Marco Balzano: Wenn ich wiederkomme

  Italienkrankheit und Eurowaisen

Wenn alte Menschen Hilfe benötigen, nicht ins Heim möchten und die Angehörigen sie nicht pflegen können oder wollen, kommen osteuropäische Pflegekräfte als tragende Säule der Altenpflege ins Spiel. Genaue Zahlen gibt es nicht, doch gehen Fachleute von einigen Hunderttausend Pflegemigrantinnen aus, vor allem aus Polen, Rumänien, Bulgarien oder der Ukraine. Ihre persönlichen Schicksale und die ihrer zurückgelassenen Familien bleiben meist im Dunkeln.

Der italienische Autor Marco Balzano greift solche verborgenen Themen gerne auf, zuletzt das Schicksal der Südtirolerinnen und Südtiroler in Ich bleibe hier. Für seinen Roman Wenn ich wiederkomme hat er über Rumäninnen in italienischen Haushalten und ihre sogenannte „Italienkrankheit“ recherchiert, hat mit vielen von ihnen gesprochen, in Rumänien Einrichtungen für zurückgelassene Kinder und Jugendliche, die „Eurowaisen“, besucht und sich ein hohes Ziel gesetzt:

Es zu schreiben, war für mich ein Versuch der Wiedergutmachung. (Nachwort S. 311)

© B. Busch

Eine Familie von vielen
Aus drei Perspektiven schildert Marco Balzano das Leben der Familie Matei aus einem ostrumänischen Dorf an der moldawischen Grenze. Im ersten Teil erfahren wir durch Manuel, wie die Mutter Daniela die Familie ohne Ankündigung verließ, als er zwölf Jahre alt war, seine Schwester Angelica zwanzig. Mit einer illegalen Beschäftigung als Altenpflegerin in Mailand möchte Daniela die finanzielle Notlage durch die Arbeitslosigkeit des antriebsschwachen Ehemanns lindern. Manuel verliert nacheinander die Mutter, den Vater, der Arbeit in Russland findet, die Schwester, als sie ein Architekturstudium beginnt, und den geliebten Großvater. Unausweichlich kommt es zur Tragödie, als die exklusive Privatschule sich als Qual entpuppt, die Einsamkeit immer unerträglicher und der sporadische Kontakt zur Mutter von zunehmender Entfremdung und Befangenheit überschattet wird:

Ein unbekanntes Schweigen drückte uns nieder, und ich wusste weder ein noch aus. (S. 33)

Im zweiten Teil, dem umfangreichsten, erfahren wir Danielas Sicht: die Alternativlosigkeit ihres Weggehens, die Schuldgefühle, die unerfüllten Träume und ihr von Abhängigkeit und Rassismus geprägtes Leben in Italien:

„Ihr habt echt ein Händchen im Umgang mit unseren Alten und Kinder…“
„Wen meinen Sie mit >ihr<, Signora?“
„Na, ihr aus dem Osten. Ihr könnt das besser als Philippinas, dafür können die besser putzen, stimmt’s?“ (S. 185)

Erzählerin im dritten Teil ist Angelica. Ihre Promotion beweist Daniela, dass ihr Opfer nicht vergebens war. Zwar ist Angelica ihrer Mutter dankbar, andererseits prangert sie deren ausschließliche Fixierung auf das Geld an, möchte selbst einen anderen Weg gehen und fühlt sich um ihre Jugend gebracht:

Mein Vater mag alle möglichen Mängel dieser Welt haben, aber er ist der Einzige in der Familie, der mich nie ausgenutzt hat.“ (S. 270)

Melancholisch und relevant
Mein anfängliches Verständnis für Daniela und ihre Notlage und meine Bewunderung für ihren Ehrgeiz bezüglich der Ausbildung ihrer Kinder schwanden leider im Laufe des Romans. Wie sie Manuel und Angelica immer fremder wird, so erging es auch mir, und ich konnte zunehmend weniger Mitgefühl für ihre Sturheit aufbringen. Marco Balzano hat angesichts seines großen Materialvorrats viel in diese Figur gepackt, unter anderem auch eine unkommentierte Ceaușescu-Nostalgie, die mich angesichts von dessen unzweifelhaften Verbrechen stört. Fast keine Rolle spielt dagegen der Vater. Trotzdem ist der melancholische, einfach geschriebene Roman unbedingt zu empfehlen, denn er rückt Menschen ins Licht, mit denen wir – direkt oder indirekt – in Berührung kommen, von denen wir aber nichts wissen.

Marco Balzano: Wenn ich wiederkomme. Aus dem Italienischen von Peter Klöss. Diogenes 2021                      
www.diogenes.ch

 

Weitere Rezensionen zu Romanen von Marco Balzano auf diesem Blog:

 

Sylvie Schenk: Roman d’amour

  Katz-und-Maus-Spiel um Wahrheit und Fiktion

Die Frage nach autobiografischen Bezügen ihrer Romane gehört zu den am häufigsten gestellten und von vielen Autorinnen und Autoren meistgehassten. In Roman d’amour der deutsch-französischen Romanschriftstellerin und Lyrikerin Sylvie Schenk, die 1944 in Frankreich geboren wurde, seit 1992 auf Deutsch schreibt und in beiden Ländern lebt, geht es genau darum.

Roman im Roman
Die gut 70-jährige Schriftstellerin Charlotte soll für ihr neuestes Buch Roman d’amour einen erstmals verliehenen, schlecht dotierten Literaturpreis auf einer Nordseeinsel erhalten. Zuvor soll sie der Journalistin Frau Sittich ein ausführliches Radiointerview geben. Doch was auch immer Charlotte von diesem Interview erwartet hatte, es läuft anders und sonderbar. Frau Sittich scheint sich weniger für den Roman als für dessen autobiografische Hintergründe zu interessieren und eröffnet das Gespräch sogleich mit einem Affront:

„Ich heiße Charlotte“, sagte ich. „Sie haben mich gerade Klara genannt.“ Sie schlug dreimal ihre künstlichen Wimpern nieder und die Hände über den Mund: „Oh Pardon! Sie merken, liebe Charlotte, wie die Persönlichkeit Ihrer Protagonistin in mir nachwirkt, eine tolle Figur, Ihre Klara, so lebendig, so real.“ (S. 13) 

Damit hat Frau Sittich, die Charlotte mit ihren zunehmend hintergründigen Fragen immer mehr herausfordert, von dieser jedoch mit Provokationen gekonnt gekontert wird, recht. Der Dreiecksgeschichte im Roman zwischen der Schuldirektorin Klara, dem jüngeren Kollegen und Familienvater Lew und dessen französischstämmiger Frau Marie liegen eigene Erfahrungen zugrunde. Vor gut 25 Jahren hatte auch die nach ihrer Scheidung vereinsamte Charlotte eine leidenschaftliche Affäre mit einem ebenfalls verheirateten, etwas jüngeren Mann namens Ludo:

Mit Lew habe ich meinen verflüchtigten Liebhaber festgeschrieben. (S. 31)

Sowohl die Romanfigur Klara wie ihre Erfinderin Charlotte führten ein Geheimleben, beide verloren – allerdings auf unterschiedliche Weise – während einer Radtour durch Irland gegen die Ehefrauen.

© B. Busch

Besondere Erzählstruktur
Sylvie Schenk verwebt drei Ebenen so gekonnt, dass es beim Lesen höchster Aufmerksamkeit bedarf: kursiv gedruckte Bruchstücke des Romans mit der Geschichte von Klara, Lew und Marie, stille Erinnerungen Charlottes an ihre reale Affäre mit Ludo sowie das sich stetig zum Duell steigernde Interview. Je mehr die übergriffige Journalistin insistiert, desto unwillig abwehrender reagiert Charlotte:

„Ich bleibe bei meiner Meinung, liebe Charlotte“, fuhr sie fort, „ich denke, dass Klara Ihr wirkliches Alter Ego ist und dass Sie Marie nur das Französischsein mit auf den Weg gegeben haben. Würden Sie Ihre Romane als ein Stück Therapieliteratur sehen oder eher als eine künstlerische Form des Beichtstuhls?“ […]
„Weder noch“, sagte ich, „weder therapeutische Literatur noch Beichtstuhl.“ (S. 85/86)

„Charlotte, springen Sie über Ihren Schatten! Ein letztes Mal!“
„Eben“, sagte ich, „ich brauchte einen Schatten. Wer keinen Schatten wirft, existiert nicht.“ (S. 110)

Intelligent und leise-humorig
Es sind nicht die beiden gänzlich unspektakulären Dreiecksgeschichten, die den schmalen Band mit dem Interview in Echtzeit besonders machen, eher schon die gänzlich kitschfreien Gedanken über Ehebruch, Schuldbewusstsein, Moral und das Wesen der Liebe. Außergewöhnlich jedoch ist die raffinierte Verschachtelung der Romanebenen und die Frage nach den Beweggründen der im Schlagabtausch zunehmend emotional agierenden Journalistin, die nicht nur Charlotte, sondern auch mich beschäftigt hat. Auch der leise Humor hat mir gut gefallen und der Spiegel, den mir die Autorin vorhält, denn unwillkürlich habe ich mich beim Lesen immer stärker für die Parallelen zwischen ihr und Charlotte interessiert…

Sylvie Schenk: Roman d’amour. Carl Hanser 2021
www.hanser-literaturverlage.de

Sabine Bohlmann & Kerstin Schoene: Der kleine Siebenschläfer – Gleich ist alles wieder gut

  Wie schön, wenn man getröstet wird!

Meine charmanteste Entdeckung auf der Frankfurter Buchmesse 2021 war ein Nagetier am Thienemann-Esslinger-Stand: der kleine Siebenschläfer mit seiner Schnuffeldecke. Es gibt ihn bereits seit 2015 in verschiedenen Bilderbüchern und Pappbilderbüchern, nur kannte ich ihn leider bisher nicht.


Tapsiger Helfer in der Not
Bauchweh kennen auch schon die Allerkleinsten und so können Bilderbuchneulinge ab etwa zwei Jahren von Herzen mit dem geplagten Siebenschläfer mitfühlen, den nicht einmal seine geliebte Schnuffeldecke trösten kann. Zum Glück kommt die freundliche Haselmaus vorbei und schleppt umgehend eine Wärmflasche für den geplagten Freund an. Doch dann entpuppt sie sich als tapsige Helferin, denn anstatt auf den Bauch legt sie sie dem kleinen Patienten erst auf den Kopf, dann auf den Rücken, die Füße und den Popo. Bis die Wärmflasche endlich richtig liegt, ist sie bereits kalt. Aber da fällt der Haselmaus etwas viel Besseres ein, denn Bauchweh ist ja schließlich auch der Wunsch nach Zuwendung, und schon bald tut dem kleinen Siebenschläfer schon fast gar nichts mehr weh…

© B. Busch

Ein Feuerwerk von Gefühlen
Das Duo Sabine Bohlmann (Text) und Kerstin Schoene (Illustration) erzählt in diesem quadratischen, 16 mal 16 Zentimeter großen Pappbilderbuch mit abgerundeten Ecken auf nur acht farbigen Doppelseiten viel mehr als nur eine ausgesprochen niedliche Geschichte. Die Themen Kranksein, Freundschaft, Zuwendung und Trost sind auch für die Altersgruppe ab zwei Jahren schon klar zu erfassen. Die Emotionen der Tiere zeichnen sich auf den Gesichtern und in der Körpersprache von Siebenschläfer und Haselmaus deutlich erkennbar ab: Verwunderung, Anteilnahme, Traurigkeit, Hoffnung, Skepsis, Genervtsein, Fröhlichkeit, Freude, Stolz, Glück und Zufriedenheit, von allem ist etwas dabei. Die Tapsigkeit der Haselmaus sorgt für Heiterkeit beim Betrachten und ermuntert die Kinder zum Mitmachen, denn selbstverständlich wissen sie viel besser, wo die Wärmflasche hingehört. Die sich wiederholenden Textzeilen des Siebenschläfers „Das ist nicht mein Bauch! Das ist …“ können auch Zweijährige bereits begeistert mitsprechen.

Der kleine Siebenschläfer – Gleich ist alles wieder gut ist eine herzerwärmende, völlig kitschfreie Geschichte zum Verlieben, für die Allerkleinsten ab etwa zwei Jahren genauso wie für Erwachsene. Besser kann der Einstieg in die Bilderbuchwelt nicht sein.

Sabine Bohlmann & Kerstin Schoene: Der kleine Siebenschläfer – Gleich ist alles wieder gut. Thienemann 2019
www.thienemann-esslinger.de

Karma Brown: Todsichere Rezepte für die moderne Hausfrau

  Ein Haus, zwei Bewohnerinnen, zwei Zeitebenen

 

Karma Brown war als kanadische Journalistin und Buchautorin Teil des Gastlandauftritts Kanadas bei der Frankfurter Buchmesse 2021. Mit Todsichere Rezepte für die moderne Hausfrau landete sie in ihrem Heimatland einen Bestseller.

 

Nellie und Alice
Nellie bezieht das große Haus in Greenville vor den Toren von New York Mitte der 1950er-Jahre hoffnungsfroh. Sie ist Mitte 20 und frisch verheiratet mit dem wohlhabenden Kaugummifabrikanten Richard Murdoch. Während ihrer Kindheit mit einer alleinerziehenden, depressiven Mutter musste sie früh Verantwortung übernehmen, nun hofft sie auf Familienglück und eine starke Schulter. Ausgerüstet mit dem von ihrer Mutter handschriftlich kommentierten „Kochbuch für die moderne Hausfrau“ und ihrer Liebe zur Gartenarbeit möchte sie den zeitgenössischen Anforderungen an die perfekte Ehefrau genügen. Doch schnell sind ihre Hoffnungen dahin:

[…] Nellie hatte mittlerweile akzeptiert, dass ihre Ehe bestenfalls unerträglich, schlimmstenfalls lebensgefährlich war. Den Richard, den sie damals im Restaurant kennengelernt hatte – den charmanten Mann, der sie mit Aufmerksamkeiten und Geschenken überschüttete und sie glauben machte, sie müsse das Glück nur ergreifen -, gab es nicht mehr. In Wahrheit war dieser Mensch schon in ihrer Hochzeitsnacht verschwunden […]. (S. 197) 

Pech für Richard, dass er Nellies Entschlossenheit unterschätzt…

2018 zieht Alice mit ihrem Mann Nate Hale in das mittlerweile vernachlässigte Haus, auch sie keine 30 und frisch verheiratet. Lieber wäre sie in Manhattan geblieben, aber durch den Verlust ihres PR-Jobs und mit nichts als vagen Plänen für einen Roman hat sie dem Wunsch ihres Mannes wenig entgegenzusetzen – zumal sie ihn über den Grund ihrer Arbeitslosigkeit belogen hat. Widerwillig übernimmt sie die Haus- und Gartenarbeit, bis sie im Keller Nellies Kochbuch findet und deren nie abgeschickte Briefe an ihre Mutter in die Hand bekommt…

Viele Klischees und ein unglücklicher Fokus
Das Cover mit der typischen Hausfrau aus der Werbung der 1950er-Jahre, der doppeldeutige Titel und das Versprechen schwarzen Humors haben mich zu einem meiner seltenen Ausflüge ins Genre „Leichter Frauenroman“ bewogen. Zwar gefällt mir die Idee mit dem verbindenden Haus und den beiden Zeitebenen, Themen wie weibliche Rollenbilder, Selbstbestimmung, Mutterschaft und häusliche Gewalt sind zweifellos relevant und mit zwei Nachbarinnen gibt es zwei starke Nebencharaktere, doch liegt der Schwerpunkt leider mit 28 von 44 Kapiteln bei Alice, für die ich weder Anteilnahme noch gar Sympathie aufbringen konnte. Sie belügt wiederholt ihren Mann und unterstellt ihm Unehrlichkeit, agiert beruflich unprofessionell, naiv und dumm, behandelt ihre einzige Freundin mies und scheint nicht zu wissen, was sie will. Auch das Ende dieses Handlungsstrangs hat mir nicht gefallen. Nellie und ihre Geschichte sind dagegen ungleich interessanter und ihre Kapitel haben mehr Pfiff, allerdings habe ich sie früh durchschaut. Parallelen zwischen den beiden Frauenschicksalen vermag ich aufgrund der sehr verschiedenen Charaktere und Zeitumstände nicht zu ziehen.

Die hübsch gestalteten Kapitel beginnen mit leider ernst gemeinten Ratschlägen für perfekte Ehefrauen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den Kapiteln über Alice beziehungsweise Rezepten der amerikanischen Küche aus den 1950er-Jahren bei Nellie. Gestört haben mich die Häufung von Druckfehlern, einige zu wörtliche Übersetzungen und der mehrfach verschmierte Druck auf dem einfachen Papier.

Schade, aber mich konnte dieser hochgelobte Unterhaltungsroman leider nicht begeistern.

Karma Brown: Todsichere Rezepte für die moderne Hausfrau. Aus dem Englischen von Hans M. Herzog. Penguin 2021
www.penguinrandomhouse.de

 

Weitere Rezensionen zu Büchern auf diesem Blog, die anlässlich des  Gastlandauftritts von Kanada auf den Frankfurter Buchmessen 2020/2021 erschienen:


       

Alina Bronsky: Barbara stirbt nicht

  Niemand ist zu alt, um sich zu ändern

Herr Schmidt, Hausgerätetechniker im Ruhestand und seit 52 Jahren verheiratet, kann weder eine Kaffeemaschine bedienen noch eine Kartoffel kochen. Bisher war das auch nie nötig, hat doch Barbara, seine Frau, ihn vorbildlich umsorgt in der neuen Küche, seinem Geschenk zur Goldenen Hochzeit und allein „Barbaras Reich“. Doch eines Tages fehlt der gewohnte morgendliche Kaffeeduft, Barbara ist im Badezimmer zusammengebrochen und steht, als er sie mühsam ins Bett verfrachtet hat, nicht mehr auf. Herrn Schmidts Glaube an Barbaras unerschütterliche Gesundheit erweist sich als tragischer Irrtum.

© B. Busch

 

Ende der Alltagsroutine
Es war keine Liebesheirat, eher eine Verpflichtung, als sich ein Kind ankündigte. Viel Arbeit musste Herr Schmidt in Barbara investieren, den russischen Akzent abtrainieren, sie aufpäppeln, monatelange Küchenmissgeschicke ertragen, den Widerstand seiner Mutter überwinden und verhindern, dass man in dem Dorf bei Frankfurt, in das er und seine Mutter als Flüchtlinge gekommen waren, mehr als nötig auffiel. Und doch scheint sich das Ehepaar Schmidt eingerichtet zu haben, jeder in seinem eng begrenzten Zuständigkeitsbereich, Herr Schmidt in der Erwerbsarbeit, Barbara zuhause. Nun wird die gewohnte Routine unterbrochen und Herr Schmidt durch die Vertreibung aus seiner Komfortzone aus der Bahn geworfen. Oder sorgt er sich doch um Barbara?

Küche statt Krankenpflege
Alina Bronsky erzählt die Geschichte konsequent in personaler Erzählweise aus der Sicht von Herrn Schmidt, der als einziger nie mit seinem Vornamen, Walter, genannt wird. Da er Barbaras Krankheit nicht beim Namen nennt, erfahren wir weder, worunter sie leidet, noch direkt, wie es ihr geht. Für die medizinische Behandlung, später den Pflegedienst, sind die beiden Kinder Sebastian und Karin zuständig, zu denen Herr Schmidt schon lange einen wenig herzlichen Kontakt pflegt. Wie Barbaras Krankheit verdrängt Herr Schmidt auch hier, womit er nicht umgehen kann: Sebastians schwarze (Ex-)Frau mit dem Enkel sowie Karins lesbische Beziehung zu Mai, für ihn lediglich ihre „beste Freundin“.  Nur die sich häufenden Besuche und besorgte Nachfragen aus Barbaras erstaunlich großem, Herrn Schmidts überschaubarem Bekanntenkreis lassen die tatsächliche Dramatik erahnen.

Herr Schmidt dagegen wirft sich in die Küchenarbeit, unterstützt von der Bäckereiverkäuferin, dem Fernsehkoch Medinski und dessen Internet-Fangemeinde. Dass Barbara von seinen immer komplizierteren Koch- und Backversuchen immer weniger essen kann, ist ein weiterer Hinweis auf ihren sich verschlechternden Gesundheitszustand. Dabei ist Herr Schmidt sicher:

 Wenn sie gut isst, wird sie gesund. (S. 129) 

Barbara geht es gut. […] Das Wichtigste ist, dass sie nicht verhungert. Dafür sorge ich. […]“ (S.211)

 Die offenbare Ignoranz ihres Vaters irritiert auch Karin:

 „Papa. Ich verstehe, es ist schwer.“
„Nichts ist schwer. Lass mich.“
„Papa. Deine Reaktionen sind verstörend. Das muss aufhören. Wir können doch nicht die ganze Zeit vor Ort sein.“
„Das hoffe ich.“ (S. 164/165)

Humorvoll, aber nicht belanglos
Barbara stirbt nicht ist weniger skurril als vorherige Romane von Alina Bronsky wie Baba Dunjas letzte Liebe oder Der Zopf meiner Großmutter, obwohl Herr Schmidt mit seiner aberwitzigen Lebensuntüchtigkeit durchaus solche Züge aufweist. Seine Wandlung vom unsensiblen, politisch unkorrekten Kotzbrocken zum einigermaßen empathiefähigen Zeitgenossen, der mir wider Willen sympathischer wurde, ist humorvoll-leicht, bisweilen schräg und immer kurzweilig beschrieben, wobei mir seine Facebook-Karriere oder das alte Familiengeheimnis zu übertrieben waren. Sehr gelungen sind dagegen die lebenserhaltenden Verdrängungsmechanismen, ein literarisches Thema, das mich immer wieder zu fesseln vermag. Barbara stirbt nicht ist deshalb nur vordergründig ein leichtes Wohlfühlbuch. Auf den zweiten Blick entdeckt man mehr.

Alina Bronsky: Barbara stirbt nicht. Kiepenheuer & Witsch 2021
www.kiwi-verlag.de

 

Weitere Rezensionen zu Romanen von Alina Bronsky auf diesem Blog:

   

Eva Menasse: Dunkelblum

  Phänomenologie des Schweigens

Als „letzte hochtrabende Führerbunker-Phantasie“ (S. 259) plante das Oberkommando der Wehrmacht den sogenannten Südostwall als Bollwerk gegen die Rote Armee von den Weißen Karpaten bis an die Drau. Unter den zum Bau Zwangsverpflichteten waren 30.000 bis 40.000 ungarisch-jüdische Zwangsarbeiter, von denen viele bei Massenhinrichtungen am Kriegsende starben. Traurige Berühmtheit erreichte das Massaker von Rechnitz, bei dem in der Nacht vom 24. auf den 25. März 1945 während eines Festes der Nazi-Kollaborateurin Gräfin Margit von Batthyány, geborene Thyssen, etwa 200 jüdische Zwangsarbeiter erschossen wurden. Im Gegensatz zu anderen Orten wurde das Rechnitzer Massengrab nie gefunden und die unerhörten Vorkommnisse wurden Stoff verschiedener Filme, Sachbücher, Romane und Theaterstücke.

Basierend auf den historischen Fakten hat die 1970 in Österreich als Tochter eines jüdischen Vaters geborene Eva Menasse ihren Roman Dunkelblum konzipiert. Die fiktive Kleinstadt im österreichischen Burgenland direkt an der ungarischen Grenze war bis zum Brand des Schlosses 1945 gräflicher Familiensitz. Im alten Teil von Dunkelblum, den Nikolaus Heidelbach im Vor- und Nachsatz illustriert hat, scheint die Zeit still zu stehen:

Ohne großen Dekorationsaufwand hätte man hier Filme drehen können, die die lang vergangenen Zeiten zeigten. (S. 29)

Livestream mit Eva Menasse und Ursula März aus dem Literaturhaus Hamburg am 31.08.2021. © B. Busch

Ruhestörungen
Eine Idylle ist Dunkelblum jedoch keineswegs:

In Dunkelblum lastete es von unten. (S. 44)

Wo man in Dunkelblum mit dem Fingernagel kratzt, kommt einem eine Schandtat entgegen. (S. 371)

Das Schweigen, das so lange ein „gedeihliches Zusammenleben“ (S. 326) garantierte, gerät im Spätsommer 1989 bedrohlich ins Wanken: Ein Fremder kommt und stellt unangenehme Fragen, langhaarige Wiener Studierende der Zeitgeschichte restaurieren den verwahrlosten jüdischen Friedhof, der Stadel der argwöhnisch beäugten Bio-Winzerfamilie Malnitz brennt ab, der homosexuelle Außenseiter Rehberg recherchiert für eine Ortschronik derweil seine Helferin Eszter Lowetz überraschend verstirbt, Drohbriefe kursieren, über ein Ortsmuseum und die Wasserversorgung wird gestritten, Flocke Malnitz, die in alten Geschichten „stierlt“, verschwindet spurlos, die Grenze zu den „Drüberischen“ wird plötzlich durchlässig und bei Grabungen nach Quellen taucht eine alte Leiche auf. Das alles stört die beinahe vergessene „lokale Schicksalsbestie“ in ihrem „Dornröschenschlaf“ (S. 15) und bringt den Interimsbürgermeister Koreny ins Grübeln:

Er hatte nicht geahnt, wie wenig es brauchte, um alles miteinander zu verknüpfen. Nur ein bisschen Phantasie und es pickte zusammen, Phantasie funktionierte offenbar wie Mörtel oder Montagekleber, sogar das Abgelegenste fügte sich ein. Wo hinein? In eine jahrzehntelange Verschwörung des Grauens. (S. 441)

Nicht das Massaker steht im Mittelpunkt dieses herausragenden Romans, sondern das Schweigen danach:

Und daher ging es quasi direkt nach den alten Römern mit den Russen weiter, mit der erbärmlichen, demütigenden Nachkriegszeit […] Vom Leid, der Not und den Verbrechen gegen die Mädchen und Frauen erzählten die Alten so bereitwillig, wie sie vom unmittelbaren Davor schwiegen. (S. 196)

Ein Lesehighlight 2021
In kurzen Kapiteln stehen unzählige verschiedene Figuren im Mittelpunkt, was mich ohne Personenregister (dafür mit Glossar der Austriazismen) sehr gefordert hat: Nazis, wie der Stratege Dr. Alois Ferbenz und der gefürchtete Schläger Horka, Mitläufer, Profiteure der Arisierung jüdischen Eigentums wie die Hotel-Besitzerin Resi Reschen, Rückkehrer wie der Jude Antal Grün, Opfer von Fememorden und Täter. Zusammen mit der schwarzhumorigen Erzählweise begeisterten mich jedoch genau diese Vielstimmigkeit der filigran gezeichneten, oft ambivalenten Figuren und der historische Hintergrund. Warum dieses pralle Kleinstadtpanorama nicht zur engsten Auswahl für den Deutschen Buchpreis 2021 gehört, ist mir rätselhaft.

Am Ende finden die vielen Fäden höchst gekonnt zusammen – aber halt:

Das ist nicht das Ende der Geschichte. (Schlusssatz S. 512)

Eva Menasse: Dunkelblum. Kiepenheuer & Witsch 2021
www.kiwi-verlag.de

 

Henning Ahrens: Mitgift

  Nur die Störche sind frei

Nicht selten nehmen Autorinnen und Autoren die eigene Familiengeschichte zum Vorbild für einen Roman. Bei Henning Ahrens, geboren 1964, Schriftsteller und Übersetzer namhafter englischsprachiger Belletristik, standen gleich mehrere Ahnengenerationen Pate für seinen Roman Mitgift:

Die Spanne reicht von meinem Urururururgroßvater (hier Hans Wilhelm Leeb) bis zu meinem Vater (hier Wilhelm Leeb junior). Ort, Beruf etc. entsprechen den Tatsachen, die Romanfiguren dagegen lassen sich nicht ohne weiteres mit ihren Vorbildern gleichsetzen. (Nachwort, S. 343)

© Hintergrund: freestockgallery.de, Gesamtbild: B. Busch

Im Zentrum steht das Jahr 1962, sieben der zweiundzwanzig Kapitel tragen die Überschrift „August 1962 – Die Totenfrau“. Diese Teile sind aus der Sicht von Gerda Derking geschrieben, einer Frau Mitte sechzig, die in einem Häuschen neben dem Hof der alteingesessenen Bauernfamilie Leeb im niedersächsischen Dorf Klein-Ilsede bei Peine lebt. Wäre sie als Arbeitertochter nicht ohne Mitgift gewesen, dann hätte Wilhelm Leeb senior damals sie und nicht die reiche Bauerntochter Käthe Kruse geheiratet. So ist sie stille, längst mit ihrem Schicksal versöhnte Beobachterin, begeisterte Leserin und Totenfrau– und hat das gewiss das bessere Los.

Im August 1962 hat sie ihre schwere Tätigkeit als Totenfrau gerade aufgegeben, als Wilhelm Leeb senior sie noch einmal holt:

«Gerda», sagt er «das kannst nur du. Ich will keine Fremden im Haus haben. Um der alten Zeiten willen? Bitte.»

So demütig kennt man den herrischen Großbauern sonst nicht, den begeisterten Nazi und SA-Mann, der freiwillig in die Ukraine zog, um als Landwirtschaftsführer der Zuckerzentrale die Heimat und die Wehrmacht zu beliefern. Die Führung des Hofes überließ er unterdessen seiner von ihm verachteten Frau und seinem sensiblen halbwüchsigen Sohn Wilhelm Leeb junior, genannt Willem. Ab März 1944 musste er mit der Wehrmacht den Rückzug antreten und landete schließlich nach Kriegsende in polnischer Gefangenschaft, aus der er erst 1949 zurückkehrte – ohne jede Spur von Reue oder Schuldbewusstsein, obwohl ihm weder die Leiden der Ukrainer, noch das Schicksal der Juden verborgen geblieben waren. Stattdessen forderte er Mitleid ein und schwang sich zum Diktator auf dem Hof auf:

Ich habe tausend Läuse zerdrückt, und was habt ihr unterdessen getan? Den Hof habt ihr verkommen lassen. Kein Geld, kein Saatgut? Unsinn: Keine Tatkraft, kein Wagemut, keine Visionen – das ist euer Problem. (S. 267)

Es ist nicht der erste Vater-Sohn-Konflikt bei den Leebs, aber keiner war so zerstörerisch:

Auf jeden Fall war es erbarmungswürdig mit anzusehen, wie der Sohn am Vater zerschellte. (S. 242)

© M. Busch

Blicke in die Vergangenheit
Seit 1699 ist der Leebsche Hof im Familienbesitz, einzelne Kapitel führen schlaglichtartig und nicht-chronologisch in die Vergangenheit zurück, in behutsam an die Zeit angepasster Sprache. Alle Generationen fühlten sich der Tradition verpflichtet, die ihnen als Mitgift in die Wiege gelegt wurde, niemand war je so frei, wie die immer wieder im Roman auftauchenden Störche. Mancher hätte gerne einen anderen Beruf ergriffen, einige waren pietistisch-fromm, einer vererbte den Besitz der Hermannsburger Mission, worauf drei Generationen ihn dort abbezahlen mussten. Wilhelm Leeb senior ist die siebte Generation in Folge – und dann?

Gänsehautgefühl
Verdient stand Mitgift auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2021 und ich hätte mir ein Weiterkommen sehr gewünscht. Die Verbindung aus Tradition und Einzelschicksal, Nachwirkungen des Nationalsozialismus, Rolle der Frauen auf dem Hof und tragischer Vater-Sohn-Beziehung, geschildert aus wechselnder Perspektive, haben mich begeistert. Obwohl das Ende früh feststand, rief das ausführliche letzte Kapitel Gänsehautgefühl bei mir hervor – deutliches Zeichen dafür, wie sehr mich Henning Ahrens in die Familientragödie verwickeln konnte.

 

Weitere Rezension zu einem Roman auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2021:

Jenny Erpenbeck: Kairos

  Doppeltes Requiem

 

 

Am 11. Juli 1986 begegnen sich die 19-jährige Katharina, Setzerlehrling, und der 53-jährige Schriftsteller Hans W. in einem Bus in Ostberlin zum ersten Mal:

 

Die Türen schlossen sich wieder, der Bus fuhr an, sie suchte nach einem Haltegriff.
Und da sah sie ihn.
Und er sah sie.
Draußen ging eine wahre Sintflut hernieder, drinnen dampfte es von den feuchten Kleidern der Zugestiegenen. (S. 16)

Noch am gleichen Abend nimmt er sie mit in seine Wohnung, weder seine Frau noch sein 14-jähriger Sohn sind zuhause. Sie hören Mozarts Requiem und landen im Ehebett:

Nie wieder wird es so sein wie heute, denkt Hans. So wird es nun sein für immer, denkt Katharina. (S. 29)

Ob Kairos, der Gott des glücklichen Augenblicks, für diese schicksalhafte Begegnung verantwortlich war, fragt sich Katharina, als sie viele Jahre später, nach Hans‘ Tod, die beiden Kartons mit Erinnerungsstücken auspackt.

© B. Busch

Der erste Karton…
… enthält Andenken aus den ersten 14 Monaten der Beziehung, Licht und Schatten gleichermaßen. Es ist eine Zeit, während der Katharina „immer weiter fortgerissen“ wird, in der sie entdeckt, „dass sie so lieben kann“, sie Hans beim Familienurlaub an der Ostsee beobachtet und sich ein gemeinsames Kind vorstellen kann. Sie genießt es, von ihm ausgeführt zu werden, bewundert ihn für seine Bildung und akzeptiert seine Machtdemonstrationen mittels sadomasochistischer Praktiken. Erstaunlich zurückhaltend vorgebrachte Bedenken ihrer Eltern und Warnungen ihrer Freunde ignoriert sie:

Seit du mit diesem Hans zusammen bist, hast du irgendwie dein Strahlen verloren. (S. 134)

Hans ging als Student bewusst in den Osten, weil er, desillusioniert von der Rückkehr alter Nazis auf alte Posten, alle Hoffnungen auf die antifaschistische DDR setzte. Nun idealisiert er Katharina ebenso wie damals den Staat und stilisiert sie zu einer Heiligen. Wie die kommunistische Regierung auf Widerstand mit immer drastischerer Unterdrückung antwortete, reagiert auch Hans, der nie seine Ehe für Katharina aufs Spiel setzten würde, auf das, was er für ihren Verrat hält.

Der zweite Karton…
… legt Zeugnis von Hans‘ Terror und Machtgehabe als Reaktion auf Katharinas „Treuebruch“ ab: Verhöre, Überwachung, Gehirnwäsche, Vorwürfe:

Für mich ist dein Betrug die größte und einschneidendste Niederlage meines Lebens. (S. 272)

… dass du dich so erniedrigen konntest, dass du dich so klein gemacht hast – das hat dich in meinen Augen entschieden wertgemindert. (S. 312)

Bis 1992 und über die Wende hinaus zieht sich die toxische Beziehung hin. Kein Tiefpunkt beider parallel verlaufender Ereignisse bleibt ausgespart.

Die Ostperspektive macht’s
Kairos ist zweifellos ein bedeutendes Stück zeitgenössisch-deutscher Literatur, sprachlich eine Wonne und mit einer Fülle von Anspielungen auf Theater, Musik, Kunst und die DDR-Künstlerszene, von denen ich gewiss nur einen Teil erfasst habe. Was fehlt, ist eine gewisse Leichtigkeit, jedes Wort wirkt bedeutungsschwer und bisweilen gar pathetisch. Probleme hatte ich mit der Glaubwürdigkeit der Beziehung, an der Katharina unbegreiflicherweise  festhält, als sie zum Praktikum nach Frankfurt an der Oder geht und später in Ostberlin Bühnenbild studiert. Auch die Wendung im Epilog hätte es für mich nicht gebraucht. Einen wirklichen Erkenntnisgewinn brachte mir jedoch der spezielle Blick der wie ihre Protagonistin 1967 in Ostberlin geborenen Jenny Erpenbeck auf die Vorwende-, Wende- und Nachwendezeit. Dafür alleine schon lohnt die Lektüre.

Zwei Romane, die aus Ostperspektive von der Wendezeit erzählen. © B. Busch


Jenny Erpenbeck: Kairos. Penguin 2021

www.penguinrandomhouse.de

Kathy Page: Alphabet

  Lebenslang

Mitte der 1990er-Jahre war Kathy Page, in Großbritannien geborene und in Kanada lebende Autorin teilweise preisgekrönter Romane, für ein Jahr „Writer in Residence“ in einem britischen Männergefängnis. Vor allem die schwierige Aufgabe des Vollzugspersonals und die Frage nach der Therapierbarkeit von Gewaltstraftätern beschäftigten sie lang über ihren Aufenthalt hinaus. Der Roman Alphabet, der in eben dieser Umgebung spielt, thematisiert ihre Fragen und Gefühle aus dieser Zeit. Er erschien 2004 in Großbritannien und erst jetzt, 2021, auf Deutsch im Verlag Wagenbach.

Insasse AS2356768
Objekt von Kathy Pages psychologischer Fallstudie ist der ehemalige Teppichleger Simon Austen, der mit Anfang 20 am 2.09.1979 seine Freundin Amanda Brooks erwürgte und zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Als Leserinnen und Leser begleiten wir den Insassen AS2356768 durch die ersten etwa 13 Jahre seines Aufenthalts in unterschiedlichsten Haftanstalten mit wechselnden Mithäftlingen, sehr verschiedenen Haftbedingungen und Therapieansätzen. Obwohl in der dritten Person erzählt, ist es zumeist Simons Sicht, eine sehr interessante Perspektive vor allem deshalb, weil der intelligente, meist charmante junge Einzelgänger seine Umgebung durchaus zu manipulieren versteht.

Nichts in Simons Kindheit lief nach Plan: Die suchtkranke Mutter verließ ihn als Kleinkind und nahm sich bald darauf das Leben, seinen Vater kennt er nicht, von der Pflegefamilie kam er ins Heim. Bei der Ankunft im Gefängnis kann er nur mit einem Kringel unterschreiben.

Bildung als Sprungbrett
Doch Simon ist ebenso intelligent wie ehrgeizig: Innerhalb von 18 Monaten lässt er sich von einem Helfer das Lesen und Schreiben beibringen. Nach sieben Jahren im Gefängnis schreibt er Briefe für die Mithäftlinge gegen Bezahlung, kurz darauf sucht er sich eine Brieffreundin außerhalb der Gefängnismauern:

… denn, so geht es Simon durch den Kopf, wenn Leute Briefe an Fremde schreiben, befinden sie sich am Wendepunkt zwischen zwei Lebensphasen, wie Schlangen, die sich aus einer alten, zu engen Haut kämpfen. (S. 39)

© B. Busch

Dank seiner Intelligenz lernt er aus Fehlern, ändert nach Misserfolgen die Strategie, gibt nie auf und strebt nach immer höherer Bildung. Einerseits achten ihn seine Betreuerinnen und Betreuer dafür, andererseits scheinen manche geradezu Angst vor ihm zu haben, fühlen sich von seiner Weigerung zur Teilnahme am sexualverhaltenstherapeutischen Programm herausgefordert und fürchten, von ihm manipuliert zu werden – so wie ich als Leserin übrigens auch. Allerdings erkennen alle seine langsam beginnende Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit und der Straftat an:

Jahrelang war die Vergangenheit Sperrgebiet, eine Art trüber Schleier, ein schummrig beleuchteter, feuchtkalt riechender Flur irgendwo, wo niemand hinwill, mit verschlossenen Türen, wie eine Vorahnung dessen, wo er am Ende tatsächlich gelandet ist. Aber jetzt gehen ein paar Lichter an: Erinnerungen, gute, schlechte, alles Mögliche. (S. 93/94)

Ein Trans-Häftling stößt Simon ein entscheidendes Tor zur Erkenntnis auf:

„Was er getan hat, wird sich nie in Luft auflösen. Für ihn gibt es keine Scheiß-OP, klar?“ (S. 310)

Obwohl die fiktionale Geschichte im britischen Strafvollzug angesiedelt ist, ist sie doch universell, denn es geht es um so spannende Themen wie die Organisation des Strafvollzugs, Therapieansätze, Rehabilitation, Risikoprognosen, Interaktion der Häftlinge und Umgang mit eigener Schuld, die Kathy Page gekonnt in einen gut konstruierten Roman verpackt.

Kathy Page: Alphabet. Aus dem Englischen von Beatrice Faßbender. Wagenbach 2021
www.wagenbach.de

Douglas Stuart: Shuggie Bain

Schattenseiten der Thatcher-Regierung

Mit dem einjährigen Bergarbeiterstreik 1984/85 erreichte der Widerstand gegen die Politik der britischen Premierministerin Margaret Thatcher einen Höhepunkt. Bis heute werfen die Auswirkungen des Thatcherismus besonders in Schottland lange Schatten, denn die schlimmste Rezession seit den 1930er-Jahren zerstörte ein Fünftel der industriellen Basis und führte zu einem drastischen Anstieg von Arbeitslosigkeit, Alkoholismus, Drogensucht, psychischen Erkrankungen, Gewalt und Selbstmordrate. Im Glasgower Stadtteil East End sank die Lebenserwartung um elf Jahre.

Douglas Stuart wuchs während dieser Zeit in Glasgow auf. Sein Debütroman Shuggie Bain, für den er mit dem Booker Prize 2020 ausgezeichnet wurde, ist zwar nicht autobiografisch, wurde jedoch von eigenen Erfahrungen und der Erinnerung an seine alkoholabhängige Mutter inspiriert, die er nicht retten konnte.

Glasgows dunkle Seite
Shuggie Bain stammt aus der zweiten Ehe seiner Mutter Agnes, die zum Entsetzen ihrer katholischen Eltern mit ihren beiden älteren Kindern aus der Ehe mit einem verlässlichen, aber langweiligen Katholiken ausbricht und mit dem Protestanten Shug wieder bei ihren Eltern in eine Hochhauswohnung im Glasgower Stadtteil Sighthill einzieht:

Für die Siedlung hatte man die Familien aus den alten Glasgower Mietskasernen geholt, und alles sollte anders sein, modern, eine große Verbesserung. Aber in Wirklichkeit war die Siedlung zu brutal, zu spartanisch, zu schlecht gebaut, um besser zu sein. (S. 94)

Shug fährt nachts Taxi, geht fremd und ist gewalttätig. Agnes trinkt zwar schon lang, doch erst als Shug sie 1982 in die dystopische Bergarbeitersiedlung Pithead am Rande von Glasgow verschleppt und sie gleichzeitig verlässt, gerät ihr Konsum von Special Brew und Wodka aus Teetassen völlig außer Kontrolle.

© B. Busch


Unaufhaltsame Abwärtsspirale
Nun müssen Agnes und die Kinder sich allein durchschlagen. Shuggies ältere Halbschwester Catherine sucht als erste das Weite, den künstlerisch begabten Halbbruder Leek wirft Agnes im Suff hinaus, und so ist Shuggie mit nur dreizehn Jahren alleine für sie verantwortlich: als Beichtvater, Pfleger, als Schutzschirm gegen trinkende und sexuell übergriffige Nachbarinnen und Nachbarn und beim Beiseiteschmuggeln von Geld für Essen. Dabei bräuchte er selbst Hilfe, denn so wie Agnes mit ihrem Streben nach Schönheit und Gepflegtheit Außenseiterin in diesem Milieu bleibt, gehört er als schwuler Junge nicht dazu.

Keinen Tritt auf der Leiter abwärts spart Douglas Stuart aus. Überwiegend wird die trostlose Geschichte in personaler Erzählform aus der Sicht des 1981 fünfjährigen, am Ende siebzehnjährigen Shuggie erzählen. Die Dialoge im Arbeiterslang klingen authentisch. Shuggies innige, zerstörerische Liebe zu seiner dysfunktionalen Mutter, seine Bewunderung für ihre Schönheit und Würde und seine Scham über die eigene Hilflosigkeit sind nachhaltig erschütternd.

Preiswürdig, aber trotzdem verbesserungsfähig
Obwohl mich die dramatischen gesellschaftlichen Umstände sehr interessierten, hätte mich der Autor bei den sich wiederholenden Alkoholabstürzen beinahe verloren, denn es setzte eine gewisse Ermüdung und bedauerlicherweise Abstumpfung ein. Zwar hat Douglas Stuart, wie er sagt, das ursprüngliche Manuskript von 900 engbedruckten Seiten extrem gekürzt, doch hätte eine weitere Straffung aus meiner Sicht den Roman noch eindringlicher gemacht. Verstehen kann ich die Ausführlichkeit trotzdem, hängen doch an vielen Episoden sicherlich Erinnerungen.

Wie Douglas Stuart es nach einer Kindheit in diesem Milieu und früh verwaist zu einem Studium am Londoner Royal College of Art und einer Karriere als Modedesigner in New York brachte, wäre sicher ein eigenes Buch wert. Vielleicht erfahren wir es irgendwann, denn inzwischen widmet er sich ganz dem Schreiben und will zeitweise nach Schottland zurückkehren.

Douglas Stuart: Shuggie Bain. Aus dem Englischen von Sophie Zeitz. Hanser Berlin 2021
www.hanser-literaturverlage.de

 

Weitere Rezension zu einem Roman, der mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurden, auf diesem Blog:

2017