Venedig abseits aller Klischees
Claudie Gallays Roman Les déferlantes aus dem Jahr 2008, der 2010 auf Deutsch unter dem Titel Die Brandungswelle erschien, stand damals nicht nur monatelang auf der französischen Bestsellerliste, sondern war auch für mich eine ganz große Entdeckung. Mehr noch als die Handlung hat mich damals die Beschreibung der Natur, der Vogelwelt und des Meeres, die die eigentlichen Protagonisten sind, begeistert.
Bei ihrem bereits 2004 erschienenen Roman Seule Venise habe ich mich nun an das französische Original herangetraut und war überrascht, wie gut es sich lesen ließ. Auch hier steht eigentlich nicht eine Person im Mittelpunkt, sondern vielmehr die Stadt Venedig, und das zu einer Jahreszeit, in der keines der üblichen Klischees zutrifft, man kaum Touristen trifft und das Wetter mehr als unwirtlich ist: im Winter.
Von ihrem Lebenspartner verlassen, flüchtet die tief verwundete Ich-Erzählerin mittleren Alters Hals über Kopf in diese Stadt, mit der wir eher die Liebe als den Liebeskummer, eher die Sonne und Wärme als Regen, Nebel und Kälte verbinden. Zufällig ist dieses Ziel, ohne Plan kommt sie dort an, und wir begleiten sie auf ihren scheinbar endlosen Spaziergängen durch das menschenleere, ungemütliche und doch so faszinierende Venedig, in dem eine heiße Schokolade oder die Katzen eine übergroße Bedeutung bekommen können. Wir werden Zeugen ihrer Gedanken und ihrer tiefen Verzweiflung, aber auch des ganz langsam wiedererwachenden Lebenswillens und ihrer wenigen Außenkontakte zu den anderen Gästen ihrer kleinen Pension und einem Buchhändler.
Passend zu ihren trüben Gedanken und zur Stimmung in der feuchten Stadt ist der Stil stakkatohaft-abgerissen und die Sätze sind sehr kurz, teilweise unvollständig, oft lakonisch, immer sehr präzise und distanziert.
Wer bereit ist, sich von Claudie Gallay, die für mich zu den großen französischen Autorinnen der Gegenwart gehört, in ein anderes Venedig und in eine düster-melancholische, ganz besondere Stimmung versetzen zu lassen, wem die Atmosphäre auch einmal wichtiger sein kann als die Handlung, dem wird dieser außergewöhnliche, merkwürdig intensive kleine Roman bestimmt genauso gut gefallen wie mir.
Claudie Gallay: Seule Venise. Editions J’ai lu 2013
www.jailu.com
Zwei Frauen, Alma und Antonia, sind die beiden Ich-Erzählerinnen im vierten Roman der italienischen Autorin, Journalistin und Fernsehmoderatorin Daria Bignardi, der zum großen Teil in ihrer Geburtsstadt Ferrara angesiedelt ist. Um es gleich vorwegzunehmen: Die Beschreibungen der Spaziergänge Antonias durch Ferrara, die sehr atmosphärische Begegnung mit dieser norditalienischen Stadt und ihren Bewohnern, waren für mich der größte Pluspunkt an diesem Buch. Daria Bignardi hat bei mir, die ich die Stadt nur von einem zweitägigen Aufenthalt ein wenig kenne, ein Kopfkino und ein Wiedererkennen mit allen Sinnen ausgelöst.
Achtung: Bei diesem Erstlesebuch des Loewe Verlags aus der Reihe Lesepiraten, vierte Lesestufe, handelt es sich um ein Buch für die zweite Klasse, nicht etwa, wie man fälschlicherweise vermuten könnte, für Viertklässler!
Nachdem ich Band zwei, Pernilla oder Warum wir nicht in den sauren Apfel beißen mussten, bereits kannte und sehr liebe, waren meine Erwartungen an Band eins, Pernilla oder Wie die Beatles meine viel zu große Familie retteten, entsprechend hoch – und wurden voll erfüllt!
Ich hatte mich sehr auf dieses kleine Büchlein gefreut, da die Gestaltung der sehr hochwertig hergestellten Klappenbroschur, die auch nach dem Lesen keinerlei Gebrauchsspuren zeigt, außerordentlich gut gelungen ist. Das Cover mit den federleicht schwebenden Blüten und der angenehmen Farbgebung passt sehr gut zum Titel und so hatte ich zunächst den Eindruck, eines „meiner“ Bücher in Händen zu halten.
Grund für die irische Finanzkrise 2008 waren eine Aufblähung des Finanzsektors durch den Kapitalzufluss ausländischer Unternehmen und riskante Immobilieninvestments. Zunächst verdienten die meisten Iren mit, dann kam der jähe Zusammenbruch, der von einigen als die schlimmste Zeit seit der großen Hungersnot in den 1840er-Jahren beschrieben wird.
Mag sein, dass ein Teil meiner Begeisterung für dieses Buch einerseits meiner Verehrung für Henning Mankell und andererseits meiner Liebe zu Schweden und zur Schärenlandschaft geschuldet ist. Mankells Tod im Oktober 2015 hat mich erschüttert und das Wissen, hier seinen letzten Roman in Händen zu halten, der von so tiefer Melancholie durchzogen ist, hat mich stark bewegt. Die Themen Einsamkeit, Alter und Tod stehen im Mittelpunkt, viel mehr als die eigentliche Handlung, und mit dem Wissen um Mankells schwere Erkrankung lesen sich die Gedanken und Gefühle seines Protagonisten Fredrik Welin mit einer selten empfundenen tiefen Intensität.
Auch der zweite historische Roman der geborenen Stuttgarterin Petra Gabriel spielt in Südbaden, allerdings dieses Mal nicht wie Zeit des Lavendels im 16., sondern im Falle von Die Gefangene des Kardinals im 17. Jahrhundert.
Zum Reformationsjubiläum 2017 passt der historische Roman Zeit des Lavendels von Petra Gabriel, in dem es um das dramatische Schicksal einer jungen Frau Mitte des 16. Jahrhunderts geht. Der Bauernkrieg ist kaum 20 Jahre vorbei, die Buntschuhler noch in den Wäldern, Luthers Lehren faszinieren immer mehr Menschen, obwohl die katholische Kirche die „Ketzer“ verfolgt, und die Hexenverfolgungen sind auf ihrem Höhepunkt.
Auf einer dreiwöchigen Rundreise durch Irland haben wir Heinrich Bölls Klassiker Irisches Tagebuch als Vorleselektüre während längerer Autofahrten gewählt, und soweit die Straßen nicht zu holprig zum Lesen waren, war es die perfekte Unterhaltung. Auch wenn es Bölls in 18 Miniaturen beschriebenes Irland so heute natürlich nicht mehr gibt, ja nicht einmal das im nachgestellten Essay 13 Jahre bzw. „gefühlte eineinhalb Jahrhunderte später“, so erkennt man doch auch heute vieles von dem, was er mit so scharfsinniger Beobachtungsgabe hochliterarisch beschreibt, wieder.