Die meisten Begebenheiten dieses Buches sind authentisch, aber sie sind mit der Stimme des Schriftstellers erzählt, so, wie er es vor sich sieht, nach dem, was er gesehen und geträumt hat. (Quellen, S. 220)
Der familienbiografische Roman Die Hebamme des 1949 an der norwegischen Westküste geborenen Schriftstellers und Theaterregisseurs Edvard Hoem über seine Ururgroßmutter begeisterte mich 2021. Die Geschichte von Mutter und Vater, auf Deutsch erstmals 2007 erschienen und zuvor in Norwegen – nicht zuletzt wegen eines Tabuthemas – ein großer Erfolg, führt in die neuere Hoemsche Familiengeschichte und ist mindestens ebenso lesenswert. Beide Bücher sind zugleich Zeitdokumente über das bäuerliche Leben in West-Norwegen im 19. Jahrhundert beziehungsweise während und nach dem Zweiten Weltkrieg.
Zwei verletzte Seelen
Edvard Hoems Vater Knut Hoem war als drittem Sohn einer frommen kleinbäuerlichen Familie die Übernahme des Hofes Bakken in Ytre Hoem nahe Molde nicht in die Wiege gelegt. Er sträubte sich lange erfolglos dagegen, als durch widrige Umstände plötzlich doch die Reihe an ihm war, denn Bauer wollte er nie werden. Viel mehr interessierte den 1917 geborenen unfreiwilligen Hoferben die protestantische Laienbewegung. Zwei Jahre lang besuchte er die Bibelschule der Inneren Mission in Oslo und reiste ab 1941 zwischen der Kartoffelernte im Herbst und der Aussaat im Frühjahr über 40 Jahre als Laienprediger auf seinem Fahrrad zum Zwecke der Erweckung durch die Täler Westnorwegens. Eine gescheiterte Verlobung – auch hierfür war der ungeliebte Hof ursächlich – beschädigte seinen Ruf. Schande hatte auch die 1924 geborenen Kristine Nylund aus der Nähe von Lillehammer, Edvards Mutter, über sich gebracht, als sie nach einem Liebesverhältnis mit einem deutschen Soldaten 1945 ein „Deutschenkind“ zur Welt brachte. Für die Hochzeit 1947 waren also keineswegs romantische Gefühle ausschlaggebend, und doch entstand durch Vertrauen und Glaube im Verlauf eine große Zuneigung, die mich beim Lesen tief berührte. Schon als Kind muss Edvard das gespürt haben:
Mama, liebst du den Papa? fragte ich Mutter einmal in meiner fernen Kindheit. […] Dann sagte sie mit fremder Stimme das, was mich fünfzig Jahre lang nicht loslassen sollte: «Ich hatte Vater nicht lieb, als ich mit ihm zusammenkam, aber ich habe ihn liebgewonnen, weil er beständig war, beständig und treu, und das ist genauso wichtig wie Liebe.» (S. 7, 8 und 9)
Familiengeschichte und Zeitdokument Edvard Hoem recherchiert für seine Romane akribisch, in diesem Fall unter anderem in Hunderten Notizbüchern seines Vaters, und ergänzt den Rest mittels Fantasie, was er „heraufbeschwören“ nennt. Genau diese Mischung aus nüchtern-faktischem Bericht und zärtlich-wertschätzendem Nachspüren macht seine nie indiskreten oder sentimentalen erinnerungsliterarischen Romane für mich so wertvoll.
Neben der Familiengeschichte und dem Bericht über die Laienprediger-Bewegung interessierte mich besonders der historische Hintergrund der deutschen Besatzung Norwegens, um die es auch in anderen herausragenden Romanen wie Vergesst unsere Namen nicht von Simon Stranger, Pferde stehlen von Per Petterson oder Die Unsichtbaren von Roy Jacobsen geht. Dass nicht alle Norwegerinnen und Norweger Rache an den „Deutschenflittchen“ wollten, bewiesen Kristines Dorfnachbarinnen, als sie ihr nach der Geburt „Rømmegraut“ brachten und damit Wohlwollen und Mitgefühl für ihr Unglück zum Ausdruck brachten, ebenso wie der junge Prediger, der alle überraschte: „Ich kann sie doch nehmen.“ (S. 146)
Mit Heimatland. Kindheit gibt es noch einen weiteren familienbiografischen Roman Edvard Hoems auf Deutsch, den ich unbedingt ebenfalls lesen möchte.
Zweimal war Said Al-Wahid seit seiner Flucht in seiner irakischen Heimat: nach dem Sturz der Diktatur, heimlich, während in Deutschland sein Asylverfahren lief und in den Straßen von Bagdad das Chaos amerikanischer Soldaten herrschte, und zwei Jahre später, kurz vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs. 2014 wird er plötzlich ein drittes Mal nach Hause gerufen: Sein jüngerer Bruder Hakim teilt ihm mit, dass ihre Mutter im Sterben liegt. Said, der gerade auf dem Weg von einer Podiumsdiskussion in Mainz zurück nach Berlin ist, begibt sich umgehend zum Frankfurter Flughafen:
Said Al-Wahid hat seinen Reisepass überall dabei, egal, wohin er geht. Er hat ihn bei einem Podiumsgespräch in Mainz dabei und auch im Supermarkt um die Ecke. (S. 25)
Auf seiner Reise nach Bagdad begleiten ihn Gedanken an seine vier Jahre dauernde Fluchtodyssee, seine ersten Jahre in Deutschland mit befristeten und unbefristeten Aufenthaltsgenehmigungen, Abschiebungsandrohungen, Widerrufsverfahren, Duldung und schließlich der Einbürgerung, bürokratischen Schikanen bis heute und einem ständigen Gefühl der Unsicherheit:
In der Fremde gibt es keine Himmelsrichtungen. (S. 8)
Traumata
Dabei ist Saids Integration eine Erfolgsgeschichte: Abitur am Studienkolleg und Studium an der Philosophischen Fakultät in München als einziger arabischer Student, Jobs zur Finanzierung, Ehe mit Monica, einer deutschen Sozialarbeiterin aus einer Mittelschichtsfamilie, der zweijährige Sohn Ilias und erste schriftstellerische Erfolge.
Worüber er mit niemandem sprechen kann, sind die „Minenfelder“ im Gedächtnis, der als Verräter hingerichteten Vater, über den geschwiegen werden musste, die im Bürgerkrieg mit ihrer Familie getötete Schwester und die traurige Mutter, die mit Krisen umgehen kann, nicht jedoch mit glücklichen Momenten. All dies beeinträchtigt sein Erinnerungsvermögen:
Said scheiterte bei jedem Versuch, einen längeren Text zu verfassen. Es war grauenhaft. (S. 47)
Erst als er beginnt, die Gedächtnislücken mit Fiktion zu füllen, erlebt er einen „Schreibdurchfall“.
Der Erinnerungsfälscher des deutsch-irakischen Autors Abbas Khider ist mit gerade einmal 124 Seiten leider ein sehr kurzer Roman. Albtraumhafte Flucht aus einem desolaten Land, Ankommen in Deutschland, das auch den integrationswilligsten Schutzsuchenden immer neue bürokratische Felsbrocken in den Weg rollt, Rassismus und Vorurteile in der neuen sowie schwierige Besuche in der alten Heimat, wo sich auch Jahre nach dem Sturz der Diktatur nichts zum Besseren entwickelt, sind seine Themen.
Mehrwert der Perspektive Wie bei Herkunft von Saša Stanišić oder Eine Formalie in Kiew von Dmitrij Kapitelman liegt der besondere Wert von Abbas Khiders Roman für mich in der Perspektive des Migranten, der aus eigener Anschauung schreibt. Zwar betont er in Interviews, dass Der Erinnerungsfälscher ein literarisches Werk und keine Biografie sei, sein eigenes Schicksal als 1973 in Bagdad geborener Autor, seine Flucht 1996 nach mehreren Gefängnisaufenthalten und die Ankunft in Deutschland 2000 liefern jedoch erkennbar die Vorlage.
Dass man trotz der traurigen Thematik bei der Lektüre nicht verzweifelt, liegt am gelungenen Wechsel zwischen nüchtern wiedergegebenen Fakten und Poetik, den originellen Sprachbildern, dem Wortwitz und Humor und dem immer durchscheinenden Optimismus. Unfassbar, dass Abbas Khider erst mit 27 Jahren die deutsche Sprache erlernt hat!
Sowohl für die deutsche Literatur als auch für die politische Debatte hierzulande sind Stimmen wie die von Abbas Khider eine große Bereicherung. Höchste Zeit also für mich, auch seine vier früheren, etwas umfangreicheren Romane kennenzulernen.
Denke ich an Island, fallen mir Vulkane, Fischerei, Islandpferde und die alten Isländersagas ein. Spätestens seit dem Gastlandauftritt auf der Frankfurter Buchmesse 2011 unter dem Titel „Sagenhaftes Island“ bewundere ich die für ein Land mit nur knapp 360.000 Einwohnern hohe Zahl von Autorinnen und Autoren. Daneben gilt Island aber heute – wie alle nordischen Länder – als Vorbild in Toleranz, Geschlechtergerechtigkeit und liberaler Haltung gegenüber LGTBQ, immerhin gibt es gleichgeschlechtliche Ehen bereits seit 2010.
Über eine völlig andere gesellschaftliche Realität in den 1960er-Jahren, als sexuelle Übergriffe auf Frauen alltäglich und akzeptiert waren, Schriftstellerinnen misstrauisch beäugt wurden, Homosexuelle unter polizeilicher Beobachtung standen und farbige US-Soldaten als unerwünscht galten, erzählt die 1958 geborene Isländerin Auður Ava Ólafsdóttir in ihrem 2019 mit dem Prix Médicis étranger für den besten ausländischen Roman des Jahres ausgezeichneten Buch Miss Island.
Strenge gesellschaftliche Normen
1942 wird Hekla auf einem Bauernhof im westisländischen Dalir geboren und von ihrem vulkanbegeisterten Vater nach einem solchen benannt. Mit 21 Jahren zieht es sie samt Schreibmaschine, englischsprachiger Ulysses-Ausgabe und Romanmanuskript nach Reykjavík. Sie träumt von einer Zukunft als Schriftstellerin und Zugehörigkeit zum Stammtisch der männlichen Poeten im Café Mokka. Doch 1963 sieht die isländische Gesellschaft ganz anderes für Frauen vor: Teilnahme an Miss-Wahlen und Familiengründung. Heklas Freundin Ísey, die als jungverheiratet Mutter inzwischen in einer Kellerwohnung in Reykjavík lebt und eigentlich auch gerne schreiben würde, hadert mit ihrem Schicksal:
„Du ziehst hinaus in die Welt, und ich bliebe hier und hoffe, dass der Fischhändler den Schellfisch in ein Gedicht oder einen Fortsetzungsroman einwickelt.“ (S. 191)
Und noch ein Freund lebt seit Kurzem in der Hauptstadt: Jón John, vaterloses Besatzungskind, hübschester Junge von Dalir und ständiges Opfer von Hass und Spott, weil er immer schon die Nähmaschine den Spielen der Kameraden vorzog. Für den schwulen jungen Mann ist das Leben in Reykjavík nicht einfacher als auf dem Land:
„Wir gelten als Knabenschänder. […] Wir werden anspuckt. Wer ein Telefon hat, wird nachts angerufen und bekommt Morddrohungen.“ (S. 55)
Sein Traum von einer Arbeit als Kostümschneider beim Theater oder in einem Modehaus scheint noch ferner als Heklas:
„Auch wenn die Welt keinen Platz für einen Schwulen hat, Hekla, dann hat sie Platz für eine Schriftstellerin.“ (S. 234)
Aufbruch zu neuen Ufern
In Ermangelung isländischer Vorbilder liest Hekla Bücher ausländischer Schriftstellerinnen wie Harper Lee, Silvia Plath, Simone de Beauvoir oder der soeben in Deutschland (wieder-)entdeckten Tove Ditlevsen. Eines immerhin kann Island ihr bieten: Buchhandlungen überall, gut sortierte öffentliche Bibliotheken und alte Isländersagas sogar in den Bücherschränken der entlegensten Gehöfte, die vor allem auch gelesen werden.
Wenig spürt man dagegen 1963 auf Island von Martin Luther King, John F. Kennedy oder den Beatles, die anderswo die Menschen bewegen. Jón John hält nichts auf seiner Insel und Hekla folgt ihm, nachdem ihre Beziehung zu Starkaður, einem Dichter mit Schreibhemmung, an Kollegenneid und mangelndem Verständnis gescheitert ist.
Aber ist auf dem Festland wirklich alles besser? Welche Zugeständnisse werden auch dort nötig?
Miss Island ist ein ebenso gut zu lesender wie informativer, nicht wehleidiger Roman über Diskriminierung, Träume, Begeisterung, Zielstrebigkeit, Mut und eine der berührendsten Freundschaften, die ich je in der Literatur gefunden habe. Mit jeder Seite wächst die Lust auf mehr isländische Bücher, vor allem von Frauen.
2020 ging der wichtigste britische Literaturpreis, der Booker Prize, vergeben für das beste Buch in englischer Sprache, an einen Debütroman: Shuggie Bain von Douglas Stuart. Der Preisträger des Jahres 2021 war dagegen bereits zum dritten Mal nominiert: Damon Galgut, geboren 1963 in Südafrika. Für seinen Roman DasVersprechen bekam er den Preis nun erstmals zugesprochen und reiht sich ein in eine Serie afrikanischer Preisträger 2021: Literaturnobelpreis für Abdulrazak Gurnah, Friedenspreis des Deutschen Buchhandels für Tsitsi Dangarembga und Prix Goncourt für Mohamed Mbougar Sarr, um drei weitere zu nennen.
Vier Jahrzehnte, vier Präsidenten, vier Beerdigungen Im Zentrum von Galguts Roman steht die weiße südafrikanische Mittelstandsfamilie Swart. Nach vier ihrer fünf Mitglieder sind die vier Teile benannt: „Ma“, eigentlich Rachel, „Pa“, eigentlich Herman Albertus, genannt Manie, „Astrid“ und „Anton“. Jeder Teil spielt in einem anderen Jahrzehnt, beginnend 1986 in der Endphase der Apartheit unter Frederik Willem de Klerk. Die jüngste Tochter der Swarts, die dreizehnjährige Amor, wird zur Beerdigung ihrer Mutter aus dem Internat abgeholt. Es gibt Unruhen in den Townships, der Ausnahmezustand sowie eine Nachrichtensperre sind verhängt und die Familie versammelt sich an ihrem Wohnsitz, einer Farm außerhalb Pretorias. Salome, die schwarze Hausangestellte und hingebungsvolle Pflegerin der Mutter in ihren letzten Lebensmonaten, bleibt aus Rassegründen von der Trauerfeier ausgeschlossen.
Für Amor beginnt nach dem Tod der Mutter ein Kampf für die Umsetzung eines Versprechens, das der Vater seiner Frau kurz vor deren Tod gegeben hat: Salome soll für ihre Verdienste das kleine Haus erhalten, in dem sie mit ihrem Sohn lebt.
Auch in den weiteren Teilen, die nach dem Ende der Apartheit unter der Präsidentschaft von Nelson Mandela 1995, unter Thabo Mbeki 2004 und Jacob Zuma 2018 spielen, kommen die verbliebenen Familienmitglieder in der zunehmend herunterkommenden Farm zu Beisetzungen zusammen. Jede findet nach einem anderen Ritus und unter anderen gesellschaftlichen Vorzeichen statt. Parallel zu den politischen Umwälzungen im Land zerfällt die Familie und immer steht das unerfüllte Versprechen im Raum, das aller Leben beeinflusst.
Wenig Grund für Optimismus Analog zur derzeitigen politischen Situation Südafrikas durchzieht auch den Roman vorwiegend Tristesse, scheitern doch alle Figuren an den eigenen Träumen, am Alkohol, an den sich ändernden Lebensbedingungen im Land, an ihren Versprechen – nicht nur an dem für Salome – oder verschreiben sich einem spirituellen Heilsbringer. Trotzdem gibt es gleich ein ganzes Bündel von Gründen, warum ich Das Versprechen so überaus gerne gelesen habe und mich über die Wahl der Jury freue. Die Idee, die Handlung anhand von Beerdigungen zu erzählen, ist ebenso originell wie brillant umgesetzt, die Verbindung zwischen der politisch-gesellschaftlichen Entwicklung Südafrikas und der Familiengeschichte funktioniert bestens und die Ambivalenz der Familienmitglieder und Nebenfiguren ist, soweit sie als Schwarze nicht „unsichtbar“ bleiben, stimmig herausgearbeitet. Besonders beeindruckt hat mich die außergewöhnliche Erzähltechnik mit einem Bewusstseinsstrom im Präsens in einer stimmlichen Kakophonie wechselnder Perspektiven sowie der direkten Ansprache mal der Figuren, mal der Leserinnen und Leser, reichlich gewürzt mit Humor, Ironie und Sarkasmus. Ein Roman also, der mir nicht nur Spaß gemacht und mich unterhalten, sondern mir die neuere Geschichte Südafrikas nähergebracht hat:
Denn die Familie Swart hat so gar nichts Besonderes oder Bemerkenswertes, o nein, sie gleicht der Familie von der Nachbarfarm und der Nachbarfarm der Nachbarfarm, nur ein gewöhnlicher Haufen weißer Südafrikaner, und wenn du es nicht glaubst, brauchst du nur einmal darauf zu achten, wie wir sprechen. […] Unsere Seele ist irgendwie verrostet, regenfleckig und verbeult, und das hört man unserer Stimme an. (S. 278)
Damon Galgut: Das Versprechen. Aus dem südafrikanischen Englisch von Thomas Mohr. Luchterhand 2021 www.penguinrandomhouse.de
Weitere Rezensionen zu Romanen, die mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurden, auf diesem Blog:
Es ist fast die Regel, dass ich beim Namen des neuen Nobelpreisträgers oder der Nobelpreisträgerin für Literatur ahnungslos mit den Schultern zucke, so auch 2021 bei Abdulrazak Gurnah. Allerdings weckte die für alle unerwartete Wahl dieses Mal sofort mein Interesse, waren doch die Stimmen einhellig positiv, der Prämierte in den ersten Interviews sehr sympathisch und sowohl die Thematik seiner Werke als auch die Region, in der sie angesiedelt sind, klangen sehr verheißungsvoll. Ich freute mich daher sehr, dass der Penguin Verlag pünktlich zur Preisverleihung im Dezember 2021 Gurnahs 1994 für den Booker Prize nominierten Roman Das verlorene Paradies in einer sehr geschmackvoll gestalteten Ausgabe mit großzügigem Druck und Lesebändchen wieder auf Deutsch zugänglich machte.
Der Schauplatz: Ostafrika um 1900 Ostafrika war lange vor der Kolonialisierung durch Engländer und Deutsche ein Schmelztiegel der Nationen, Kulturen, Sprachen und Religionen. Afrikaner, Araber und Inder lebten zwar nicht friedlich, aber in gewachsenen Strukturen nebeneinander. Diese keineswegs perfekte Welt kurz vor ihrer endgültigen Zerstörung steht in Dasverlorene Paradies im Mittelpunkt, nicht die europäischen Kolonialmächte, die sich bereits überall im Land breitmachen.
Yusuf Mitten in dieser Welt wächst Yusuf auf, Sohn armer Eltern aus dem Landesinneren, dessen Erwachsenwerden wir miterleben. Seine Kindheit endet abrupt in seinem zwölften Lebensjahr, als er einem reichen arabischen Kaufmann als Pfand zufällt. Er muss ihm in eine große Stadt am Meer folgen, dort in seinem Laden arbeiten und ihn später auf seinen Handelszügen zu den „Wilden“ begleiten. Der hübsche junge Mann erregt Aufsehen und weckt die Begierde von Männern und Frauen gleichermaßen.
Erst allmählich begreift Yusuf, dass der Geschäftsmann nicht, wie er dachte, sein Onkel, sondern sein Seyyid, sein Herr, ist, und dass er, der immer von Albträumen gequält wird, nie die ersehnte Freiheit erlangen wird:
„Sie haben uns dazu erzogen, ängstlich und gehorsam zu sein, sie zu ehren, selbst wenn sie uns missbrauchen.“ (S. 303)
Das Einzige, was in dieser von Gewalt, Derbheit, Obszönität und Hierarchien geprägten Männerwelt paradiesisch erscheint, ist der Garten des Seyyid:
Das Haus, in dem wir wohnten, hatte einen wunderschönen Garten, mit einer hohen Mauer rundherum. Mit Palmen und Orangenbäumen und sogar Granatäpfeln und Wasserrinnen, mit einem Teich und duftenden Sträuchern. (S. 88/89)
Für Leserinnen und Leser mit Vorwissen Mit Abdulrazak Gurnah hat das Nobelpreiskomitee einen 1948 im ostafrikanischen Sansibar geborenen Autor auszeichnet, der bereits 1967 als Bürgerkriegsflüchtling nach Großbritannien kam, dort bis zu seinem Ruhestand Professor für Anglistik und postkoloniale Literatur war, seine zehn Romane auf Englisch verfasste und sich heute für andere Flüchtlinge einsetzt.
Ohne Vorkenntnisse über die Region und die Zeit erschloss sich mir Gurnahs Erzählabsicht nur schwer, obwohl der Roman vordergründig nicht kompliziert zu lesen ist. Zum besseren Verständnis hätte ich unbedingt ein ausführliches Vorwort über die politische und gesellschaftliche Situation in Ostafrika um 1900 sowie die Koranbezüge des Textes und eine Landkarte gebraucht, um die vielen Orte, Episoden und die von gegenseitiger Geringschätzung geprägten Dialoge besser einordnen zu können. Trotz aller euphorischer Kritiken des Feuilletons gehört Das verlorene Paradies für mich deshalb zu den Romanen, die man durchaus lesen kann, um eine unbekannte Welt und einen empathisch gezeichneten Protagonisten kennenzulernen, die man jedoch nicht unbedingt lesen muss.
Abdulrazak Gurnah: Das verlorene Paradies. Aus dem Englischen von Inge Leipold. Penguin 2021 www.penguinrandomhouse.de
Wer will schon Tag und Nacht für andere schuften, wenn er oder sie auch ein schönes Leben führen und all die großartigen Orte dieser Welt entdecken könnte? Der kleine Roboter Rob 1 jedenfalls will kein Diener sein und haut deshalb klammheimlich aus der Fabrik ab, kurz bevor er verkauft wird. Nun steht ihm die große weite Welt offen! Mit einem Jumbo-Jet macht er sich auf nach London. Wie er dort mit seiner Neugier, seinen ganz speziellen Roboterfähigkeiten, seinem guten Herzen und seinem Einfallsreichtum an einem ereignisreichen Tag nicht nur die Stadt und ihre Sehenswürdigkeiten entdeckt, sondern im Straßenhund Jonny auch noch einen Freund fürs Leben und bei ihm sogar ein neues Zuhause findet, erzählt Walter Kössler alias Walko wie gewohnt humorvoll, herzerwärmend und ebenso detailreich wie fantasievoll und liebevoll illustriert.
Der Schwerpunkt liegt bei diesem Kinderbuch für kleine Zuhörerinnen und Zuhörer ab fünf Jahren, das den Auftakt zu einer neuen Reihe bildet, nicht auf der Spannung, sondern auf der Freundschaftsgeschichte, den Londoner Sehenswürdigkeiten und der Erkenntnis, dass man sein Schicksal selbst in die Hand nehmen muss. Dazu braucht es Mut, Pfiffigkeit und vor allem ein Herz auf dem rechten Fleck, alles Eigenschaften, über die Rob in großem Maße verfügt. Robs technische Fähigkeiten und sein Wissen bieten darüber hinaus den ein oder anderen zusätzlichen Erkenntnisgewinn. Ob sich das 48 ungezählte Seiten umfassende Buch allerdings als Erstleserlektüre eignet, hängt sehr vom jeweiligen Kind ab: Die hübsch anzusehende Schrift ist keine Fibelschrift, es gibt keine Kapiteleinteilung und auf einigen Seiten ist die Zeilenmenge für Leseanfängerinnen und –anfänger sehr groß. Hilfreich sind in jedem Fall die vielen Bilder, die das Textverständnis unterstützen, mal seitenfüllend, mal als kleine Erinnerungsfotos mit Bildunterschrift, die Robs vollautomatische Augenkamera für sein eingebautes Erinnerungsalbum fotografiert.
Für mich erreicht Rob und Jonny zwar nicht ganz den Zauber von Walkos abenteuerlicher Reihe Hase und Holunderbär, ich kann es zum Vorlesen jedoch trotzdem sehr empfehlen. Wer könnte schon einer Geschichte widerstehen, in der es am Ende eines aufregenden Tages heißt:
Zu zweit machte alles einfach viel mehr Spaß. Und Rob freute sich auch. Für ihn begann jetzt ein herrliches, freies Leben. Eins, wie man es sich herrlicher nicht vorstellen kann. A wonderful life, wie man in London sagt.
Meine liebsten Bücher 2021 sind nicht alle in diesem Jahr erschienen, sie haben mich aber im Laufe des Jahres am nachhaltigsten beschäftigt und sind zu Freunden geworden. Mein Kriterium ist dabei weder, dass die Bücher sich bereits über lange Zeit als Klassiker bewährt haben, noch die Überzeugung, dass sie auch in hundert Jahren noch gelesen werden. Es ist eine subjektive Auswahl von Titeln, die für mich im genau richtigen Augenblick kamen.
Coronabedingt war Kanada unter dem Motto „Singular Plurality – Singulier Pluriel“ 2020 und 2021 Gastland der Frankfurter Buchmesse. Meine schönsten Entdeckungen in dieser Zeit waren Die Unschuldigen von Michael Crummey undDas weite Herz des Landesvon Richard Wagamese (1955 – 2017), einem der wichtigsten indigenen Autoren Kanadas. Wie er in seiner Danksagung schreibt, wurde der Roman, der 2014 unter dem OriginaltitelMedicine Walkerschien, „in langen Nächten der Selbsterforschung und Reflexion“ geboren.
Der letzte Weg Franklin gehört den kanadischen First Nations an, wuchs aber bei einem alten weißen Farmer auf. Erst mit sieben Jahren erfährt er, wer sein leiblicher Vater ist: Eldon Starlight, Halb-Ojibwe, Wanderarbeiter, verwahrloster Alkoholiker ohne Halt und Bezug zu den eigenen Traditionen:
„Das Indianerzeug ist irgendwie hinten runtergefallen, weil wir so damit beschäftigt waren, in der anderen Welt den Kopf über Wasser zu halten.“ (S. 60)
Während der fürsorgliche Alte den Jungen alles lehrt, was er für ein freies Leben mit und in der Natur braucht, enttäuscht ihn sein Vater bei jedem der sporadischen Zusammentreffen. Doch als Eldon Anfang der 1970er-Jahre den Tod nahen fühlt, bittet er seinen sechzehnjährigen Sohn, ihn zum Sterben auf einen 60 Kilometer entfernten Bergkamm zu begleiten und lockt ihn mit einem Versprechen:
„Du sollst mich mit dem Gesicht nach Osten begraben“, sagte der Vater. „Im Sitzen, wie einen Krieger.“ „Du bist kein Krieger.“ […] Er wandte sich dem Jungen zu, schwankte ziemlich, stützte sich haltsuchend auf die Tischplatte und sah seinen Sohn aus halb geschlossenen Lidern an. „Früher schon“, sagte er. „Davon muss ich dir erzählen. Muss dir vieles erzählen.“ (S. 32/33)
Mit dem sterbenden Vater auf dem Rücken seines Pferdes macht Franklin sich zu Fuß auf den Weg ins Hinterland von British Columbia. Eine atemberaubende Natur, Franklins Erinnerungen an seine Kindheit auf der Farm mit den immer ausgedehnteren Ausflügen alleine in die Wildnis sowie Eldons Erzählung bilden den Kern dieses sehr berührenden Romans, in dem eigentlich nicht viel passiert, der aber trotzdem von einer starken Spannung getragen wird. Eldons Geschichte ist voller Dramatik: Sein Vater fiel im Zweiten Weltkrieg, als Eldon dreizehn Jahre alt war, fortan musste er als Tagelöhner an wechselnden Orten schuften. Seine ungeplante Flucht weg von der Mutter und sein persönliches Trauma aus dem Koreakrieg versuchte er im Alkohol zu ertränken. Als unerwartet das Glück anklopfte, versagte er. Nicht nur Franklins anfängliche Wut auf den Vater schlägt während der abenteuerlichen Reise in Mitleid um, sondern auch meine.
„Geschichten zu teilen heißt Dinge zu verändern“ (S. 228) Obwohl Eldon schon als Kind die Magie des Geschichtenerzählens erlebte, kann er selbst sich erst kurz vor seinem Tod dem Sohn öffnen:
„Es lag immer eine Last auf ihm, als würde er Kornsäcke bergauf schleppen, aber er hat nie davon gesprochen.“ (S. 273)
Anrührend, aber nie rührselig Das weite Herz des Landes ist eine äußerst bewegende, bild- und sprachmächtige Geschichte über die heilende Wirkung des Erzählens, über Zugehörigkeit und Traditionen, Familienbande und Fürsorge, Schuld und Vergebung, Rassismus und Naturverbundenheit. Mir hat dieses Kammerspiel mit den drei männlichen Protagonisten und den starken Dialogen ausnehmend gut gefallen. Es ist eines der Bücher, die mir nachhaltig im Gedächtnis bleiben.
Richard Wagamese: Das weite Herz des Landes. Aus dem kanadischen Englisch von Ingo Herzke. Mit einem Nachwort von Katja Sarkowsky. Blessing 2020 www.penguinrandomhouse.de
Weitere Rezensionen zu Büchern auf diesem Blog, die anlässlich des Gastlandauftritts von Kanada auf den Frankfurter Buchmessen 2020/2021 erschienen:
Im Mai 1964 beginnt beim Pfingsttreffen der deutschen Jugend in Ostberlin eine Liebe, die es aus Sicht der DDR-Funktionäre nicht hätte geben dürfen. Kaspar Wettner, Geschichts- und Germanistikstudent aus Westberlin, verliebt sich in Birgit, eine ostdeutsche Ökonomiestudentin. Während Kaspar Birgits Flucht in den Westen plant, ahnt er nichts von ihrem Geheimnis, das wie ein Schatten auf ihrer etwa 50 Jahre währenden, keineswegs unglücklichen Ehe lasten wird:
Es hatte zwischen ihnen bei aller Nähe eine tiefe Distanz gegeben, er hatte sie mehr geliebt als sie ihn, sie hatte sich finden wollen und war ohne ihn auf die Suche gegangen, sie hatte Geheimnisse vor ihm gehabt, hatte mit anderen Männern geschlafen, hatte vieles angefangen und wenig vollendet – na und? Tiefdrinnen und tiefdrunten hatte er nicht alles gewusst, aber doch, dass sie sich nie ganz geben konnte und dass er sie nie ganz hatte. (S. 132)
Erster Teil: Ein deutsch-deutscher Eheroman Der Roman Die Enkelin von Bernhard Schlink beginnt mit dem Abend, an dem der 71-jährige Berliner Buchhändler Kaspar seine alkoholkranke, depressive Frau Birgit tot in der Badewanne findet. Von einem Verleger nach Birgits Romanmanuskript gefragt, macht er sich auf die Suche und findet wenige Seiten, die ihm, der immer weggesehen hat, um seine Frau nicht zu verlieren, den Grund für Birgits Ruhe- und „Ortslosigkeit“ enthüllen. Um seine Trauer zu betäuben, will er vollenden, wozu sie nicht den Mut hatte: die Suche nach ihrer in der DDR zurückgelassenen Tochter Svenja.
Zweiter und dritter Teil: Die neue Rechte Nach erstaunlich glatt verlaufenden Recherchen findet Kaspar nicht nur die mit einem Neo-Nazi in einem völkischen Dorf in Mecklenburg lebende Svenja und erfährt deren dramatisch verlaufene Lebensgeschichte, sondern auch die von der rechtsnationalen Ideologie durchdrungene Enkelin Sigrun. Mit schier endlosem Verständnis und voller Vertrauen in die heilende Kraft von Kunst, Literatur und besonders Musik beginnt Kaspar, Sigrun behutsam Alternativen zur völkischen Gesinnung nahezubringen.
Wenn die Latte zu hoch hängt Auf neue Romane von Bernhard Schlink freue ich mich vor allem wegen des immer gut gewählten und recherchierten historischen Bezugs. Entsprechend waren meine Erwartungen groß, erfüllten sich jedoch dieses Mal nur teilweise, obwohl der zeitgeschichtliche Hintergrund wieder ausgesprochen erhellend ist, sowohl hinsichtlich der deutsch-deutschen Frage als auch der mir bisher unbekannten, kurios anmutenden völkischen Gemeinschaften. Bedauerlicherweise ist jedoch der Brückenschlag zwischen beiden Themen zu konstruiert. Die schablonenhaften, seltsam emotionslos agierenden Figuren wurden vor meinen Augen nie lebendig, seien es der bis zur Unglaubwürdigkeit gutmütige, duldsame Schöngeist Kaspar, die in ihrer Rastlosigkeit überzeichnete Birgit, Sigruns klischeehafte Nazieltern, die ihre Tochter aus finanziellen Erwägungen bedenkenlos wochenweise einem Wildfremden mit völlig konträren Ansichten überlassen oder Sigrun selbst, die zwar in ihrer rechten Verblendung, nicht jedoch als Teenagerin an einer normalen Schule glaubhaft ist. Sowohl die steifen Dialoge mit einem Hang ins Didaktische als auch Kaspars mit rhetorischen Fragen gespickte innere Monologe gingen mir auf die Nerven. Positiv überrascht hat mich dagegen das Ende, das glücklicherweise ohne Rührseligkeit auskommt.
Die Enkelin wird mir nicht so im Gedächtnis bleiben, wie es die zweifellos interessanten Themen verdient hätten. Das ist schade, denn Bernhard Schlink kann es besser.
Bernhard Schlink: Die Enkelin. Diogenes 2021 www.diogenes.ch
Weitere Rezension zu einem Roman von Bernhard Schlink auf diesem Blog:
Der Sommerurlaub 2021 in der Nähe von Husum, der Geburtsstadt von Theodor Storm (1817 – 1888), seiner „grauen Stadt am Meer“, brachte mich auf die Idee, wieder einmal seine frühe Novelle Immensee zu hören.
Immensee wurde erstmals 1849 im Volksbuch auf das Jahr 1850 für Schleswig, Holstein und Lauenburg veröffentlicht. 1851 erschien die Novelle überarbeitet und auf das Wesentlichste gekürzt in einem Band mit dem Titel Sommergeschichten und Lieder. Es ist die sehr lyrische, noch in der Epoche der Romantik verhaftete Geschichte einer verlorenen Liebe, erzählt aus der Sicht eines alten, alleinlebenden Mannes, der sich an einem Abend im Spätherbst mittels eines einzigen Wortes in seine Jugend zurückversetzt:
„Elisabeth!“, sagte der Alte leise; und wie er das Wort gesprochen, war die Zeit verwandelt – war er in seiner Jugend.
Elisabeth und Reinhard verbrachten die Jahre ihrer Kindheit und Jugend zusammen und der fünf Jahre ältere Junge erzählte dem kleinen Mädchen Märchen und schrieb Gedichte. Doch als er zum Studium wegging, brach er sein Versprechen, Elisabeth Märchen zu schicken. Er fühlte sich ihrer zu sicher, genoss seine Freiheit, obwohl er ahnte, dass auch sein Freund Erich um sie warb. Als Reinhard die erlösenden Worte Elisabeth gegenüber nicht sprach, sondern sie auf die Zeit nach seiner endgültigen Rückkehr verschob, gab die junge Frau schließlich dem Drängen ihrer Mutter nach und nahm Erichs dritten Antrag an.
Bei einem Besuch Jahre später auf Gut Immensee, das Erich mit Elisabeth bewirtschaftete, erlebte Reinhard die schwesterliche Verbundenheit der geliebten Frau zu ihrem Mann und die gegenseitige Dankbarkeit des Paares. Er verließ das Haus und kehrte nie wieder.
Auf einer CD mit knapp 64 Minuten Laufzeit liest Christian Standtke die Novelle, die Theodor Storm berühmt machte, sehr gut zum Grundton des Textes passend: wehmütig, ruhig und melancholisch. Ich war überrascht, wie sehr der Text, den Theodor Storm mitten in der industriellen Revolution und fast zeitgleich zum Kommunistischen Manifest von Karl Marx und Friedrich Engels verfasste, aus der Zeit gefallen scheint. Wer sich jedoch ganz auf den schwermütigen Ton einlässt, den nimmt die Novelle mit in eine ferne Epoche, in der Mädchen passiv zuhause warteten und sich von versorgungsfixierten Müttern in ungeliebte Ehen drängen ließen. Ein Abend im Spätherbst am prasselnden Kaminfeuer eignet sich dafür besonders gut.
Theodor Storm: Immensee. Sprecher: Christian Standtke. Argon 2003 www.argon-verlag.de