Fred Vargas: Die schwarzen Wasser der Seine

Zwei Kurzkrimis um Kommissar Adamsberg

Auf einer CD mit ca. 87 Minuten Laufzeit liest die Schauspielerin Suzanne von Borsody zwei Kurzkrimis der bedeutendsten, vielfach ausgezeichneten französischen Krimiautorin Fred Vargas.

Im Mittelpunkt steht wie immer in Vargas‘ Krimis der Pariser Kommissar Jean-Baptiste Adamsberg, ein eigenwiller Ermittler mit viel kriminalistischem Gespür und einem ausgeprägten Bauchgefühl. Neben ihm arbeitet sein vernunftgesteuerter Leutnant Danglard.

In der ersten Geschichte hat Pi, ein Obdachloser, zufällig den Mord an einer Frau im Pelzmantel beobachtet. Mit viel Fingerspitzengefühl und psychologischem Geschick gelingt es Adamsberg, den misstrauischen, vom Leben gebeutelten Mann zu einer Aussage zu bewegen.

Im zweiten Fall scheint es sich um einen weihnachtlichen Selbstmord der klassischen Art durch Sturz von einer Seine-Brücke zu handeln, doch Adamsberg ist schnell anderer Meinung. Zur überraschenden Auflösung trägt ausgerechnet eine Nebenfigur der Geschichte bei.

Natürlich kann man diese Kurzkrimis nicht mit Fred Vargas‘ sonst überaus spannenden, verwickelten, oft unheimlichen Geschichten vergleichen. Und doch habe ich der Stimme Suzanne von Borsodys fasziniert zugehört, die jeder einzelnen Figur eigene Nuancen  verleiht, und habe darüber gestaunt, wieviele überraschende Wendungen und wieviel Charakterstudium in so kurzer Zeit Platz finden.

Fred Vargas: Die schwarzen Wasser der Seine. DAV – Der Audio Verlag 2007
www.der-audio-verlag.de

Cornelia Funke: Drachenreiter – Die Feder eines Greifs

Greif gegen Drache – Drache gegen Greif

Nachdem ich in der Vorbereitung auf die Fortsetzung zu Cornelia Funkes 1997 erschienenem Drachenreiter den ersten Band noch einmal mit Begeisterung gelesen hatte, war ich skeptisch, ob ein zweiter Band die hohe Vorgabe des ersten würde halten können, doch die Zweifel waren unbegründet. Der neue Band Drachenreiter – Die Feder eines Greifs steht dem ersten weder in der Spannung noch in der Fantasie oder Sprache im Geringsten nach und ist durch die vielen Schwarz-Weiß-Zeichnungen, die Zitate am Anfang jedes Kapitels und den sehr detaillierten zwölfseitigen Anhang über Figuren und Orte noch deutlich mehr ausgeschmückt.

Zwei Jahre, nachdem der Silberdrache Lung, sein Drachenreiter Ben, das Koboldmädchen Schwefelfell, der Homukulus Fliegenbein und ihre vielen  Helfer aus der Fabel-, Tier- und Menschenwelt Nesselbrand, den Goldenen, besiegt haben, gibt es wieder Arbeit für sie. Der letzte Pegasus hat seine Frau durch einen Unglücksfall verloren und die drei mutterlosen Pegasuseier können nur mit Hilfe der Sonnenfeder eines Greifs gerettet werden. Ben, der inzwischen mit seinen „adoptierten Eltern“ Barnabas und Vita Wiesengrund sowie deren Tochter Guinever als Fabelwesen-Schützer bedrohten Geschöpfen aller Art im norwegischen MÍMAMEIÐR Unterschlupf bietet, macht sich auf den Weg nach Indonesien, zusammen mit Barnabas, dem ängstlichen Fliegenbein, der abenteuerlustigen, verrückten und witzigen Rättin Lola Grauschwanz und dem Fjordtroll Hothbrodd. Die Mission ist überaus gefährlich, denn Greife gelten als habsüchtig und bösartig, verfügen über Furcht einflößende Schnäbel, Löwenpranken und eine Giftschlange als Schwanz und sind die einzigen Fabelwesen, denen Barnabas Wiesengrund eigentlich nie begegnen wollte. Drachen sind ihnen besonders verhasst, weshalb Lung mit einer List davon abgehalten werden muss, mit ihnen nach Indonesien zu kommen. Zehn Tage haben die vier Freunde Zeit, um die Feder zu erobern, eine nahezu unlösbare Aufgabe.

Die Ankunft auf der indonesischen Insel Pulau Bulu gestaltet sich dann auch sehr problematisch, weil sie mitten in den Machtkampf zwischen dem jungen Greif Shrii, der die Tiere der Insel beschützen möchte, und dem seit ewigen Zeiten grausam herrschenden Kraa, dem Schrecklichen, geraten. Zum Glück ist Lung doch noch rechtzeitig zur Stelle, da sich Barnabas‘ Hoffnung auf friedliche Verhandlungen keineswegs erfüllt, und so kommt es im indonesischen Dschungel zum Kampf Greif gegen Drache…

Auch wenn die Mission am Ende wie erwartet erfolgreich ist, die Freude in MÍMAMEIÐR laut herausgeschrien, -geschnattert und -gewiehert und Pulau Bulu eine glücklichere Insel wird, bleibt für Ben der Wehmutstropfen, dass er sich zwischen Norwegen mit seiner Familie und der großen Aufgabe und dem Himalaja, wo Lung und die Drachen am Saum des Himmels leben, entscheiden muss.

Das Abenteuer zur Rettung der Pegasuseier ist so spannend und fantasievoll erzählt und die Charaktere der verschiedenen Fabelwesen, Tiere und Menschen sind so überaus liebevoll ausgeschmückt, dass mir das Lesen von der ersten bis zur letzten Seite große Freude bereitet hat. Ich halte dieses zweite Fantasy-Märchen um den Drachenreiter und seine Freunde für ein ideales Vorlesebuch für die ganze Familie, würde die Altersgrenze mit zehn Jahren allerdings etwas höher ansetzen als beim ersten Teil.

Dass der letzte Satz eine Fortsetzung möglich erscheinen lässt, ist deshalb mehr als erfreulich, denn die Fantasie Cornelia Funkes scheint unerschöpflich!

Cornelia Funke: Drachenreiter – Die Feder eines Greifs. Dressler 2016
www.dressler-verlag.de

Cornelia Funke: Drachenreiter

Wunderbar interpretiert – aber leider gekürzt

Auf vier CDs liest Monty Arnold Cornelia Funkes geniales Fantasymärchen Drachenreiter mit angenehmer, nuancenreicher Stimme, ergänzt durch kurze Musiksequenzen von Ulrich Maske. Monty Arnold bringt die Stärken des Textes sehr gut zur Geltung, indem er den vielfältigen Charakteren durch die Stimmveränderungen noch mehr Leben einhaucht.

Leider bieten die vier CDs in insgesamt viereinhalb Stunden Hörzeit nur eine deutlich gekürzte Version des Kinder- und Jugendbuchs. Obwohl der Text trotzdem verständlich bleibt und die Grundhandlung natürlich dieselbe ist, tut es mir in diesem Fall um jede fehlende Szene leid, und ich würde eine vollständige Lesung deutlich der gekürzten vorziehen.

Cornelia Funke: Drachenreiter. Goya libre 2008
www.jumboverlag.de

Cornelia Funke: Drachenreiter

Die märchenhaft-abenteuerliche Reise zum Saum des Himmels

Neben Herr der Diebe ist der 1997 erschienene Drachenreiter mein Favorit im umfangreichen Werk von Cornelia Funke, obwohl ich sonst eher keine Fantasyleserin bin. Mag sein, dass es daran liegt, dass der Roman so märchenhafte Anklänge hat, dass die vielen Arten von Fabeltieren so ausgeprägte Charaktere haben und meist sehr sympathisch sind, und dass Cornelia Funke völlig auf gewalttätige Szenen verzichtet.

Eher nicht so sympathisch dargestellt werden – mit wenigen Ausnahmen – die Menschen, die der Welt der Fabelwesen ignorant gegenüberstehen und keinen Respekt vor der Natur zeigen. Da sie in ihrem Bestreben, sich die ganze Welt untertan zu machen, das Tal in Schottland, in dem sich eine Gruppe von Silberdrachen versteckt hält, fluten möchten, müssen diese eine neue Heimat suchen. der alte Drachen Schieferbart erzählt seiner Gruppe vom sagenhaften „Saum des Himmels“, einem Drachenparadies, wo noch Artgenossen leben sollen, doch nur der junge Silberdrache Lung bringt den Mut auf, sich auf die Suche nach diesem Ort zu machen. Zusammen mit seinem schnippischen Koboldmädchen Schwefelfell und der Landkarte der Ratte Gilbert Grauschwanz macht er sich auf den Weg. Ben, ein elfjähriger Waisenjunge, wird zu Lungs Drachenreiter. Nach und nach erfahren die drei Reisenden zu ihrer Überraschung, dass nicht nur die Menschen sie bedrohen. Noch gefährlicher ist Nesselbrand, der Goldene, ein von einem Alchimisten vor langer Zeit erschaffener Drachenjäger, der der Grund dafür ist, warum sich die Drachen einst an den Saum des Himmels zurückgezogen haben. Mit dem letzten Homunkulus namens Fliegenbein ist es dem schrecklichen Nesselbrand nun gelungen, einen Spion direkt bei Lung und seinen Freunden zu platzieren, mit dessen Hilfe er endlich den Saum des Himmels finden will.

Wie es Lung, seinen Begleitern und ihren zahllosen Unterstützern aus der Fabel-, Tier- und Menschenwelt schließlich gelingt, den Saum des Himmels im Himalaja zu finden und die schottischen Silberdrachen dorthin zu führen, erzählt Cornelia Funke in gut verständlicher Sprache in ihrem wunderbar mit Schwarz-Weiß-Tuschezeichnungen illustrierten Kinderbuch. Auch Jugendliche und sogar Erwachsene werden sich der Spannung und der Faszination der von Cornelia Funke entworfenen Welt nicht entziehen können, und jeder wird über kurz oder lang seine Lieblingsfigur darin finden. Mein Favorit ist die Ratte Lola Grauschwanz, die couragierte Pilotin eines Spielzeugzeugs, die so manches Mal helfend eingreift und nie um einen Kommentar verlegen ist.

Aus den genannten Gründen halte ich Drachenreiter für ein geniales Vorlesebuch ab frühestens acht Jahren und für die ganze Familie. Einen Globus sollte man unbedingt danebenstellen, um die abenteuerliche Reise jederzeit verfolgen zu können.

Cornelia Funke: Drachenreiter. Oetinger 2014
www.oetinger.de

Frank Goldammer: Der Angstmann

Ermittlungen in einer brennenden Stadt

Im Gegensatz zu den meisten historischen Romanen lese ich historische Krimis sehr gerne. Die Einbettung des Kriminalfalls in einen geschichtlichen Kontext, die langsamere Gangart der Ermittlungen durch die eingeschränkten technischen Möglichkeiten und die dadurch bedingte größere Bedeutung des polizeilichen Spürsinns und der Intuition der Ermittler machen für mich den Reiz dieses Genres aus. Wenn der Krimi dann auch noch so atmosphärisch und spannend wie Der Angstmann von Frank Goldammer geschrieben ist, und der Verlag sowohl bei der Gestaltung als auch beim Klappentext gute Arbeit geleistet hat, sind alle meine Erwartungen erfüllt.

Formal gliedert sich der klug aufgebaute historische Dresden-Krimi in zwei Teile. Der erste Teil spielt vom November 1944 bis zur völligen Zerstörung durch britische Bomber am 13. Februar 1945, der zweite nach der Besetzung durch die Russen im Mai 1945. Über beide Teile hinweg treibt ein brutaler Frauenmörder sein Unwesen, der mehrere Krankenschwestern bestialisch hinrichtet und die Leichen inszeniert.

Kriminalinspektor Max Heller, ein aufrechter, sympathischer Polizist, der nie in die Partei eingetreten ist, dem es nur um Wahrheit und darum geht, den Menschen Gerechtigkeit zu verschaffen und gesellschaftliche Werte zu erhalten, ermittelt unter widrigsten äußeren Bedingungen. Nicht nur, dass im ersten Teil fast alle Kollegen an der Front sind, es weder Blitzlichtbirnen noch Benzin gibt, auch ein strammer Nazi-Vorgesetzter ohne polizeiliche Kenntnisse, aber mit einem unerschütterlichen Glauben an den Endsieg, erschweren seine Arbeit. Der offensichtlich pathologische Täter schlägt immer wieder während des Fliegeralarms zu und in der Bombennacht vom 13. Februar 1945 kommt Heller ihm ganz nah, ohne ihn stellen zu können.

Im zweiten Teil hat die russische Besatzungsmacht die deutsche Polizei aufgelöst und es braucht Hellers ganze Überzeugungskraft, um an der Seite eines mehr am Aufgreifen von Nazis interessierten russischen Kommissars die Ermittlungen weiterführen zu dürfen – bis zum überaus spannenden Showdown…

Trotz der gruseligen Stimmung und des sehr fesselnden Schlussteils mit einer für mich ebenso überraschenden wie befriedigenden Auflösung ist Der Angstmann kein Thriller, denn Frank Goldammer widmet dem historischen Hintergrund großen Raum. Für mich ist genau diese sehr ausführliche, atmosphärische Schilderung der Lebensbedingungen in Dresden vor, während und nach der Zerstörung die große Stärke des Buches und ich fand sie zu keiner Zeit langatmig. Besonders die Situation vor der Zerstörung, als jeden Tag große Mengen von Flüchtlingen aus dem Osten in die Stadt strömten und unvorstellbares Chaos, Not und Verzweiflung herrschten, fand ich sehr interessant, genauso wie die Beschreibung der Zerstörungen und der russischen Besatzungszeit, während der zu Hunger und Elend auch noch eine unvorstellbare Angst der Bevölkerung kam.

Max Heller taugt für mich zum Serien-Ermittler und ich freue mich schon auf weitere Bände mit ihm!

Frank Goldammer: Der Angstmann. dtv 2016
www.dtv.de

Maren Gottschalk: „Die Morgenröte unserer Freiheit“

Nelson Mandela für politisch interessierte Jugendliche

Diese Lebensgeschichte des Nelson Mandela stammt aus der Biografien-Reihe für Jugendliche ab ca. 14 Jahren aus dem Verlag Beltz & Gelberg und ist durchaus auch für Erwachsene als Einstieg empfehlenswert.

Maren Gottschalk beschränkt sich in ihrem flüssig zu lesenden Buch nicht nur auf die bekannten biografischen Eckdaten Nelson Mandelas, der 1918 als Sohn eines Thembu-Häuptlings geboren wurde, privilegiert aufwuchs, studierte und erst allmählich in die Politik und den ANC einstieg, fast 30 Jahre in Haft überwiegend auf der Gefängnisinsel Robben Island verbrachte, nach seiner Entlassung zum ersten schwarzen Staatspräsidenten Südafrikas aufstieg und zusammen mit de Klerk den Friedensnobelpreis erhielt. Sie erzählt darüberhinaus die Geschichte Südafrikas und seine Besiedlung durch die Weißen, beschreibt den ANC, die Inkartha-Bewegung und die Lebensbedingungen der Schwarzen und geht auf das Verhalten der Welt in Bezug auf die Apartheitsbewegung ein.

Die kritische Biografie ist geschickt mit Zitaten angereichert, sie setzt jedoch politisches Interesse und eine gewisse Konzentrationsfähigkeit voraus und ist dementsprechend für Jugendliche keine ganz leichte Lektüre.

Maren Gottschalk: „Die Morgenröte unserer Freiheit“. Gulliver 2013
www.beltz.de

Kirsten Boie: Wieder Nix!

Algenpest und Haigebiss, der Nix ist wieder da!

Hatte Jonathan den Nix, den thermoskannengroßen „Seejungmann“ mit den grünen Haaren, dem Fischschwanz und dem Dreizack, am Ende von Band eins, Verflixt – ein Nix, an die Ostsee zurückgebracht, so ist er ein Jahr später in Band zwei einfach wieder da!

Jonathan ist inzwischen acht Jahre alt, Hilary, die Freundin seines Vaters, lebt bei ihnen und erwartet ein Baby und die Hochzeit steht kurz bevor. Alles eigentlich sehr erfreulich, da taucht der Nix wieder auf und macht das, was man schon von ihm gewöhnt ist: Ärger und Scherereien. Sichtbar wird er nur bei Wasserrauschen, essen will er nur Fische, quengeln ist seine Hauptbeschäftigung, auch wenn er in diesem zweiten Band schon etwas umgänglicher ist, er spricht meist in Reimen und sein Ziel ist es nach wie vor, sich in eine Menschin zu verlieben. So sind Jonathan und seine Freundin Leo auch ziemlich hin- und hergerissen, ob sie sich freuen sollen oder nicht. Doch mittlerweile sind sie schon recht gewitzt im Umgang mit dem kleinen Kerl und tricksen ihn immer wieder aus, deshalb schafft er es schließlich auch nicht, den Polterabend und die Hochzeit zu ruinieren…

Band eins hat mir zwar noch etwas besser gefallen, aber auch Wieder Nix ist ein tolles, hübsch illustriertes Vorlesebuch ab sechs Jahren, zum Selberlesen ab acht, in dem es vor Ideen nur so wimmelt, bei dem man lachen kann und über Jonathans und Leos Einfälle staunt und am Ende wieder tief durchatmet, als Jonathan und Hilary den Nix ein weiteres Mal zurück zur Ostsee bringen, denn „Seejungmänner gehören einfach nicht aufs Land“!

Kirsten Boie: Wieder Nix! Oetinger 2007
www.oetinger.de

Kirsten Boie: Verflixt – ein Nix!

Ein Nix ist ein Nix und ein Nix und ein Nix!

Für den siebenjährigen Jonathan verläuft der Start in die zweite Klasse mehr als holprig, denn in einem Muscheleimer hat er versehentlich einen Nix, also eine männliche Nixe, einen „Seejungmann“, von der Ostsee mit nach Hause genommen, und der ist zwar niedlich, macht ihm aber jede Menge Scherereien. Nicht nur, dass der thermoskannengroße Nix mit den grünen Haaren, dem Fischschwanz und der dreizackigen Gabel immer nur sichtbar wird, wenn das Wasser rauscht, er verursacht ein Chaos im Bad, überschwemmt die Wohnung, fordert Fisch als Nahrung, quengelt gerne herum und bringt Jonathans ganze Klasse durcheinander. Als er sich dann auch noch in die Lehrerin, Frau Kägele, verliebt, und sie unbedingt „retten“ will, um berühmt wie Arielle zu werden, ist Jonathan mit seinem Latein am Ende. Sein frischverliebter Vater und die ansonsten so liebe Frau Kägele verlieren allmählich die Geduld mit ihm, denn ihnen zeigt der Nix sich natürlich nicht und Jonathan glaubt ja leider keiner!

Ich liebe die Kinderbücher von Kirsten Boie und natürlich auch den Nix, selbst wenn er oft schlecht gelaunt und nörgelig ist. Im Gegensatz zum Sams oder dem Pumuckl steht der Nix aber nicht so im Mittelpunkt des Buches, sondern eher der geplagte Jonathan, der in seiner treuen Freundin Leo die einzige Verbündete hat.

Verflixt – ein Nix ist ein wunderschönes, leicht erzähltes und von Stefanie Scharnberg bunt bebildertes Vorlesebuch ab sechs Jahre, zum Selberlesen ab acht, bei dem man lachen, Mitleid haben und immer wieder die Luft anhalten und Jonathan die Daumen drücken muss. Zum Glück gelingt es Jonathan, die ahnungslose Hilary, die neue Freundin seines Vaters, am Ende des Buches zu einem Ausflug an die Ostsee zu überreden…

Kirsten Boie: Verflixt – ein Nix! Oetinger 2015
www.oetinger.de

Claudie Gallay: Seule Venise

Venedig abseits aller Klischees

Claudie Gallays Roman Les déferlantes aus dem Jahr 2008, der 2010 auf Deutsch unter dem Titel Die Brandungswelle erschien, stand damals nicht nur monatelang auf der französischen Bestsellerliste, sondern war auch für mich eine ganz große Entdeckung. Mehr noch als die Handlung hat mich damals die Beschreibung der Natur, der Vogelwelt und des Meeres, die die eigentlichen Protagonisten sind, begeistert.

Bei ihrem bereits 2004 erschienenen Roman Seule Venise habe ich mich nun an das französische Original herangetraut und war überrascht, wie gut es sich lesen ließ. Auch hier steht eigentlich nicht eine Person im Mittelpunkt, sondern vielmehr die Stadt Venedig, und das zu einer Jahreszeit, in der keines der üblichen Klischees zutrifft, man kaum Touristen trifft und das Wetter mehr als unwirtlich ist: im Winter.

Von ihrem Lebenspartner verlassen, flüchtet die tief verwundete Ich-Erzählerin mittleren Alters Hals über Kopf in diese Stadt, mit der wir eher die Liebe als den Liebeskummer, eher die Sonne und Wärme als Regen, Nebel und Kälte verbinden. Zufällig ist dieses Ziel, ohne Plan kommt sie dort an, und wir begleiten sie auf ihren scheinbar endlosen Spaziergängen durch das menschenleere, ungemütliche und doch so faszinierende Venedig, in dem eine heiße Schokolade oder die Katzen eine übergroße Bedeutung bekommen können. Wir werden Zeugen ihrer Gedanken und ihrer tiefen Verzweiflung, aber auch des ganz langsam wiedererwachenden Lebenswillens und ihrer wenigen Außenkontakte zu den anderen Gästen ihrer kleinen Pension und einem Buchhändler.

Passend zu ihren trüben Gedanken und zur Stimmung in der feuchten Stadt ist der Stil stakkatohaft-abgerissen und die Sätze sind sehr kurz, teilweise unvollständig, oft lakonisch, immer sehr präzise und distanziert.

Wer bereit ist, sich von Claudie Gallay, die für mich zu den großen französischen Autorinnen der Gegenwart gehört, in ein anderes Venedig und in eine düster-melancholische, ganz besondere Stimmung versetzen zu lassen, wem die Atmosphäre auch einmal wichtiger sein kann als die Handlung, dem wird dieser außergewöhnliche, merkwürdig intensive kleine Roman bestimmt genauso gut gefallen wie mir.

Claudie Gallay: Seule Venise. Editions J’ai lu 2013
www.jailu.com

Daria Bignardi: So glücklich wir waren

„Geheimnisse sind leichter zu erfinden als aufzudecken“

Zwei Frauen, Alma und Antonia, sind die beiden Ich-Erzählerinnen im vierten Roman der italienischen Autorin, Journalistin und Fernsehmoderatorin Daria Bignardi, der zum großen Teil in ihrer Geburtsstadt Ferrara angesiedelt ist. Um es gleich vorwegzunehmen: Die Beschreibungen der Spaziergänge Antonias durch Ferrara, die sehr atmosphärische Begegnung mit dieser norditalienischen Stadt und ihren Bewohnern, waren für mich der größte Pluspunkt an diesem Buch. Daria Bignardi hat bei mir, die ich die Stadt nur von einem zweitägigen Aufenthalt ein wenig kenne, ein Kopfkino und ein Wiedererkennen mit allen Sinnen ausgelöst.

Inhaltlich erzählt uns Alma von ihrer Kindheit in Ferrara, die sie bis zum Wendepunkt ihres Lebens an dem Tag, als sie ihren geliebten Bruder aus jugendlichem Übermut dazu aufforderte, gemeinsam Heroin auszuprobieren, als ausgesprochen glücklich empfand. Sie, die immer dominant war, ihr ein Jahr jüngerer Bruder Marco, genannt Maio, und die gemeinsame Freundin Michela waren ein eingeschworenes Trio, probierten auch vorher schon gemeinsam Drogen. Bei Alma blieb es beim einmaligen Heroinkonsum, während Maio süchtig wurde und eines Tages spurlos verschwand. Die Familie zerbrach und Alma, die allein zurückblieb, verließ Ferrara für immer.

Nun, da ihre Tochter Antonia ihr erstes Kind erwartet, erzählt Alma ihr von dieser Schuld, die ihr Leben für immer überschattet hat. Antonia, von Beruf Krimiautorin, möchte dem Verschwinden Maios auf die Spur kommen und fährt zu Recherchezwecken nach Ferrara. Dort stellt sie zwar fest, dass „es leichter ist, ein Geheimnis zu erfinden, als eins aufzudecken“, findet jedoch nach und nach mehr über ihre Familie heraus, als sie je erwartet hätte…

Abwechselnd erzählen die beiden Frauen in sehr kurzen, mir manchmal zu kurzen Kapiteln, Alma meist von der Vergangenheit, Antonia von der Gegenwart. Dies ist Daria Bignardi sehr gut gelungen, der Roman ist spannend und durch die beiden Perspektiven abwechslungsreich. Der Sprachstil ist eher einfach, dafür flüssig zu lesen, aber leider war mir die Handlung an einigen Stellen zu konstruiert. Überrascht war ich wieder einmal, wie leicht ich mich von Ich-Erzählern hinters Licht führen lasse, denn ein einziger Brief hat genügt, um manche Aussage des Buches zu relativieren, und dieser Kunstgriff ist der Autorin sehr gut gelungen.

Trotz der genannten Einschränkungen habe ich den Roman gerne gelesen, habe mich gut unterhalten gefühlt und kann ihn mit den genannten Einschränkungen weiterempfehlen.

Daria Bignardi: So glücklich wir waren. Insel 2016
www.suhrkamp.de