„Geheimnisse sind leichter zu erfinden als aufzudecken“
Zwei Frauen, Alma und Antonia, sind die beiden Ich-Erzählerinnen im vierten Roman der italienischen Autorin, Journalistin und Fernsehmoderatorin Daria Bignardi, der zum großen Teil in ihrer Geburtsstadt Ferrara angesiedelt ist. Um es gleich vorwegzunehmen: Die Beschreibungen der Spaziergänge Antonias durch Ferrara, die sehr atmosphärische Begegnung mit dieser norditalienischen Stadt und ihren Bewohnern, waren für mich der größte Pluspunkt an diesem Buch. Daria Bignardi hat bei mir, die ich die Stadt nur von einem zweitägigen Aufenthalt ein wenig kenne, ein Kopfkino und ein Wiedererkennen mit allen Sinnen ausgelöst.
Inhaltlich erzählt uns Alma von ihrer Kindheit in Ferrara, die sie bis zum Wendepunkt ihres Lebens an dem Tag, als sie ihren geliebten Bruder aus jugendlichem Übermut dazu aufforderte, gemeinsam Heroin auszuprobieren, als ausgesprochen glücklich empfand. Sie, die immer dominant war, ihr ein Jahr jüngerer Bruder Marco, genannt Maio, und die gemeinsame Freundin Michela waren ein eingeschworenes Trio, probierten auch vorher schon gemeinsam Drogen. Bei Alma blieb es beim einmaligen Heroinkonsum, während Maio süchtig wurde und eines Tages spurlos verschwand. Die Familie zerbrach und Alma, die allein zurückblieb, verließ Ferrara für immer.
Nun, da ihre Tochter Antonia ihr erstes Kind erwartet, erzählt Alma ihr von dieser Schuld, die ihr Leben für immer überschattet hat. Antonia, von Beruf Krimiautorin, möchte dem Verschwinden Maios auf die Spur kommen und fährt zu Recherchezwecken nach Ferrara. Dort stellt sie zwar fest, dass „es leichter ist, ein Geheimnis zu erfinden, als eins aufzudecken“, findet jedoch nach und nach mehr über ihre Familie heraus, als sie je erwartet hätte…
Abwechselnd erzählen die beiden Frauen in sehr kurzen, mir manchmal zu kurzen Kapiteln, Alma meist von der Vergangenheit, Antonia von der Gegenwart. Dies ist Daria Bignardi sehr gut gelungen, der Roman ist spannend und durch die beiden Perspektiven abwechslungsreich. Der Sprachstil ist eher einfach, dafür flüssig zu lesen, aber leider war mir die Handlung an einigen Stellen zu konstruiert. Überrascht war ich wieder einmal, wie leicht ich mich von Ich-Erzählern hinters Licht führen lasse, denn ein einziger Brief hat genügt, um manche Aussage des Buches zu relativieren, und dieser Kunstgriff ist der Autorin sehr gut gelungen.
Trotz der genannten Einschränkungen habe ich den Roman gerne gelesen, habe mich gut unterhalten gefühlt und kann ihn mit den genannten Einschränkungen weiterempfehlen.
Daria Bignardi: So glücklich wir waren. Insel 2016
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