Eine Geschichte über eine Kindheit ohne Mutter und ohne festes Zuhause
In den Wirren nach dem Aufstand in Ungarn verlässt Katalin im Spätherbst Ungarn und ihre Familie ohne ein Abschiedswort. Zurück bleiben die Ich-Erzählerin Kata, ihr kleiner Bruder Isti und Velencei Kálmán, der Vater, der von nun an immer wieder nicht ansprechbar ist, pausenlos raucht, zur Decke starrt, „taucht“, wie die Kinder es nennen. Die Mutter hat dem Vater nie widersprochen, sie ist einfach ohne Gepäck mit einer Freundin in einen Zug gestiegen und über einen wenig bewachten Grenzabschnitt in den Westen geflohen. Kálmán verkauft daraufhin Haus und Hof und lebt fortan mit den Kindern abwechselnd bei verschiedenen Verwandten in unterschiedlichen Landesteilen.
Zsuzsa Bánk erzählt in ihrem mehrfach preisgekrönten Debütroman Der Schwimmer aus dem Jahr 2002 von einer Kindheit ohne Mutter und ohne Zuhause. Immer wieder heißt es Abschied nehmen, alles zurücklassen, schnell vergessen werden, neue Verwandte, neue Bleibe auf Zeit und immer nur geduldet. Über den Kindern liegt wie eine Glocke eine nie nachlassende Sehnsucht nach der Mutter und Kata leidet sowohl unter der Angst, dass die Erinnerung verblassen könnte, als auch unter der Angst um ihren zunehmend psychisch auffälligen Bruder, die sich zuletzt als berechtigt erweist. Zum Vater bleibt eine große Distanz und die Kinder haben das Gefühl, lediglich „Zusätze“ zu sein, die er nicht abschütteln kann. Einzig das Schwimmen, das zu Istis großer Leidenschaft wird, bringt er ihnen bei.
Der Roman besteht aus 17 Kapiteln, die außer dem ersten („Wir“) alle mit den Namen der darin im Mittelpunkt stehenden Personen betitelt sind. Erst das letzte, kürzeste, trägt den Namen der Ich-Erzählerin, Kata, die Ende der 1960er-Jahre erwachsen geworden ist und nun auch mehr von den politischen Zusammenhängen begreift. Sie hat die Belastungen besser überstanden als Isti und Kálmán, weil sie davon erzählen konnte.
Die Besonderheit an Zsuzsa Bánks Roman besteht in der ruhigen, melancholischen Sprache mit dem ganz eigenen Rhythmus, die die Atmosphäre der Orientierungslosigkeit und der Erstarrung sehr gut unterstreicht. Gleichzeitig hat diese Sprache aber auch ein Gefühl von Depression bei mir hervorgerufen, so dass ich zwischen Faszination und dem Wunsch, das Buch aus der Hand zu legen, hin- und hergerissen war. Ersteres hat aber zum Glück gesiegt.
Zsuzsa Bánk: Der Schwimmer. Fischer 2016
www.fischerverlage.de