Eugen Ruge: In Zeiten des abnehmenden Lichts

  Vier Generationen

Mit den verschiedenen Zeitebenen, vielen Personen und Perspektiven sowie wechselnden Orten war der Einstieg in das Hörbuch In Zeiten des abnehmenden Lichts nicht einfach. Auch wenn sich das anfängliche Chaos dank der vorangestellten Jahreszahlen und Daten im Laufe der ersten beiden CDs wohltuend sortierte, ist dies keine Lesung für nebenbei, sondern erfordert volle Aufmerksamkeit. Mit dem Durchdringen der Zusammenhänge hat das Zuhören zunehmend Spaß gemacht, allerdings nicht bei allen Handlungssträngen gleichermaßen.

Eine Familie im abnehmenden Licht des Sozialismus
Sechs der Abschnitte dieser rund 50 Jahre umfassenden DDR-Familiengeschichte betreffen den dramaturgischen Höhepunkt 1. Oktober 1989, an dem der Familienpatriarch seinen 90. (und letzten) Geburtstag begeht. Wilhelm Powileit, ursprünglich Schlosser und aus Hamburg, war Kommunist der ersten Stunde und blieb bis zu seinem Tod Stalinist, war zeitlebens dumm, stur und herrschsüchtig und zuletzt hochdekoriert, dement und lächerlich. Kommunisten wie er ebneten in den 1920er-Jahren den Nationalsozialisten durch ihren Kampf gegen die Sozialdemokraten den Weg. Seine ungleich klügere, oft von ihm genervte Frau Charlotte fand durch ihn zum Kommunismus, den sie als Befreiung und Möglichkeit zum Einsatz ihrer Talente erlebte. Ende der 1930er-Jahre hatten sie das Deutsche Reich verlassen und erst 1952 die ersehnte Rückreisegenehmigung von Mexiko in die DDR erhalten, wo sie Parteikarriere machten. Charlottes Söhne Werner und Kurt Umnitzer waren ab Mitte der 1930er-Jahre in der Sowjetunion und fielen unter Stalin in Ungnade. Werner überlebte das Lager nicht, Kurt kam 1956 nach traumatisierenden Jahren im Lager und in der Verbannung mit seiner russischen Frau Irina nach Neuendorf, wo seine Eltern lebten, promovierte als Historiker und verfasste Bücher zur Arbeiterbewegung. Sein Verhältnis zum Kommunismus war bereits distanzierter, er hoffte auf die Reformierbarkeit des Sozialismus und träumte von mehr Demokratie. Sein Sohn Alexander, genannt Sascha, fand weder bei seinem verhassten Vater noch bei der alkoholabhängigen Mutter Halt, zeigte seine kritische Einstellung zum DDR-Staat immer offener, wechselte die Frauen wie die Hemden, brach das Studium ab. An Wilhelms 90. Geburtstag floh er in den Westen. Er leidet unter einer unerfüllten schmerzhaften Sehnsucht und dem Gefühl, immer betrogen worden zu sein, nie irgendwo dazugehört zu haben. Ähnlich ergeht es Markus, der Sohn, den Markus früh im Stich gelassen hat, vierte und jüngste Generation der Familie, politisch desinteressiert, ziel- und kraftlos.

Die für mich interessanteste Nebenfigur ist Irinas Mutter Nadjeshda Iwanowna, die 1976 nach Neuendorf übersiedelt, aus Heimweh jedoch nach Slawa zurückkehrt. Ihr Schicksal böte Stoff für einen eigenen Roman, den ich sehr gerne lesen oder hören würde.

Schwächer und zu stark gewichtet sind dagegen die fünf Abschnitte über Sascha im Jahr 2001. Nach seiner Krebsdiagnose nimmt er Geld aus dem Wandtresor seines dementen Vaters und reist auf den Spuren Charlottes und Wilhelms nach Mexiko.

Ein guter Roman hervorragend gelesen
Eugen Ruge, geboren 1954 im Ural erhielt für diesen späten, stark autobiografisch geprägten Roman 2011 zurecht den Deutschen Buchpreis. Überragend ist bei dieser ungekürzten, gut zwölf Stunden umfassenden Lesung auf zehn CDs mit leider sehr langen Tracks wie immer der Sprecher Ulrich Noethen. Mit großem Gespür für die Dramaturgie des Romans liest er meist ruhig, langsam und mit gekonnten Pausen zur Spannungssteigerung, wird aber auch laut und schnell, imitiert gekonnt Dialekte und Akzente und bringt vor allem den subtilen Humor sehr gekonnt zur Geltung.

Eugen Ruge: In Zeiten des abnehmenden Lichts. Gelesen von Ulrich Noethen. Argon 2011
www.argon-verlag.de

 

Weitere Rezensionen zu einem Gewinner des Deutschen Buchpreises auf diesem Blog:

2019

Paul Maar: Wie alles kam

  Erinnerungspfützen

Erinnerungen sind keine Tagebücher. Dem Vergleich mit einem Fluss halten sie nicht stand. Eher sind es verstreute große und kleine Pfützen nach einem Starkregen. (S. 12)

Auch wenn ich für eine Kindheit mit Sams leider zu früh geboren wurde – der erste Band erschien 1973, der bislang letzte 2020 – konnte ich immerhin mit meinen Töchtern nachholen, was ich als Kind verpasst hatte. Im Gegensatz zu vielen hausbackenen, angestaubten Büchern meiner Kinderzeit macht das Sams nicht nur der eigentlichen Zielgruppe, sondern auch den großen Vorlesern und Zuhörern der Lesungen auf langen Autofahrten einen Heidenspaß, wofür ich seinem Erfinder Paul Maar zutiefst dankbar bin. Aber auch Lippels Traum, Herr Bello und das blaue Wunder, Das Tier-ABC und viele andere seiner Bücher gehören für mich zu den unverzichtbaren modernen Klassikern für jedes Kind, nicht nur wegen der kreativen, ebenso nachdenkenswerten wie humorvollen Geschichten und Gedichte, auch wegen Paul Maars pfiffiger Illustrationen.

Von behüteten und schweren Kindheiten
Nun hat Paul Maar, geboren 1937 in Schweinfurt, das Versprechen gebrochen, das er einst seinem Verleger Friedrich Oetinger gab, und hat mit Wie alles kam – Roman meiner Kindheit erstmals für Erwachsene geschrieben. Nicht streng chronologisch erzählt er, wie er wurde, was er ist: einer der bekanntesten und erfolgreichsten Kinderbuchautoren Deutschlands. In einem Interview mit dem Hamburger Abendblatt soll er einmal gesagt haben, dass Mitglieder seiner Zunft entweder wie Astrid Lindgren von einer wohlbehüteten Kindheit zehren, oder sich später eine Kindheit erfinden, weil ihre schwer war. Warum er selbst zu Letzteren gehört, wird bei der Lektüre schmerzhaft deutlich.

Paradies und Hölle
So schwer Paul Maars Einstieg ins Leben war, denn die Mutter verstarb nur sieben Wochen nach seiner Geburt, so groß war sein Glück mit der Stiefmutter. Auch an den Vater erinnert er sich aus frühester Kindheit als einen fröhlichen, ausgeglichenen Mann. Dass er völlig verändert aus dem Krieg und der Gefangenschaft zurückkehrte, gewalttätig, unbeherrscht und unglücklich über den unsportlichen, bücherliebenden Sohn war, der ihn wiederum als Störenfried empfand, war das große Unglück für beide. Das Grübeln darüber, wie aus dem Vater der unerbittliche „Schreckensmann“ wurde, und der lange Schatten, den er bis heute wirft, machen Paul Maar noch im Alter zu schaffen:

In Gesellschaft verhalte ich mich möglichst unauffällig. Das war meine kindliche Strategie gewesen, nicht die Aufmerksamkeit und den Unwillen des Vaters auf mich zu lenken. Mäuschenstill in einer Zimmerecke mit der Tapete zu verschmelzen. […] Gewöhnlich widerspreche ich nicht, wenn ich anderer Meinung bin als ein Gesprächspartner. Denn das hätte mir in meiner Kindheit leicht eine Ohrfeige einbringen können. (S. 50/51)

Unbeschwerten Jahren bei den Großeltern im fränkischen Dorf Obertheres, wohin die Mutter vor den Bomben mit ihm floh, folgten umso schwerere in Schweinfurt. Erst als er in der Mittelstufe eine Klasse wiederholen musste, fand er die richtigen Freunde. Zum Rettungsanker wurde seine Jugendliebe und heutige Frau Nele aus einer Künstlerfamilie, über die er Zugang zum Theater fand.

Paul Maar auf der Frankfurter Buchmesse 2018. © B. Busch

Eine durch und durch sympathische Autobiografie
So einfach und bescheiden Paul Maar erzählt, so tief hat mich das Buch berührt. Heitere wie schwere Erinnerungen an Kindheit und Jugend bis etwa zum Abitur reihen sich wie Miniaturen aneinander, eingeflochten sind ebenso bewegende Passagen zum gegenwärtigen Alltag mit seiner an Alzheimer erkrankten Frau in Bamberg, die einer Liebeserklärung gleichkommen.

Paul Maar: Wie alles kam. S. Fischer 2020
www.fischerverlage.de

Amanda Sthers: Lettre d’amour sans le dire

  Geschichte eines Erwachens

© B. Busch

Obwohl ich nie ohne gut gefüllten Bücherkoffer verreise, komme ich meist vor Ort doch nicht an Buchhandlungen vorbei. Im Sommer 2020 wäre es beinahe anders gekommen, denn in den Pyrenäen und im Béarn sind Buchhandlungen erschreckend selten. Erst ein Tagesausflug nach Biarritz brachte die Erlösung und prompt einen Treffer: An Amanda Sthers‘ verführerisch im Schaufenster präsentiertem neuen Roman Lettre d’amour sans le dire führte kein Weg vorbei. Amanda Sthers, geboren 1978 in Paris, Theater-, Drehbuch sowie Romanautorin und einige Jahre mit dem französischen Sänger Patrick Bruel verheiratet, liebe ich vor allem für ihr 2005 auf Französisch, 2006 auf Deutsch erschienenes Buch Die Geisterstraße, das zu den Geheimtipps meines Bücherregals zählt.

Chers monsieur,
Je vous écris cette lettre car nous n’avons jamais pu nous dire les choses avec des mots. Je ne parlais pas votre langue et maintenant que j’en ai appris les rudiments, vous avez quitté la ville. (S. 9)

© B. Busch

So beginnt Alice Cendres Brief an einen Japaner, dem sie zunächst durch Zufall und dann, während eines alles verändernden Jahres, immer wieder begegnete. Nie kam es zu einer Unterhaltung mit Worten, denn als ihre neu erworbenen Japanisch-Kenntnisse dies erlaubt hätten, hatte er Paris verlassen. Ihr Brief ist ein Liebesbrief und doch wieder nicht, denn im Japanischen gibt es kein „Je t’aime“, nur ein „Il y a de l’amour“, „Liebe liegt in der Luft“. Schreibend enthüllt sie ihm ihr Leben, Schrecken, Schmerz und Geheimnisse, und die Veränderung, die mit ihrer Begegnung begann.

Ein glückloses Dasein
Alice Cendres ist um die 50, ehemalige Französischlehrerin aus dem nordfranzösischen Cambrai und lebt seit drei Jahren auf Betreiben ihrer Tochter in Paris. Einer Kindheit voller Schrecken folgten eine Teenagerschwangerschaft und von Gewalt, Erniedrigung und Lieblosigkeit geprägte Männerbeziehungen:

Les hommes ont disposé de moi. Jamais je n’ai connu de gestes bienveillants. (S. 70)

Geprägt haben sie Langeweile, Einsamkeit, Lieblosigkeit, Missverständnisse, Passivität, Ängste und eine früh erlernte Verleugnung ihres Körpers. Die Tochter ging ihr nach deren Heirat an die wohlhabende Schwiegerfamilie verloren, für die neugeborene Enkelin hegt Alice keine Gefühle und Paris bleibt ihr fremd.

Ein folgenreicher Irrtum
Als sie an einem verregneten Oktobernachmittag einen Teesalon betritt, hält man sie für eine Kundin des Masseurs, ein Missverständnis, das sie nicht aufklärt. Zum ersten Mal seit vielen Jahren berührt ein Mann ihren Körper. Die Begegnung mit Akifumi, dem japanischen Masseur, die Sanftheit seiner Hände und die ihn umgebende Melancholie wecken Alice aus ihrer Lethargie. Sie kehrt immer wieder in den Salon zurück und verliebt sich nicht nur in ihn, sondern auch in die Sprache, die Kultur und die Literatur seines Landes.

140 Seiten Poesie
Alices Brief ist zugleich Zeugnis unendlicher Traurigkeit und neuerwachter Hoffnung. Er ist voller sinnlicher Poesie und Sprachmelodie, die sich – auch wenn ich nicht jedes Wort verstand – beim Lesen wunderbar übertrug. Thematisch erinnert der kurze Briefroman an Stefan Zweigs Novelle Brief einer Unbekannten, atmosphärisch an Seule Venise der von mir ebenso geschätzten französischen Autorin Claudie Gallay.

Ich hoffe sehr, dass Lettre d’amour sans le dire bald ins Deutsche übertragen wird und Amanda Sthers endlich auch im deutschen Sprachraum die Aufmerksamkeit bekommt, die sie in Frankreich längst besitzt.

Amanda Sthers: Lettre d’amour sans le dire. Grasset 2020
www.grasset.fr

 

Weitere Rezension zu einem Roman von Amanda Sthers auf diesem Blog:

Raffaella Romagnolo: Dieses ganze Leben

  Das Ende des Schweigens

Der Roman Bella Ciao von Raffaella Romagnolo über zwei mutige Frauen und ihre Familien während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gehörte 2019 zu meinen Lieblingsbüchern. Nun hat der Verlag Diogenes nachträglich einen Titel der Autorin aus dem Jahr 2013 veröffentlicht. Obwohl wieder aus weiblicher Perspektive erzählt wird und vorwiegend Frauen im Mittelpunkt stehen, ist er thematisch wie stilistisch vollkommen anders. Dieses ganze Leben spielt in der Gegenwart und umfasst nur drei Monate, in denen das Leben der 16-jährigen Ich-Erzählerin Paola di Giorgi und ihrer Familie komplett auf den Kopf gestellt wird:

Irgendwann in den nächsten Tagen, denke ich, werden wir uns […] darüber austauschen, wie es sich anfühlt, wenn man erkennt, dass das, was man hat, was man ist oder zu sein glaubte, auf einer Lüge beruht. (S. 229)

Probleme überall
Obwohl finanziell auf der Sonnenseite des Lebens geboren, empfindet Paola ihr Leben als Katastrophe. Einerseits sind es die üblichen Teenagerprobleme, Übergewicht, krumme Beine ein „Pferdegesicht“, Außenseitertum und Mobbing in der Schule. Andererseits findet sie auch in ihrer Familie, in der das Schweigen Programm ist, kaum Halt: Die „titelblattreife“ Mutter kann weder mit Poalas Körpermaßen noch und mit der Behinderung des Sohnes umgehen, die Großmutter leidet auch nach über 50 Jahren noch unter einer verpassten Jugendliebe und der Vater ist mehr in seiner Baufirma als zuhause. Was für die Mutter Bromazepam und für die Großmutter ihre Mastercard ist, sind für Paola Bücher und Filme, die imaginäre Freundin Carmen und die enge Beziehung zu ihrem drei Jahre jüngeren Bruder Richi. Bei den zur Verbrennung überschüssiger Kalorien angeordneten täglichen Spaziergängen mit ihm im Rollstuhl überqueren die Geschwister die Grenze zwischen ihrem Luxus-Viertel und der von der familieneigenen Baufirma errichteten, von der Mutter panisch gemiedenen, sozial schwächeren Margeriten-Siedlung. Dort lernt Paola den zwei Jahre älteren Antonio kennen, der sie aufrichtig zu mögen scheint. Doch fehlendes Selbstwertgefühl und tief verwurzeltes Misstrauen taugen nicht als Basis für Freundschaft und Liebe, und um diese Hindernisse aus dem Weg zu räumen, braucht es ein gewaltiges innerfamiliäres Beben.

Eine starke Erzählstimme
Die Besonderheit dieses Romans liegt für mich im radikalen, kompromisslosen und lakonischen Erzählstil der jugendlichen Protagonistin. Alterstypisch gibt es für Paola nur hopp oder top, sie schweift gern ab und obwohl sie ihre Ehrlichkeit beteuert, ist ihr Bericht gefärbt – von pechschwarz zu Beginn bis später fast rosarot. Gut gefallen hat mir die spürbare Entwicklung Paolas, die mit abnehmender Wut die Menschen ihrer Umgebung milder und differenzierter betrachten lernt. Obwohl ihre Einlassungen zur Literatur nicht immer altersgemäß wirken, ist die Perspektive insgesamt gelungen. Nicht unbedingt gebraucht hätte es die Thriller-Elemente auf den letzten Seiten, dagegen gefällt mir, dass nicht alles auserzählt wird.

Ein bunter Themenstrauß
Auch wenn der 265-Seiten-Roman aufgrund der großen Themenvielfalt – Pubertät, Eltern-Kind-Beziehung, dysfunktionale Familienstruktur, Patriarchat, Essstörung, Außenseitertum, Mobbing, Umgang mit Behinderung und Umwelt- und Sozialpolitik, um nur die wichtigsten zu nennen, – notgedrungen vieles verkürzt, empfehle ich ihn gern.

Raffaella Romagnolo: Dieses ganze Leben. Aus dem Italienischen von Maja Pflug. Diogenes 2020
www.diogenes.ch

 

Weitere Rezension zu einem Roman von Raffaella Romagnolo auf diesem Blog:

Das Lieblingsbuch der Unabhängigen 2020

Mit der Prämierung Lieblingsbuch der Unabhängigen 2020 endet heute die Woche unabhängiger Buchhandlungen 2020, an der sich über 800 „Indies“ aus allen Teilen Deutschlands beteiligt haben. Sie waren – neben vielen anderen Aktionen – dazu aufgerufen, zwischen dem 21. September und dem 11. Oktober 2020 ihre belletristischen Lieblingstitel zu nominieren. Auf der fünf Bücher umfassenden Shortlist habe ich zu meiner großen Freude drei meiner Lieblingstitel aus dem Jahr 2020 wiedergefunden. Die Wahl wäre mir deshalb ausgesprochen schwergefallen, aber ich freue mich sehr, dass es einer dieser drei Titel geworden ist:                                                                                                                                                                                                                                            

Benjamin Myers: Offene See. Dumont 2020

 

Die weiteren Titel der Shortlist:


Marco Balzano: Ich bleibe hier. Diogenes 2020

Iris Wolff: Die Unschärfe der Welt. Klett-Cotta 2020

 

 

Jasmin Schreiber: Marianengraben. Eichborn 2020

Charlotte McConaghy: Zugvögel. S. Fischer 2020

 

 

 

Rezensionen zu Siegertiteln vergangener Jahre auf diesem Blog:

2015
2016
2017

 

Charles Lewinsky: Der Halbbart

  „Erzählen ist wie Seichen: Wenn man einmal damit angefangen hat, ist es schwer, wieder aufzuhören.“ (S. 184/185)

Einer der Schweizer Gründungsmythen neben Rütli-Schwur und Tell-Sage ist die Schlacht von Morgarten im November 1315. Spätere Chronisten haben dieses Ereignis als großartigen Sieg tapferer Bauern gegen Habsburger Machtansprüche gepriesen. Was sich dort wirklich ereignet hat, ist heute ungewiss, sicher ist, dass die Schwyzer schon vorher Widerstand leisteten. Auslöser war ein Streit um Weideland zwischen dem unter Habsburger Protektorat stehenden Benediktinerkloster Einsiedeln und den Schwyzer Bauern, der sogenannte Marchenstreit, in dessen Verlauf der Konstanzer Bischof einen Kirchenbann verhängte. Der Überfall auf das Kloster mit Plünderung und Schändung der Kirche sowie die Parteinahme der Schwyzer für den Wittelsbacher Ludwig den Bayer gegen den Habsburger Friedrich den Schönen nach der Doppelkönigswahl 1314 taten ein Übriges.

Charles Lewinskys knapp 700 Seiten umfassender Roman Der Halbbart spielt genau vor diesem historischen Hintergrund. Allerdings weiß der Ich-Erzähler, der Bauernbub Eusebius, genannt Sebi, wenig über die große Politik. Er, der nicht zum Bauer, Handwerker, Totengräber, Mönch oder Soldaten taugt und darüber fast zu verzweifeln droht, berichtet von den Geschehnissen rund um sein Dorf. Zunehmend spüren die einfachen Menschen die Auswirkungen des Marchenstreits und des Kirchenbanns, erleben die Rückkehr verrohter Söldner aus Italien und lassen sich zum Überfall auf das Kloster anstacheln. Auch Sebis Familie ist gespalten: Während sein besonnener, herzlicher Bruder Origenes, genannt Geni, der bei Waldarbeiten für das Kloster ein Bein verloren hat, beim Landammann Werner Stauffacher in Schwyz für eine friedliche Beilegung des Konflikts eintritt, ist Polykarp, genannt Poli, ein unüberlegter, kriegslüsterner Hitzkopf.

Mittelalterwoche auf Gotland. © M. Busch

Der Ton macht die Musik
Meine Faszination und durchgängige Lesefreude speisten sich vor allem aus der Figur des Sebis, des „Finöggels“ (Mimöschens), „Ins-Hemd-Scheißers“, und aus seiner munteren Erzählweise. Im Perfekt, manchmal umgangssprachlich Grammatikregeln missachtend, durchsetzt mit Helvetismen, für die man ein – nicht unbedingt notwendiges – Glossar im Internet findet, tut er, was er am besten kann und im Laufe des Romans als seine Bestimmung erkennt: Geschichten erzählen. Sein Vorbild ist das Teufels-Anneli, das im Winter über die Dörfer zieht und Unterhaltung gegen Bewirtung bietet. Auch Sebi weiß als großartiger Beobachter und aufmerksamer Zuhörer viel zu berichten, Wahres und Erfundenes. Mit seinem immer sicherer werdenden Gespür für Recht, Gerechtigkeit, Wahrheit, Lüge, Heuchelei und Vorurteile formuliert er treffsicher, bisweilen humorvoll:

Wenn man einmal mit dem Gehorchen aufgehört hat, fällt einem das Sündigen bei jedem Mal leichter. (S. 180)

Es heißt, dass die Bereitschaft zur Wohltätigkeit mit jedem Schritt von der Kirche weg abnimmt. (S. 295)

Aber die Gerechtigkeit, das habe ich gelernt, ist mehr eine Sache für die Predigten als für die Wirklichkeit. (S. 330)

Auf schmerzliche Art muss er zuletzt aber auch von den Gefahren des Geschichtenerzählens und vom möglichen Missbrauch erfahren.

Ein Fremder mit dunkler und heller Seite
Fehlt noch der titelgebende Halbbart, dessen eine Körper- und Gesichtshälfte verbrannt sind. Sein Auftauchen im Dorf und sein Ende rahmen die 83 Kapitel ein. Er wird zum weisen Ratgeber und Freund Sebis, enthüllt stückweise seine tragische Geschichte, erfindet mit der Hellebarde die gefährlichste Waffe des Mittelalters und erliegt zuletzt seiner Rachgier.

Intelligente Unterhaltung
Mittelalter-Romane mit Wanderhuren meide ich und ein Band aus Ken Folletts Kingsbridge-Reihe (Die Säulen der Erde) war mehr als genug. Der Halbbart hat mir dagegen viel Spaß gemacht. Zurecht stand der intelligent unterhaltende Roman auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis 2020 und liegt aktuell noch im Rennen um den Schweizer Buchpreis.

Charles Lewinsky: Der Halbbart. Diogenes 2020
www.diogenes.ch

 

Weitere Rezensionen zur Longlist des Deutschen Buchpreises 2020 auf diesem Blog:

     

Christian Berkel: Ada

  „Merkt ihr nicht, dass man neben euch erstickt?“ (S. 334)

Wie seine Schauspielerkollegen Robert Seethaler, Matthias Brandt, Joachim Meyerhoff, Axel Milberg oder Ulrich Tukurs ist inzwischen auch der 1957 geborene Christian Berkel unter die Romanautoren gegangen. Sein Debüt Der Apfelbaum habe ich 2018 leider verpasst. Nun habe ich seinen zweiten Roman gelesen, Ada, ohne zunächst zu wissen, dass er eine Fortsetzung darstellt. Zwar muss man den ersten Teil nicht unbedingt kennen, weil die wichtigsten Ereignisse aus dem Leben von Adas Eltern und Großeltern kurz angerissen werden, aber hilfreich wäre es trotzdem gewesen. Vor allem aber habe ich den Eindruck gewonnen, dass mich der erste Teil thematisch mehr interessiert hätte. Sala, die Protagonistin in Der Apfelbaum und Mutter von Christian Berkel, war Halbjüdin und wurde während des Zweiten Weltkriegs unter anderem im Lager von Gurs nördlich der französischen Pyrenäen interniert, dessen eindrucksvolle Gedenkstätte und jüdischen Friedhof ich im Sommer 2020 besucht habe. Ada, die Tochter, wird im von einem großen Schweigen geprägten Nachkriegsdeutschland groß:

Sie hatten sich ihr Schweigen ebenso hart erarbeitet wie die scheißenden Tauben unseren Dachboden. […] Sie wollten ihre Ruhe. Sie wollten in ihrem Schweigen nicht gestört werden. Nur das interessierte sie.
„Merkt ihr nicht, dass man neben euch erstickt?“ (S. 334)

Während im ersten Teil der geplanten Trilogie mit Christian Berkels Eltern Sala und Otto zwei reale Personen Pate für den Roman standen, ist deren Tochter Ada, die Protagonistin und Ich-Erzählerin im zweiten Band, fiktiv. 1945 in Leipzig geboren und im Alter von zwei Jahren mit ihrer Mutter nach Argentinien ausgewandert, kehrte sie 1954 in ein ihr fremdes Land mit fremder Sprache und unbekannter Geschichte zurück.

Ada besteht aus drei Teilen mit den Überschriften „Erinnern“, „Wiederholen“ und „Durcharbeiten“. Der Beginn jedes Teils sowie das Ende des Buches spielen in den Jahren 1989 bis 1993 und handeln insbesondere vom Versuch Adas, ihr Leben mit Hilfe einer Gesprächstherapie zu ordnen. Sie blickt auf ihre von dysfunktionaler Familienkommunikation geprägte Kindheit und Jugend zurück, die sich vor dem Hintergrund von Wiederaufbau, Wirtschaftswunder, Mauerbau, Angst um West-Berlin und Aufbegehren der Jugend gegen das Schweigen ab Ende der 1960er-Jahre abspielte. Einerseits teilt Ada damit das Schicksal ihrer Generation, andererseits ist in ihrer Familie das Schweigen noch lauter, denn die Eltern enthalten ihr nicht nur Informationen über den eigenen Leidensweg und ihr Judentum vor, sondern ignorieren auch Adas Zweifel über Ottos Vaterschaft.

Ein zwiespältiger Leseeindruck
So spannend die Thematik des Romans unzweifelhaft ist, hatte ich mit der Umsetzung doch meine Schwierigkeiten. Obwohl Adas Verhalten, ihre innere und äußere Unruhe, ihre Rebellion gegen die mühsam aufgebaute Heile-Welt-Fassade und die Mauer des Schweigens, ihre Identitätssuche, ihre Drogenexperimente und schließlich ihr Bruch mit der Familie erklärlich sind, blieb sie mir doch als Figur sehr fremd. Mit einem auktorialen Erzähler oder wechselnden Erzählperspektiven, deutlichen Kürzungen im zweiten Teil und weniger direkter Rede hätte mir das Buch sicher besser gefallen. Statt alle Stationen der 68er-Bewegung kurz anzureißen und Ada bei der Anti-Schah-Demonstration ausgerechnet auf Benno Ohnesorg treffen zu lassen, hätte ich mir eine Fokussierung mit mehr Tiefgang gewünscht.

Als Fazit bleibt mein Wunsch, den Vorgängerband möglichst bald zu lesen. Auf den Abschlussband der Trilogie werde ich dagegen verzichten.

Christian Berkel: Ada. Ullstein 2020
www.ullstein-buchverlage.de

 

Weitere Rezensionen zu Büchern schreibender Schauspieler auf diesem Blog:

       

Ernst Paul Dörfler: Nestwärme

  Machen wir’s den Vögeln nach…

„Birdwatching“, Neudeutsch für Vogelbeobachtung, wird  nicht nur in Großbritannien und den USA, sondern auch bei uns in Deutschland immer beliebter. In den Zugwiesen meiner Heimatstadt am Neckar findet man inzwischen zu jeder Jahreszeit zahlreiche Vogelliebhaberinnen und -liebhaber. Einen zugleich informativen, unterhaltsamen und in launigem Stil verfassten Beitrag dazu leistet das Sachbuch Nestwärme von Ernst Paul Dörfler. Der 1950 geborene Autor ist promovierter Ökochemiker, gehörte der Umweltbewegung der DDR an, schrieb mit Zurück zur Natur deren Kultbuch, für dessen Veröffentlichung sein Lektor Kopf und Kragen riskierte, und stand jahrelang unter Beobachtung der Staatssicherheit. Vor allem aber ist er Vogelliebhaber durch und durch von Kindesbeinen an, ein Umstand, den man auf jeder der 280 Seiten spürt. Deshalb geht es ihm nicht ausschließlich um Wissensvermittlung und sein Buch ist kein Biologieunterricht auf Papier mit Merkkästen, Tabellen, Hervorhebungen und Literaturverzeichnis. Vielmehr möchte Dörfler ein Bewusstsein schaffen für eine gefährdete Spezies gemäß dem Motto: Nur was man kennt und liebt, das schützt man auch.

Vogelbeobachtung im eigenen Garten: Ein Meisenjunges kurz vor dem Verlassen des Nistkastens. © M. Busch

In 15 Kapiteln, die so fantasievolle, manchmal flapsige Überschriften wie „Was Vögel können (und was nicht)“, „Aufs Marketing kommt’s an“, „Ein Hoch auf den Rollentausch“ oder „Fit, schön und gesund“ tragen, lässt Dörfler uns an seinem unbegrenzt scheinenden Wissensschatz teilhaben. Meistens beginnen die Kapitel oder Unterkapitel mit einer Bestandsaufnahme aus der Welt der Menschen, die für mich manchmal ein wenig zu lang ausfällt, um sodann zu den Vögeln überzuleiten – eine zweifellos originelle Vorgehensweise. Wie steht es mit dem Hörvermögen hier wie dort, wie mit der Rollenverteilung, wie mit der Einvernehmlichkeit des Geschlechtsverkehrs und wie mit dem Schlafbedürfnis? Bekanntes, Neues und absolut Verblüffendes wechseln sich ab, jede These wird mit einer Vielzahl an Beispielen belegt und Streitfragen wie die nach dem Glücks- und Leid-Empfinden werden als solche benannt und diskutiert. Schade, dass man sich bei dieser Informationsfülle sicher vieles nicht merken kann! Dank modernster Technik wie Besenderung und Satelliten-Telemetrie sowie weltweiter Forschungen wissen wir heute sehr viel mehr über die Sinnesleistungen der Vögel, ihre Intelligenz und Persönlichkeit, ihr Sozialleben, ihre Sprache, ihr Schlafverhalten, den Vogelzug und den Überlebenskampf in einer sich dramatisch verändernden Umgebung. Und genau hier setzt Dörflers eindringlicher Appell an:

Der Mensch muss sich erst noch als Teil der Natur begreifen. Die nötige Intelligenz hätte er. Er nutzt sie bisher allerdings mehr für die Ausbeutung der Natur als für deren Bewahrung. Was der Vogel instinktiv richtig macht, macht die moderne menschliche Gesellschaft wissentlich falsch. Bislang überwiegt die Untergrabung der natürlichen Lebensgrundlagen. Es ließe sich ändern, wenn wir uns die Vögel mit ihren Prinzipien zum Vorbild nähmen und unser Eingebettetsein im Haushalt der Natur verinnerlichten und respektierten. (S. 279/80)

Ein Sachbuch für vogelkundlich interessierte Laien und nicht zuletzt dank der entzückenden Schwarz-Weiß-Zeichnungen von Ute Bartels auch ein wertiges Geschenk.

Ernst Paul Dörfler: Nestwärme. Hanser 2019
www.hanser-literaturverlage.de

Per Petterson: Pferde stehlen

  Selbst entscheiden, wann es weh tut

 

Zu den Auszeichnungen, auf die ich mich fast blind verlassen kann, gehört neben dem französischen Prix Goncourt der Bokhandlerpris, der Preis der norwegischen Buchhändler für das beste Buch des Jahres. Meine Erwartungen an das 2003 prämierte Buch Pferde stehlen des 1952 geborenen Norwegers Per Petterson waren dementsprechend hoch und haben sich vollständig erfüllt.


Ein Aussteiger
Im Alter von 67 Jahren, drei Jahre nach dem Unfalltod seiner Frau, hat sich der Ich-Erzähler Trond Sander kurz vor der Jahrtausendwende mit seiner Hündin in ein renovierungsbedürftiges Häuschen an einem See in Ostnorwegen zurückgezogen. Es soll seine letzte Station sein. Die Nachrichten interessieren ihn nicht mehr, er hat weder Fernseher noch Telefon und nicht einmal seine Töchter kennen seinen Aufenthaltsort:

Mein ganzes Leben lang habe ich mich danach gesehnt, allein an einem Ort wie diesem zu sein. Auch in schönsten Zeiten, und die waren nicht selten. […] Ich hatte Glück. Doch auch dann, zum Beispiel inmitten einer Umarmung, wenn mir jemand Worte ins Ohr flüsterte, die ich gerne hörte, konnte ich mich plötzlich weit weg sehnen an einen Ort, an dem es einfach nur still war. (S. 11)

Ostnorwegen nahe der schwedischen Grenze. © M. Busch

Konfrontation mit der Vergangenheit
Jäh durchbrochen wird die Ruhe, als er in seinem einzigen Nachbarn Lars Haug wiedererkennt, der ihn an eine längst abgehakt geglaubte Vergangenheit bindet. Mit Lars kommt die Erinnerung an den Sommer 1948 zurück, den Trond mit seinem Vater in einer anderen Hütte in einem anderen Dorf nahe der schwedischen Grenze verbrachte. Er glaubte damals, der Vater, der nach dem Einmarsch der Deutschen immer wieder für Wochen oder gar Monate verschwand und danach jedes Mal mehr verändert zu seiner Familie nach Oslo zurückkehrte, würde den Sommer ihm zuliebe dort verbringen. Erst allmählich begreift er, dass der Vater sich in seiner Abwesenheit von zuhause ein alternatives Leben an eben diesem Ort aufgebaut hatte und welche Rolle die schöne Mutter seines besten Freundes, Lars‘ Bruder Jon, dabei spielte. Am Ende dieses Sommers hatte er beide verloren, den bewunderten Vater genauso wie Jon, und war ein Stück erwachsener geworden.

Spiel und Ernst
Der Titel des Romans ist doppeldeutig gewählt: „Pferde stehlen“ ist nicht nur das gemeinsame Spiel von Jon und Trond, es ist auch das Codewort der Widerstandskämpfer, für die Tronds Vater und Jons Mutter tätig waren. Wie in Vergesst unsere Namen nicht von Simon Stranger und Die Unsichtbaren von Roy Jacobsen, die ich seit dem Gastlandauftritt Norwegens auf der Frankfurter Buchmesse 2019 gelesen habe, spielt der Nachrichten- und Menschenschmuggel über die norwegisch-schwedische Grenze eine bedeutsame Rolle.

Einmal lesen reicht hier nicht
Pferde stehlen
ist vieles in einem: ein wunderbares Buch über das Leben in der skandinavischen Natur, ein historischer Roman über die Besatzungszeit, eine berührende, diskrete Liebesgeschichte, ein Vater-Sohn-Roman und einer über das Erwachsenwerden. Ohne Pathos und überflüssige Worte – so wie Trond und Lars nach der Versicherung des gegenseitigen Wiedererkennens nie ein Wort über Vergangenes verlieren – vereint Petterson vor dem Hintergrund einer großartigen nordischen Kulisse die großen Themen des Lebens: Schuld, Vertrauen, Enttäuschung, Verlust, Liebe, Einsamkeit, Alter und Tod.

Per Petterson: Pferde stehlen. Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger. Carl Hanser 2006
www.hanser-literaturverlage.de

 

Weitere Rezensionen zu Büchern auf diesem Blog, die mit dem Norwegischen Buchhändlerpreis für den besten Roman des Jahres ausgezeichnet wurden:

2014
2015
2018

 

Daniel Mellem: Die Erfindung des Countdowns

  Zwischen Jules Verne und Wernher von Braun

Es mag an meiner Ferne zur Physik und zur Raketentechnik liegen, dass ich den Name Hermann Oberth bisher nicht kannte. Dank der Romanbiografie Die Erfindung des Countdowns von Daniel Mellem und sich daraus ergebender eigener Recherchen weiß ich nun um einiges mehr über diesen Raketenpionier, der sich als Jugendlicher von Jules Verne inspirieren ließ und zum Lehrmeister von Wernher von Braun wurde.

Ein Leben für die Raketenforschung
1894 in Siebenbürgen und damit im Kaiserreich Österreich-Ungarn geboren, begeisterte sich Hermann Oberth bereits als Schüler für Raketen, zum Ärger seines Vaters, eines renommierten Mediziners, der den Sohn in seiner Nachfolge sah. Dieser jedoch träumte von einer Expedition zum Mond, skizzierte und berechnete, experimentierte mit Flüssigbrennstoff, steckte Rückschläge weg und ersann schließlich, als er trotz aller Vorbehalte gegen Volksdeutsche endlich in Göttingen Physik studieren durfte, das zweistufige Konstruktionsprinzip. Seiner Zeit voraus fand er weder in Göttingen noch in Heidelberg einen Doktorvater und konnte seinen Ideen nur mit einer Veröffentlichung auf eigene Kosten Gehör verschaffen. Den Traum einer Mondreise tauschte er früh gegen Pläne für Raketenwaffen. Eine Zwischenstation 1928/29 als Berater bei Fritz Langs Film Die Frau im Mond führte ihn mit dem Studenten Wernher von Braun zusammen, der seinen alten Lehrer 1941 zum Bau der Aggregat 4 (später V2 genannt) in die Heeresversuchsanstalt Peenemünde auf Usedom und 1955 zur Vorgängerorganisation der NASA nach Huntsville/Alabama holte.

Struktur und Stil
In elf Kapitel packt Daniel Mellem fast hundert Jahre und zählt von zehn (Kindheit) rückwärts bis null (Start der Apollo 11 vor Oberths Augen). Sachlich und ohne mich als Laien technisch zu überfordern schildert der promovierte Physiker Mellem ein Leben mit weit mehr Tiefen als Höhen, gleichermaßen im privaten wie im beruflichen oder politischen Feld, in dem Oberth nie der Bau der Rakete gelang.

Umgang mit biografischen Fakten
Trotz Oberths unzweifelhafter Bedeutung für die Raketenforschung gibt es bis heute keine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Biografie, was Spielräume für die Romanbiografie bot. Auf knapp 300 Seiten erzählt Mellem Oberths Leben in Episoden. Auch wenn mir diese Beschränkung prinzipiell gut gefiel, störten mich zwei Fehlstellen sehr: Die Studiensemester der Medizin vor und nach dem Ersten Weltkrieg und das Staatsexamen an der rumänischen Universität Klausenburg mit der abgelehnten Dissertation als Diplomarbeit wären für mich zum Verständnis von Bedeutung gewesen.

Ein gescheitertes Leben
Verbaute die siebenbürgische Herkunft Oberth viele Wege, die einem Reichsdeutschen offen gestanden hätten? War er schlicht seiner Zeit voraus? Scheiterte er an seiner Unfähigkeit, sich und seine Ideen zu vermarkten? Lag es an seiner Sturheit, seiner Rechthaberei, seiner Alltagsuntauglichkeit, seiner mangelnden Teamfähigkeit, die auch seine lebenskluge Frau Tilla und die vier Kindern belasteten? Mellem bietet all diese Gründe an, überlässt jedoch die Einschätzung – genau wie die Beurteilung seiner NS-Verstrickungen – uns. Mein Mitgefühl mit dieser eigentlich tragischen Figur schlug spätestens mit seiner persönlichen Anbiederung an Hitler um. Mag der Pakt mit den Nazis aus seiner Besessenheit für die Raketentechnik und dem Beharren auf seinem Deutschtum noch erklärlich sein, so ist seine zeitweilige Mitgliedschaft in der NPD in den 1960er-Jahren aus Opposition gegen die Vergangenheitsbewältigung Adenauers und seine Unterstützung der „Stillen Hilfe“, von der auch NS-Täter profitierten, für mich unverzeihlich. Seinem späten Ruhm mit Auszeichnungen und Ehrungen tat das keinen Abbruch, bei mir bleibt ein bitterer Nachgeschmack.

Daniel Mellem: Die Erfindung des Countdowns. dtv 2020
www.dtv.de