers, eines klaffenden Daches, einer Fassade, aus der die leeren Fenster wie tote Augen starren. (S. 5)

Das unglückliche Zusammentreffen von Hochwasser und Sturm hat zu dem geführt, was viele aufgrund von Bauboom, Massentourismus und Klimawandel längst prophezeiten: dem Untergang der jahrhundertealten Welterbestadt.

Hintergrund, Fotos der Venedig-Gemälde von William Turner und Collage: © B. Busch, Buchcover: © mare

Familie Malegatti
Durch die menschenleeren Kanäle steuert ein einsamer Mann sein Boot: Guido Malegatti, Visionär und Macher aus kleinbäuerlichen Verhältnissen an der Küste, dessen Stern in den letzten Jahrzehnten in Venedig kometenhaft aufging: erfolgreicher Bauunternehmer, Heirat mit einer stillen, ganz dem alten Venedig verbundenen Frau aus verarmtem Hochadel und als Krönung gewählter Abgeordneter und Wirtschaftsrat. Wie durch ein Wunder hat er schwerverletzt das Inferno auf seiner Terrasse im dritten Stock überlebt, während die Leiche seiner Frau Maria Alba nie gefunden wurde. Sein Glaube an Fortschritt, Wachstum und Technik war grenzenlos:

Ich glaube nicht an die Geschichten von der untergehenden Stadt oder der sterbenden Lagune, und selbst wenn es so kommen sollte, dann wird man Lösungen finden. Wir sind schließlich auch auf den Mond geflogen, da machen uns doch wohl ein paar Zentimeter Wasser keine Angst. (S. 185)

Als Stachel in Guidos Fleisch entpuppte sich im Jahr vor der Katastrophe zunehmend seine 17-jährige Tochter Léa. Von der Mutter mit ihrer tiefen Liebe zu Venedig infiziert, erkannte sie während ihres Architekturstudiums schlagartig die Fragilität der Stadt und die Verursacher ihrer Bedrohung. Während ihr Vater auf eine weitere Zunahme der Touristenströme setzte und unbegrenztes Vertrauen in das 2020 eröffnete milliardenschwere Flutschutzsystem MO.S.E. hatte, wurde bei ihr aus anfänglichem Entsetzen Wut, die Studentin aus gutem Hause mutierte zur militanten Aktivistin.

Ein belletristisches Sachbuch
Faszinierend an Acqua Alta ist für mich die Mischung aus Sachbuch und Roman, die der wie immer herausragenden Erzählerin Isabelle Autissier vorzüglich gelingt, auch wenn dies unweigerlich zu einem Kompromiss bei der Tiefe und Kompexität der Charaktere führt. Poetische Teile über die Schönheit Venedigs wechseln sich ab mit Daten und Fakten zur Lage der Stadt, im Hintergrund schwingt die Corona-Epidemie mit. Neben Venedig und der Lagune sind – wie immer in ihren Romanen – das Meer und Menschen in Ausnahmesituationen zentral, hier drei antagonistische Mitglieder einer Familie und ihre unvereinbaren Standpunkte.

Nicht nur Venedig
Auch wenn es in Acqua Alta vordergründig „nur“ um Venedig geht, steht die Stadt doch symbolisch für die Entwicklung des Klimas, die Umweltzerstörung, das Wegschauen und die Arroganz menschlichen Ehrgeizes weltweit. Dies faktenbasiert und ruhig ins Bewusstsein zu rücken, um im besten Fall ein Nachdenken über eigenes Verhalten zu erreichen, schafft diese fesselnde, gut geschriebene und trotz des vorweggenommenen Endes spannende Dystopie, die nah an der Realität und trotzdem hoffentlich Fiktion bleibt.

Isabelle Autissier: Acqua Alta. Aus dem Französischen von Kirsten Gleinig. mare 2024
www.mare.de

 

Weitere Rezensionen zu Romanen von Isabelle Autissier auf diesem Blog:

    

Weitere Rezensionen zu Büchern, die in Venedig spielen, auf diesem Blog:

      

Alia Trabucco Zerán: Mein Name ist Estela

  Mehrere Anfänge, ein Ende

Was eine Tragödie ausmacht, sagte die Frau, ist, dass wir immer wissen, wie sie endet. […] Und trotzdem lesen wir, warum auch immer weiter. Wir leben weiter, als wüssten wir nicht, was am Ende passiert. (S. 185)

 

 

 

Vom tragischen Ende erfahren wir im Roman der 1983 geborenen chilenischen Autorin Alia Trabucco Zerán gleich zu Beginn:

Das Mädchen ist tot. (S. 8)

Aufklärung über die Hintergründe der sich durch viele warnende Vorzeichen anbahnenden Tragödie verspricht uns die Hausangestellte einer bürgerlich-wohlhabenden Familie in Santiago de Chile. Estela García, wahrscheinlich indigener Herkunft, sitzt in einem Gefängnis und weiß nicht, wer sich hinter der Spiegelwand befindet. Aber endlich hört ihr, wie sie vermutet, jemand zu, endlich hat sie einen Namen. Die Frau, die auf dem sehr gelungenen Cover ohne Kopf abgebildet ist, holt weit aus, erzählt die Geschichte mit mehreren Anfängen und fordert immer wieder die Aufmerksamkeit ihres vermeintlichen Publikums ein.

Von Chiloé nach Santiago
Gegen den Rat ihrer Mutter verließ die 33-jährige Estela ihre Heimatinsel Chiloé im Süden Chiles, um als Hausangestellte in Santiago zu arbeiten. Unmittelbar vor der Geburt ihrer Tochter Julia stellten ein Arzt und eine Rechtsanwältin sie ein, fortan lebte sie bis zum Tod des Mädchens sieben Jahre später in einem Hinterzimmer der Küche und kümmerte sich rund um die Uhr an sechs Tagen die Woche um alle Belange des Haushalts und das Kind. Ihre freien Sonntage verbrachte Estela meist im Bett und telefonierte nur mit ihrer Mutter.

© B. Busch. Buchcover: © Hanser Berlin

Estela war keine duldsame oder gar dankbare, ihren Arbeitgebern freundlich ergebene Angestellte, obwohl sie deren korrektes Verhalten mehrfach betont. Sie kämpfte mit psychischen Problemen, war hin- und hergerissen zwischen Wut, Verzweiflung, Auflehnung, Hass, Rachegedanken und doch auch Zuneigung, zumindest zu Julia, obwohl ihre Mutter sie davor immer gewarnt hatte. Als Einzige sah sie, wie unglücklich und gestört das überforderte Mädchen war, wie sie unter den rigiden Leistungsanforderungen ihrer neoliberalen Eltern litt, schon im Kindergarten den gnadenlosen Konkurrenzkampf ihrer Gesellschaftsklasse aufnahm und mit Gewaltausbrüchen sowie ihrem Hang zur Selbstverletzung nach Hilfe schrie. Gleichzeitig kopierte die tyrannische Julia früh das Verhalten ihrer Eltern gegenüber Estela: Distanziertheit bis zur Ignoranz, strenge Hierarchie und Reduktion der Hausangestellten auf ihre Funktion.

Schattenseiten der Leistungsgesellschaft
Wer Mein Name ist Estela als Krimi oder gar Thriller liest, wird mit dem Ende hadern. Gleichzeitig war das Buch für mich aber auch kein Manifest gegen die Unterdrückung der unteren chilenischen Klasse, denn dazu taugt die offensichtlich unzuverlässige, mit psychischen Problemen kämpfende und auf die Wirkung ihrer Worte bedachte Ich-Erzählerin Estela nicht, die trotz ihrer eloquenten Schilderungen kein Interesse für die politische Lage im Land erkennen lässt. Ich habe den Roman trotzdem gern gelesen, wegen seiner schwebenden, soghaften Erzählweise einerseits, andererseits wegen der Einblicke in eine neoliberale Gesellschaft von unten. Niemand ist hier glücklich, weder die prekär beschäftigte Hausangestellte, noch die von starken Ängsten beherrschte bürgerliche Familie. Für mich ist Mein Name ist Estela daher vor allem ein psychologischer Roman über eine labile, mit ihrem Leben hadernde Frau und die Schattenseiten einer gnadenlos auf Erfolg getrimmten Leistungsgesellschaft, deren Bedrohung via Fernsehen ins Haus kommt.

Alia Trabucco Zerán: Mein Name ist Estela. Aus dem chilenischen Spanisch von Benjamin Loy. Hanser Berlin 2024
www.hanser-literaturverlage.de/verlage/hanser-berlin

Meri Valkama: »Deine Margot«

  Die Kindheit als schwarzes Loch

Meri Valkama, 1980 geborene finnische Investigativ-Journalistin und Autorin, teilt ein biografisches Detail mit Vilja Siltanen, der Protagonistin ihres Debütromans Deine Margot: Beide verbrachten Kinderjahre in Ost-Berlin. Während die Autorin zum Studium an die Freie Universität Berlin im dann vereinten Deutschland zurückkehrte, führt Vilja der Fund von Briefen in einer Blechdose nach dem Tod des Vaters 2011 zurück. Wer ist „Margot“, die ihre Briefe an „Erich“, offensichtlich der Vater, richtete, und die die Mutter angeblich nicht kennt? Warum hat Vilja selbst keinerlei Erinnerungen an die Zeit zwischen ihrem dritten und sechsten Lebensjahr in Ost-Berlin und an die Frau, die sie in ihren Briefen „Kastanie“ nennt?

Sie schreibt, als wäre ich ihr Kind, und ich erinnere mich überhaupt nicht an sie. (S. 50)

Eine verhängnisvolle Affäre
1983
zieht die Familie Siltanen von Helsinki nach Ost-Berlin. Vater Markus arbeitet als   Auslandskorrespondent für eine finnische sozialistische Zeitung und glaubt fest an die DDR, Mutter Rosa erhofft sich im realen Sozialismus Zeit für ihre eigene Karriere, Vilja, 2, und Matias, 4, besuchen ein Kindertagheim. Der Start in einem Plattenbau unweit des Fernsehturms ist vielversprechend, die DDR erscheint den Eltern als Paradies, zumal sie jederzeit in West-Berlin einkaufen können. Doch dann verliebt Markus sich in eine andere Frau. Als Rosa mit Matias wegen der Luftverschmutzung für einige Wochen zur Erholung nach Finnland reist, bilden Markus, seine verheiratete Geliebte und Vilja eine Familie auf Zeit. Fast vier Jahre bleibt Markus‘ Affäre geheim, dann besteht Rosa nach ihrer Entdeckung 1987 auf einer überstürzten Heimkehr. Die Ehe zerbricht schließlich trotzdem, Vilja wächst beim Vater auf, Matias bei der Mutter.

Foto (Fernsehturm): © M. Busch. Collage: © B. Busch. Buchcover: © FVA

Verschiedene Perspektiven und Zeitebenen
Meri Valkama erzählt ihren gut 530 Seiten umfassenden Roman aus verschiedenen Perspektiven und auf mehreren Zeitebenen. Viljas Reise nach Berlin 2011/2012, mit der sie das schwarze Loch in ihrer Erinnerung schließen, die Rolle des Vaters in der DDR aufdecken und „Margot“ finden möchte, bildet den Rahmen. Ihr Wunsch nach Erinnerung ist stärker als die Zweifel an der Legitimation ihrer Nachforschungen, von denen sie weder Mutter noch Bruder abhalten können:

»Ein Versuch, zu verstehen«, sagte sie schließlich. »Mich selbst. Und Vater. Was zum Teufel eigentlich mit uns passiert ist.« (S. 469)

Die Jahre 1983 bis 1989 werden aus der Perspektive der Eltern erzählt. Die Briefe von „Margot“ datieren von August 1987 bis Oktober 1989.

Bestes finnisches Debüt 2021
Obwohl der Ausgangspunkt der Handlung mit dem Fund der Briefe einem altbekannten Muster folgt, es bei Viljas Recherchen einiger Zufälle bedarf und die erzählenden Passagen mir sprachlich deutlich besser gefielen als die zahlreichen Dialoge, habe ich Deine Margot insgesamt gern gelesen. Der Blick einer finnischen Autorin auf die neuere deutsche Geschichte und die Vorboten der Wende – Gorbatschows Perestoika, das Massaker auf dem Pekinger Tiananmenplatz und die Atomkatastrophe von Tschernobyl – ist bereichernd, wenngleich mir bezüglich der Wiedervereinigung zu einseitig pessimistisch. Den historischen Hintergrund hat die Autorin gut recherchiert und in die Handlung um starke Frauenfiguren und zögerliche Männer eingebunden. Sehr gekonnt beleuchtet Meri Valkama die zentralen Themen Erinnerung und Identität einerseits am Einzelschicksal, andererseits am Beispiel einer Nation. Belohnt wurde sie dafür 2021 mit dem Preis der auflagenstärksten finnischen Tageszeitung Helsingin Sanomat für das beste Debüt.

Meri Valkama: »Deine Margot«.  Aus dem Finnischen von Angela Plöger. Frankfurter Verlagsanstalt 2024
www.fva.de

Terhi Kokkonen: Arctic Mirage

  Mehr Nebel als Polarlicht

Arctic Mirage der 1974 geborenen finnischen Musikerin und Autorin Terhi Kokkonen beginnt mit einem Schock. Wie konnte es zu dieser dramatischen Zuspitzung an einem Freitag kommen, just als endlich das ersehnte Nordlicht am Himmel zu sehen war? Beginnend mit dem Sonntag werden die Ereignisse vor dem Showdown entrollt.

Knapp dem Tod entronnen
Ein Urlaub sollte der Rettung ihrer verfahrenen Ehe dienen, dazu waren Karo und Risto eigens nach Lappland geflogen. Was sich zunächst gut anließ, endete am letzten Tag mit einem ihrer üblen Streits. Auf dem Weg zum Flughafen verunglückten sie mit ihrem Mietwagen und anstatt im Flieger nach Hause landeten sie am Sonntag, wie durch ein Wunder nur mit leichten Verletzungen, im einzigen Hotel weit und breit. Das Luxusresort namens Arctic Mirage mit Holzhäuschen zum Preis von 700 Euro pro Nacht bietet einen denkbar schlechten Service und von der Chefin persönlich angeordnete Unfreundlichkeit. Was dem gut betuchten Paar um die 50 ein paar zusätzliche Erholungstage hätte bescheren können, fördert stattdessen die Untragbarkeit ihrer Beziehung immer deutlicher zutage. Lange schon sind beide Partner psychisch auffällig und unkontrolliert im gegenseitigen wie im Verhalten zu anderen. Die Ehe ist zu einer Hölle geworden, im Raum steht sogar der Verdacht, dass Risto seine Frau um den Verstand bringen will.

Foto: © M.A. Busch. Collage: © B. Busch. Buchcover: © Hanser Berlin

Verschenktes Potential
Terhi Kokkonen, die für Arctic Mirage 2020 mit dem Preis der auflagenstärksten finnischen Tageszeitung Helsingin Sanomat für das beste Debüt ausgezeichnet wurde, hat mit dem winterlichen Lappland das denkbar beste Setting für ein Beziehungsdrama gewählt. Leider nutzt sie dieses große Potential kaum, das die unberührte Natur, die in unschuldiges Weiß getauchte Landschaft, Schnee und Eis, Kälte und Stille, Wald und Einsamkeit zur Unterstützung der Handlung eigentlich böten. Da sowohl die Rückblenden bis in die Kindheit als auch das aktuelle Geschehen weit überwiegend aus Karos unzuverlässiger Sicht erzählt werden, blieben die Geschehnisse für mich zudem bis zuletzt nebulös. Lediglich ab und zu erhascht man einen Blick von außen auf das Paar, wenn Nebenfiguren, allesamt mit kurz angerissenen, problematischen Schicksalen behaftet, ihre von Karos Sicht abweichenden Eindrücke wiedergeben. Bei manchen Nebenhandlungen des nur knapp 190 Seiten umfassenden Romans konnte ich knapp noch einen Bezug zum Hauptgeschehen ausmachen, bei anderen blieb mir die Bedeutung verborgen. Ebenso erging es mir mit dem dunklen Geheimnis, das das Paar laut Klappentext angeblich hütet.

Das Spiel mit Wahrheit und Lüge
Schade, dass der stilsicher geschriebene Roman mit dem umwerfend gelungenen Cover nach stärkerem Beginn aufgrund der genannten Kritikpunkte für mich zunehmend an Faszination verlor und die zunächst gut aufgebaute geheimnisvoll-bedrückende Atmosphäre verpuffte. Bis zuletzt hoffte ich auf einen überraschenden, logisch begründeten Plot, die verständliche Einbindung der diversen Nebenstränge und Erklärungen für vielfältige Andeutungen – leider vergebens. Unzuverlässige Erzählerinnen und Erzähler sind ein großartiger Kunstgriff in der Literatur, allerdings funktionieren sie bei mir nur, wenn das Verwirrspiel um Wahrheit und Lüge eine befriedigende Auflösung erfährt.

Trotz aller Kritik habe ich Arctic Mirage zumindest in den ersten beiden Dritteln nicht ungern gelesen. Mit etwas weniger „Mirage“, also Fata Morgana, und etwas mehr Lappland-Flair wäre für mich jedoch mehr drin gewesen.

Terhi Kokkonen: Arctic Mirage. Aus dem Finnischen von Elina Kritzokat. Hanser Berlin 2024
www.hanser-literaturverlage.de/verlage/hanser-berlin

Richard Wagamese: Der gefrorene Himmel

  Der schwere Weg zurück 

Zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und 1996 gab es in Kanada sogenannte Residential Schools, in denen Kindern der First Nations unermessliches Leid und Unrecht widerfuhr. Diese staatlich lizensierten Internate für indigene Kinder standen unter kirchlicher, oftmals katholischer Leitung. Ziel war nicht primär Bildung, sondern die Zerstörung des indigenen Erbes sowie Ausrottung der Stammes-Sprachen und Religion, was einem kulturellen Völkermord gleichkam. Ihren Eltern meist gewaltsam entrissen, wurden die Kinder körperlich misshandelt, zur Arbeit gezwungen und häufig auch sexuell missbraucht. Viele starben an Krankheiten, Verletzungen oder durch Suizid. Wer die Schulzeit überlebte, litt oder leidet bis heute unter den menschenverachtenden Erfahrungen mit der häufigen Folge von Suchterkrankungen und gibt das Trauma nicht selten an die eigenen Kinder weiter, so geschehen beim kanadischen Roman- und Sachbuchautor Richard Wagamese (1955 – 2017) vom Stamm der Ojibwe. Anders als sein Ich-Erzähler Saul Indian Horse in seinem preisgekrönten Roman Indian Horse von 2012, in deutscher Übersetzung von Ingo Herzke als Der gefrorene Himmel 2021 erschienen, war er selbst nie auf einer solchen Schule, biografische Bezüge sind jedoch offensichtlich.

Der Weg in die Hölle
Der Roman beginnt in einer Suchtklinik, wo Saul, anstelle sich im Gesprächskreis zu öffnen, seine Geschichte aufschreibt:

Alles, was ich vom Indianersein wusste, starb im Winter 1961, als ich acht Jahre alt war. (S. 17)

Als ihn seine Großmutter nicht mehr schützen kann, landet Saul – wie zuvor seine älteren Geschwister – in einer Residential School:

St. Jerome’s war die Hölle auf Erden. (S. 90)

Saul überlebt, indem er sich zurückzieht. Erst als der neue Pater Leboutilier das Eishockeyspiel mitbringt, findet Saul einen anderen Ausweg aus seinen Qualen:

Wenn ich auf dem Eis war, ließ ich all das hinter mir. (S. 95)

Richard Wagamese: Der gefrorene Himmel. Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Buchcover: © Blessing

Aufstieg und Fall
Der Sport ebnet dem Ausnahmetalent den Weg aus der Hölle. In Manitouwadge, Ontario, findet er ein neues Zuhause bei der verständnisvollen Ojibwe-Familie Kelly und eine herzliche Aufnahme im indigenen Eishockeyteam The Moose, wo er in den Spielen gegen andere Indianerteams zum Star aufsteigt. Zum ersten Mal fühlt sich Saul wieder zuhause. Doch als sie gegen weiße Teams antreten, Saul gar später bei einer weißen Profi-Mannschaft anheuert und damit eine Grenze in diesem vermeintlich weißen kanadischen Nationalsport überschreitet, schlagen ihm blanker Hass und Rassismus entgegen. Obwohl er sich lange dagegen wehrt, erfüllt er in seiner Wut schließlich genau die stereotypen Erwartungen vom „Wilden“ und sein Eishockey-Traum platzt. Eine Abwärtsspirale setzt sich in Gang und mündet endlich in der Entzugsklinik. Nun muss Saul sich seiner verdrängten Vergangenheit und der ungeheuerlichen Wahrheit stellen:

Ich brauchte das Hockey, um mich selbst vor der Erkenntnis der Wahrheit zu schützen, davor, ihr täglich ins Auge schauen zu müssen. (S. 216)

Sein Weg zur Heilung führt zurück in die Vergangenheit.

Richard Wagamese: Der gefrorene Himmel. Foto & Collage: © B. Busch. Buchcover: © Blessing

Ein großartiger Erzähler
Der gefrorene Himmel ist ein ebenso bedrückend realistischer wie schockierender Roman, den ich mit angehaltenem Atem gelesen habe. Ob es um das traditionelle Leben der First Nations, die atemberaubende Natur Nord-Kanadas, die Qualen im Internat, die Faszination des Eishockeyspiels oder den Weg zur Heilung geht, immer ist Saul ein ebenso glaubwürdiger wie einnehmender, präziser wie emotional zurückhaltender Erzähler. Die kurzen Kapitel treiben die Handlung voran und drängen zum Weiterlesen.

Ein großartiges, erhellendes Leseerlebnis, ergänzt durch ein ausgezeichnetes Nachwort der Amerikanistik-Professorin Katja Sarkowsky.

Richard Wagamese: Der gefrorene Himmel. Aus dem kanadischen Englisch von Ingo Herzke. Mit einem Nachwort von Katja Sarkowsky. Blessing 2021
www.penguin.de/Verlag/Blessing

 

Weitere Rezension zu einem Roman von Richard Wagamese auf diesem Blog:

Eva Björg Ægisdóttir: Verborgen

  Die Kripo Akranes ermittelt wieder

Zwei Leichen in einer Woche, das ist ja unerhört. Was ist hier in Akranes eigentlich los? (S. 156)

Zwei Jahre arbeitet die 34-jährige Ermittlerin Elma inzwischen bei der Kripo Akranes, einem Küstenstädtchen mit rund 8000 Einwohnern nördlich von Reykjavík. Die Trauer und Wut, die sie nach dem Selbstmord ihres Partners Davið zurück in ihren Heimatort geführt haben, sind ebenso verblasst wie die Zweifel über die Richtigkeit dieser Entscheidung. Nicht zuletzt hat dazu ihr Kollege Sævar beigetragen, mit dem sie das letzte Weihnachtsfest auf Teneriffa verbracht hat.

Zwei Leichen – ein Fall?
Anders als zunächst vermutet, hat es Elma auch in Akranes keinesfalls nur mit Verkehrsdelikten und Einbrüchen zu tun. Nach einem Leichenfund am alten Leuchtturm von Akranes in Band eins und einem weiteren im Lavafeld bei Grábrók im zweiten Band beginnt der dritte gemeinsame Fall mit der Brandstiftung in einer Villa im September 2019. Am Unglücksort findet die Polizei die Leiche des unauffälligen jungen Informatikstudenten Marinó, der in seinem Bett verbrannte. Kurze Zeit später entdecken die Ermittler im Schuppen der Villa eine weitere Leiche, die bereits einige Tage vorher dort versteckt wurde. Hängen die beiden Fälle zusammen, und wenn ja, wie? Wurden die beiden Morde von derselben Person begangen oder gibt es mehrere Täter bzw. Täterinnen? Und welches Motiv oder welche Motive stecken dahinter?

Collage: © B. Busch. Buchcover: © Kiepenheuer & Witsch

Von Februar bis November 2019
Der erste Teil von Verborgen ist in acht Kapitel unterteilt, in denen wir dem Geschehen – beginnend mit „In der Nacht davor“ – acht Tage lang folgen. In Teil zwei werden die acht weiteren Ermittlungstage unterbrochen durch Rückblenden in die Monate vor den Taten,  mit genauen Zeitangaben überschrieben und kursiv gedruckt. Drei abschließende Kapitel handeln von den beiden Monaten nach Abschluss der Ermittlungen, die weitere Überraschungen bereithalten.

Spannend, aber kaum Islandflair
Wie schon die beiden Vorgängerbände Verschwiegen und Verlogen hat mich Verborgen als ansprechend geschriebener, spannender Krimi gut unterhalten, sowohl bezüglich der komplexen Krimihandlung und der Ermittlungsarbeit, bei der Gründlichkeit vor Schnelligkeit geht, als auch in Bezug auf das Privatleben des Ermittlerteams. Hier liegen Trauer und Freude dicht beieinander und stehen die Zeichen auf Veränderung, so dass ich auf die Fortsetzung sehr gespannt bin. Gefallen hat mir auch das Motiv Mutterschaft, das die 1988 geborene Isländerin Eva Björg Ægisdóttir, selbst dreifache Mutter, gekonnt variiert. Psychologisch interessant ist der Blick in unterschiedliche Familien und Paarbeziehungen mit teilweise erschreckender Kälte. Die dritte Säule dieser Krimireihe habe ich dieses Mal allerdings schmerzlich vermisst: Im Gegensatz zu den anderen Bänden gibt es wenig Lokalkolorit, man erfährt fast nichts über Island, weder geografisch noch kulturell, und braucht auch die sonst sehr nützlichen Landkarten in den Buchdeckeln nicht.

Insgesamt kommt Verborgen für mich nicht ganz an die Vorgängerbände heran, aus der Hand legen konnte ich das Buch trotzdem nicht. Ich freue ich mich schon jetzt auf die Fortsetzung.

Eva Björg Ægisdóttir: Verborgen. Aus dem Isländischen von Freyja Melsted.     Kiepenheuer & Witsch 2024
www.kiwi-verlag.de

 

Weitere Rezensionen zu Krimis von Eva Björg Ægisdóttir auf diesem Blog:

Bd. 1
Bd. 2

Claire Keegan: Das dritte Licht

  Was sein könnte

 

Nur knapp 100 großzügig bedruckte Seiten umfasst die Erzählung Das dritte Licht der 1968 geborenen Irin Claire Keegan. Die Geschichte erschien erstmals 2009 mit dem Originaltitel Foster (Pflege“) und 2013 im Steidl Verlag auf Deutsch. Das wunderschöne leinengebundene Hardcover der überarbeiteten Ausgabe von 2023 zeigt das Bild eines Mädchens, das exakt meiner Vorstellung von der etwa sieben- bis achtjährigen Protagonistin entspricht.

Zu viele hungrige Mäuler
Die namenlose Ich-Erzählerin wächst in einer armen, kinderreichen Familie im ländlichen Irland auf. Es sind die frühen 1980er-Jahre, in Nordirland sterben IRA-Häftlinge durch Hungerstreik. Der Vater spielt und trinkt, die Mutter ist erneut schwanger und man möchte sich über den Sommer eines Essers entledigen. Kurzerhand liefert der Vater die Tochter bei ihr unbekannten Verwandten an der Ostküste ab.

Ein Empfang mit offenen Armen
Die Trauerweiden vor dem Bauernhaus könnten ein schlechtes Omen sein, aber die hohen, glänzenden Fensterscheiben, die Wärme, Stille und Sauberkeit der Küche, der Blumenstrauß auf dem Tisch und der Kuchengeruch sprechen eine andere Sprache. Freudig wird sie von den Pflegeeltern begrüßt:

»Sie ist hier willkommen.« (S. 16) 

Foto: © M. Busch. Collage: © B. Busch. Buchcover: © Steidl

Zuneigung und Vertrauen
Einen Sommer darf die Ich-Erzählerin beim kinderlosen Ehepaar Kinsella verbringen, die ihr eine nie gekannte Zuneigung, Zärtlichkeit und Wertschätzung entgegenbringen. Zunächst wagt sie nicht, ihrem Glück zu vertrauen:

Dauernd warte ich darauf, dass etwas passiert, dass die Leichtigkeit, die ich verspüre, endet: dass ich in einem nassen Bett aufwache, etwas falsch mache, mir einen richtig groben Schnitzer leiste, etwas zerbreche, aber jeder Tag ist fast so wie der vorhergehende. (S. 43)

Schmerzlich begreift sie durch die Liebe der Pflegeeltern, woran es in ihrem Zuhause fehlt, wie hier, als der Pflegevater ihre Hand ergreift:

Sobald er sie nimmt, merke ich, dass mein Vater kein einziges Mal meine Hand gehalten hat, und ein Teil von mir will, dass Kinsella mich loslässt, damit dieses Gefühl vergeht. (S. 67)

Hin- und hergerissen fühlt sie sich zwischen Loyalität zu ihrer Herkunftsfamilie und Sehnsucht danach, „dieser Ort ohne Scham und Geheimnisse könnte mein Zuhause sein“ (S. 31). Hier wird sie gebadet, umsorgt, neu eingekleidet, vervollkommnet ihr Lesen, findet neue Wörter und hilft der Pflegemutter im Haushalt. Durch den Dorftratsch erfährt sie vom Geheimnis der Kinsellas, das wie eine schattenhafte Trauer über dem Haus hängt. Einfühlsam erklärt ihr der Pflegevater, wann Schweigen besser als Reden ist.

Ein Schatz im Bücherschrank
Das dritte Licht
ist ein umwerfendes, behutsam erzähltes Buch voller vielsagender Auslassungen. Wenig erfahren wir von der Protagonistin über ihre Entbehrungen, vielmehr erahnen wir sie durch die Dinge, die der genauen Beobachterin bei den Kinsellas auffallen. Die einfache Sprache des Kindes mit den knappen Sätzen im Präsens ist völlig unsentimental, aber gerade deshalb entfaltet die Geschichte eine so elementare Wucht und rührte mich immer wieder zu Tränen.

Ein großes kleines Buch und eine dringende Lese-Empfehlung.

Im November 2023 kam die Verfilmung unter dem Titel The Quiet Girl in die deutschen Kinos. Der Film wurde als erste irisch-sprachige Produktion für einen Oscar nominiert.

Claire Keegan: Das dritte Licht. Aus dem Englischen von Hans-Christian Oeser. Steidl 2023
steidl.de