Kristina Hauff: Unter Wasser Nacht

  Trauer, Schuld und Neid

 

Der Roman Unter Wasser Nacht mit einem so herausragenden Cover, dem Handlungsort Wendland und einem so interessant klingenden Titel stand in diesem Frühjahr weit oben auf meiner Leseliste, ist mir doch ein wunderschöner Fahrradurlaub im Mai 2020 mit Quartier nahe Gorleben und der traumhaften Elbe noch frisch im Gedächtnis. Für zumindest zwei der Protagonisten ist jedoch die Elbe Hassobjekt:

© M. Busch

Er [Thies] wollte Edith nicht begegnen. Wenn es jemanden gab, der den Fluss noch mehr hasste als er, dann war sie es, die Fährfrau wider Willen. Er wollte ihre stummen Blicke nicht ertragen. Nicht wissen, was sich dahinter verbarg. Unausgesprochenes. Es ging ihm schlecht genug. (S. 7)

Elbblick vom Aussichtsturm zwischen Laase und Langendorf im Wendland. © M. Busch


Abschied von Bullerbü?
Thies und seine Frau Sophie haben vor gut einem Jahr ihren Sohn Aaron verloren. Zwei Tage nach seinem Verschwinden wurde er tot in der Elbe gefunden, die Umstände liegen im Dunkeln. Thies und Sophie entfernen sich seither in ihrer Trauer und ihren Schuldgefühlen immer mehr voneinander, leben in getrennten Welten. Auch die Freundschaft zu ihren Nachbarn Inga und Bodo mit den Kindern Lasse und Jella, alte Mitstreiter aus ihrer Vergangenheit als politische Aktivisten gegen die Castor-Transporte, ist daran zerbrochen.

Das Zwischenlager Gorleben. © M. Busch
Erinnerung an den Castor-Widerstand. © M. Busch

 

 

 

 

 

 

Aus der Bullerbü-Idylle der beiden Familien wurde blanker Neid Sophies auf das scheinbar perfekte Leben der anderen. Dabei war auch vorher nicht alles gut, denn das Wunschkind Aaron terrorisierte, seit er laufen konnte, alle mit seinem Hass, seinen Aggressionen und seiner Wut.

Gerade als die Ermittlungen der Polizei eingestellt werden, taucht die mysteriöse Mara aus Christiania auf, eine Frau Ende vierzig, selbstbewusst, attraktiv, unkonventionell, lebendig. Thies fühlt sich vom ersten Moment magisch zu ihr hingezogen, aber auch auf Sophie, Inga und Jella macht sie großen Eindruck. Nur Ingas Mutter Edith, die Fährfrau, reagiert schroff. Noch ahnt keiner, wie sie aller Leben auf den Kopf stellen wird.

Ein Roman mit Schwächen
Kristina Hauff, die unter ihrem wirklichen Namen Susanne Kliem bereits mehrere Krimis veröffentlichte, überschreibt die kurzen Kapitel mit der Person, aus deren Sicht erzählt wird, bei Rückblenden ergänzt durch eine Zeitangabe. Zweiundzwanzig Kapitel heißen „Sophie“, zwölf „Thies“, acht „Inga“, drei „Jella“ beziehungsweise „Edith“ und eines „Mara“.

Leider nahm meine anfängliche Freude während des Lesens zunehmend ab, zumal die Auflösung irgendwann absehbar wurde. Hauptgründe dafür waren die auf mich unecht wirkenden Dialog und die Charaktere, die mir zu eindimensional (Aaron), zu konstruiert (Mara) oder zu unverständlich in ihrem Verhalten (Thies und Jella) waren. Außerdem störten mich Ungenauigkeiten und Fehler, die ich so bei einem Buch aus dem Hanser Verlag nicht kenne: Da wird beispielsweise eine Hündin am „Armband“ gezogen (S. 156), „Hausbesetzerfreunde“ werden zu „Hausbesitzerfreunden“ (S. 228), die Kapitelüberschriften heißen mal „Dreizehn Monate zuvor“ (S. 127), mal „Vor 13 Monaten“ (S. 202) und Mara liegt, nur mit einem Slip bekleidet, auf einem Bett (S. 281), um sich kurz darauf T-Shirt und Hose auszuziehen (S. 284). Schade, denn die Grundidee des Buches ist gut, die Autorin hat zur Vergangenheit der Protestbewegungen recherchiert, hat Zeit im Wendland verbracht und viele Naturbeschreibungen, vor allem des Wassers, sind gelungen. Wer sich an den genannten Kritikpunkten also nicht stört, kann sich bei der Lektüre sicher gut unterhalten.

Kristina Hauff: Unter Wasser Nacht. hanserblau 2021
www.hanser-literaturverlage.de

Julia Phillips: Das Verschwinden der Erde

  Fremde Welt Kamtschatka

In Elizabeth Strouts 2009 mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnetem Roman Mit Blick aufs Meer und der Fortsetzung Die langen Abende bildet die Protagonistin Olive Kitteridge den roten Faden zwischen den einzelnen, ansonsten unzusammenhängenden Episoden, in Simone Lapperts Der Sprung die Frau auf dem Dach und in Peter Zantinghs Nach Mattias der Tod eines jungen Mannes. Im Roman  Das Verschwinden der Erde der US-Amerikanerin Julia Philipps ist das Verbindende die Entführung zweier Schwestern, der elfjährigen Aljona und der achtjährigen Sofija. An einem Augusttag verschwinden sie in der Hauptstadt Petropawlowsk der im ostasiatischen Teil Russlands gelegenen Halbinsel Kamtschatka spurlos. Eben erzählt Aljona ihrer Schwester noch die Geschichte eines bei einem Tsunami verschwundenen Dorfes, als ein Fremder sie anspricht und mitnimmt.

Potpourri von Frauenstimmen
Während eines Jahres – die Kapitel sind mit den Monatsnamen überschrieben, dazu eines mit „Silvester“, so dass es insgesamt 13 sind – stellt Julia Philipps Menschen vor, die direkt oder als unbeteiligte Beobachter mit diesem Verbrechen verbunden sind.Hilfreich sind dabei das Personenregister und die Landkarte vorn im Buch. Immer wieder kreuzen Figuren aus früheren Kapiteln ihre Wege und wir erfahren en passant, wie deren Leben weitergehen: ob die Hautveränderung der Schulsekretärin Walentina Nikolajewna tatsächlich Krebs ist, Katja trotz Bedenken bei ihrem unzuverlässigen Freund Max bleibt, die Studentin Ksjuscha sich weiterhin ihrem  kontrollsüchtigen Machofreundes Ruslan unterwirft und Nadja zu Tschegga zurückkehrt oder nicht.

Es sind triste Schicksale meist gut ausgebildeter Frauen, deren Träume zerplatzen, deren Ausbruchsversuche scheitern, die beste Freundinnen, Ehemänner, Kinder oder ihren Hund verlieren. Männer bevölkern diese patriarchalische Welt überwiegend als trunksüchtige, machtbesessene, psychische und physische Gewalt ausübende, unzuverlässige Partner. Viele trauern den sicheren Strukturen der untergegangenen Sowjetunion nach, als das neun Flugstunden von Moskau entfernte, nur per Flugzeug oder Schiff erreichbare Kamtschatka abgeriegeltes militärisches Sperrgebiet war, es keine Fremden und kaum Gewaltverbrechen gab.

Nichts dem Zufall überlassen
Mit dem Einstiegskapitel und dem Verschwinden der Mädchen hat mich Julia Phillips sofort gepackt. Die ersten Kapitel las ich mit äußerstem Interesse, das dann allerdings in den Frühlingsmonaten abebbte. Nicht jedes Schicksal war gleichermaßen packend, manche Frauen, wie die junge Mutter Soja, nervten mich sogar. Die Wende kam mit dem Juni-Kapitel, denn nun rückt die Mutter der Entführungsopfer, Marina, in den Mittelpunkt. Ihre Qualen, Schuldgefühle und kraftraubenden Überlebensstrategien sind derart gelungen dargestellt, dass dieses längste Kapitel für mich den Höhepunkt des Romans bildet. Marina, die Russin, trifft bei einem ewenischen Jahresfest die Ureinwohnerin Alla, deren 18-jährige Tochter Lilja vor über drei Jahren ebenfalls verschwand. Ermittlungen fanden wegen Liljas Alters und ihrer indigenen Abstammung nicht statt, obwohl auch Alla von einem Verbrechen ausgeht. Wie Julia Phillips hier verschiedenste Figuren des Romans glaubhaft in einem atemberaubenden Showdown zusammenführt, ist schlichtweg genial. Nicht weniger ergreifend ist das kurze Schlusskapitel, der Juli, in dem die vermutlich titelgebende Geschichte vom Untergang eines Dorfes wiederaufgenommen wird.

Eine lohnende Lektüre
Trotz vorübergehender Ermüdungserscheinungen hat mich der 2019 auf der Shortlist des National Book Award platzierte Debütroman von Julia Phillips, die 2011 mittels eines Stipendiums ein Jahr in Kamtschatka verbrachte und 2015 erneut dorthin reiste, am Ende überzeugt. Der raffinierte Aufbau, die unbekannte Region, das Porträt einer von Rassismus zerrissenen, männlich dominierten Gesellschaft, der eindrückliche Kontrast zu einer fantastischen Natur mit Tundra, Vulkanen, Geysiren, Wäldern, Bergen und Bären sowie der gelungene Spannungsbogen und die glasklare Sprache machen Vom Verschwinden der Erde unbedingt lesenswert.

Julia Phillips: Das Verschwinden der Erde. Aus dem amerikanischen Englisch von Pociao und Roberto de Hollanda. dtv 2021
www.dtv.de

Alem Grabovac: Das achte Kind

  Zwei Mütter, drei Väter, viele Heimatorte

Wäre der Buchtitel Herkunft nicht schon vom Gewinner des Deutschen Buchpreises 2019, Saša Stanišić, besetzt – er hätte auch zum Debütroman von Alem Grabovac wunderbar gepasst. Beide Autoren erzählen autofiktional in der Ich-Form, beide Romane gehen in ihrer Bedeutung weit über das Einzelschicksal hinaus und beschreiben ein Aufwachsen in Deutschland außerhalb der allgemeinen Wahrnehmung. Doch während Saša Stanišić 1992 mit 14 Jahren als Kriegsflüchtling aus Bosnien nach Deutschland kam, wurde Alem Grabovac als Sohn jugoslawischer Gastarbeiter, Mutter Kroatin, Vater Bosnier, 1974 in Würzburg geboren.

Verschiedene Welten
Die Nachricht vom Tod seines leiblichen Vaters Emir Grabovac ist Ausgangspunkt des Romans. 34 Jahre lang hatte die Mutter Alem belogen, um ihm ein „schönes Vaterbild“ zu erhalten, und ihm die erfundene Geschichte vom rechtschaffenen, bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommenen Vater erzählt. 

Alems Mutter Smilja lernte ihren Mann 1973 in Deutschland kennen, wo sie ein Leben als Gastarbeiterin gegen ein prekäres, von familiärer Gewalt geprägtes Dasein in ihrem kroatischen Bergdorf eingetauscht hatte. Emir entpuppt sich schnell als arbeitsscheuer, trunksüchtiger Kleinganove, dem sie unmöglich tagsüber den neugeborenen Sohn überlassen kann. Schweren Herzens entscheidet sie sich deshalb für eine Pflegefamilie. Nachdem Emir endgültig untertaucht und Smilja auf der Flucht vor Eintreibern seiner Spielschulden nach Frankfurt zieht, bleibt Alem nun auch an den meisten Wochenende bei Marianne und Robert Behrens, die ihn wie die eigenen sieben Kinder fürsorglich und liebevoll aufziehen. Bewundernd und stolz lauscht er Roberts Kriegsgeschichten und malt Panzer. Die nationalsozialistische Gesinnung und den ausgeprägten Judenhass seines ansonsten „herzensguten“ Pflegevaters, der „immer für mich da war“, begreift er erst als Jugendlicher und distanziert sich:

Ich blickte auf seine Kriegsverletzung, das riesige Loch in der Schulter, auf das ich als Kind so unglaublich stolz gewesen war. Doch das Loch hatte sich verändert, war schattiger und dunkler geworden, hinter seiner tiefen Ausbuchtung verbarg sich etwas, vor dem ich mich zunehmend fürchtete. (S. 181/182)

Während sich Alem bei seiner Pflegefamilie trotz zahlreicher Umzüge in deren penibel geregeltem Alltag geborgen und zuhause fühlt, fürchtet er die Besuche bei seiner leiblichen Mutter und deren gewalttätigem, unberechenbarem neuen Partner, dem Serben Dušan. In Frankfurt gibt es weder Tischmanieren noch Sandmännchen, Dalli Dalli oder eine geregelte Nachtruhe, dafür Prügel vom häufig betrunkenen Stiefvater für Alem und Smilja.

Überlebensstrategien
Wie übersteht man eine solches Aufwachsen in unterschiedlichen Familien und zwischen schwäbischen Kleinstädten, Frankfurt und den Besuchen bei den Großeltern im kroatischen Maovice? Mit dem Ziel eines Studium als überaus bewundernswertem Weg durch Bildung zur Freiheit und mit Zufluchtsorten:

Ich versuchte, ruhig zu bleiben, […] und hatte in der Literatur, wie schon zuvor im Fußball und in Kinofilmen, einen neuen Ort gefunden, an den ich mich klammheimlich zurückziehen konnte, wenn das Leben mal wieder zu laut und chaotisch wurde. (S. 215)

Mehr Bericht als Roman
Alem Grabovacs Debütroman ist gerade deshalb eindrucksvoll, weil er nicht Mitleid heischt und Pathos meidet. Allerdings frage ich mich, was diesen eher sachlich-distanzierten autobiografischen Bericht zum Roman macht, und vermisse ein wenig die Emotionalität und die literarische Originalität eines Saša Stanišić. Als Beitrag zu zwei großen Themen der Nachkriegszeit, dem Schicksal tausender Gastarbeiter und dem Weiterleben der Naziideologie, ist Das achte Kind jedoch sehr empfehlenswert.

Alem Grabovac: Das achte Kind. hanserblau 2021
www.hanser-literaturverlage.de

Miriam Zedelius: Lotte und die Freitags-Oma

  So eine Oma braucht jedes Kind!

Lotte ist schon fünf Jahre alt, kann fünf Züge schwimmen, bis 17 zählen, die Zahl Fünf lesen und ist mutig genug, auswärts zu übernachten. Am liebsten sind ihr die Freitage, denn dann holt die Oma sie vom Kindergarten ab. Zusammen erleben die beiden viele kleine Alltagsabenteuer. Die Oma lässt Lotte jede Menge Freiraum für ihre gründlichen Beobachtungen, gibt Anregungen, ohne sie damit zu erdrücken, nimmt es bei den Süßigkeiten nicht ganz so genau wie die Mutter und verliert vor allem nie ihren Humor. Selbst wenn es, wie bei Lottes Rollerunfall, brenzlig wird, strahlt sie eine wohltuende Ruhe aus, ist immer präsent und bleibt doch wohltuend im Hintergrund. Kein Wunder also, dass Lotte selbst bei Krankheit freitags nicht im Bett bleiben will!

Abenteuer findet man überall
18 Geschichten, die richtig Spaß machen, umfasst das Vorlesebuch Lotte und die Freitags-Oma mit Text und Illustrationen von Miriam Zedelius. Den bereits 2019 erschienenen Vorgängerband Lotte und die Oma-Tage, als die beiden noch die Montage zusammen verbrachten, muss man dafür nicht kennen. Jede der um die fünf Seiten umfassenden Geschichten in großer Schrift ist in sich abgeschlossen und die Reihenfolge beliebig. Egal, ob die beiden unternehmungslustigen Damen zusammen zum Markt, in den Zoo oder auf den Rummelplatz gehen, ob sie Pfandflaschen sammeln, einen Regen-Puzzle-Tag einlegen, Quittengelee kochen, ohne Schnee Schlitten fahren oder am Laternenumzug teilnehmen, immer sind es Situationen aus der Alltagswelt der kleinen Zuhörer und Zuhörerinnen ab drei Jahren mit ein paar zusätzlichen Anregungen und spannenden Einblicken in Lottes kindliche Gedankenwelt.

© B. Busch

Alles in Rot und Grün
Die unterschiedlich großen, sehr gut passenden Zeichnungen auf fast jeder Doppelseite sind im Gegensatz zum poppigen Cover ausschließlich in roter und grüner Farbe gehalten, wobei Oma und Lotte sich prima ergänzen: Trägt Lotte eine rote Jacke, so ist die der Oma grün, sind Omas Hose und Schuhe rot, hat Lotte grüne an. Nur die Gesichter und Haare sind immer grün – mit fröhlichen roten Bäckchen. Schade ist das nur für Betrachter, selten Betrachterinnen, mit einer Rot-Grün-Sehschwäche.

Verschiedene Zielgruppen
Aufgrund der einfachen Satzstruktur, der kurzen Geschichten und der kindgerechten Themenauswahl eignet sich Lotte und die Freitags-Oma schon zum Vorlesen ab drei Jahren. Aber auch bei fortgeschrittenen Erstleserinnen und Erstleser, die bereits etwas umfangreichere Textmengen bewältigen, könnte das warmherzig geschriebene Buch zum Einsatz kommen, denn mit der größeren Schrift, dem Flattersatz, den in sich abgeschlossenen Episoden, den kurzen Sätzen und textunterstützenden Illustrationen stellt sich schnell Leseerfolg ein.

Miriam Zedelius: Lotte und die Freitags-Oma. Hummelburg 2021
www.ravensburger.de

Julian Barnes: Der Mann im roten Rock

  Mit Vergnügen durch die Belle Époque

An seinen Romanen Vom Ende einer Geschichte und Die einzige Geschichte hatte ich in den vergangenen Jahren viel Freude, ohne zu wissen, dass Julian Barnes auch Sachbücher schreibt. Sein neuestes, Der Mann im roten Rock, konnte ich nun lesen, mit großer Hochachtung vor Barnes‘ enormem Quellenstudium sowie seiner Gabe, Mosaiksteine der Geschichte gekonnt zu einem Gesamtbild anzuordnen und unzusammenhängende Fäden scheinbar spielerisch zu verweben. Allerdings ist der Gegenstand des Buches nicht in erster Linie, der französische Chirurg und Frauenarzt Dr. Samuel Jean Pozzi (1846 – 1918), der diese beiden Fachrichtungen in seinem Heimatland revolutionierte, sondern vielmehr die Gesellschaftsschicht, in der er sich bewegte: die „ferne, dekadente, hektische, gewalttätige, narzisstische und neurotische“ Belle Époque zwischen 1870 und 1914. Duelle und Attentate, Tratsch, Klatsch und Gerüchte, sexuelle Orientierungen, Kunst, Literatur, Sammlerleidenschaft, Mäzenaten- und Dandytum, Aufschneiderei und Exzentrik, Freundschaften und Feindschaften, Ehen und Liebschaften und immer wieder Vergleiche zwischen Frankreich und Großbritannien, all das interessiert Julian Barnes ungleich mehr als antiseptische Operationsverfahren oder politische Entwicklungen.

© B. Busch

Wie elegant er allerdings darüber schreibt, ließ mich zunehmend vergessen, dass ich eigentlich mehr über die Meilensteine der Medizingeschichte erfahren wollte, ähnlich wie in der detailreichen Biografie Der Horror der frühen Medizin von Lindsey Fitzharris über Pozzis Zeitgenossen und Vorbild Joseph Lister, die als Medizinhistorikerin völlig andere Interessen bedient.

Panorama einer Epoche
Erstmals begegnete Julian Barnes dem „Mann im roten Rock“ 2015 in der National Portrait Gallery in London auf dem 1881 entstandenen Gemälde Dr. Pozzi at Home von John Singer Sargent, das als Ausschnitt das Cover ziert. Seine Neugier war geweckt. Ausgehend von einer Bildungs- und Einkaufsreise, die Pozzi im Jahr 1885 mit dem Prinzen Edmond de Polignac und dem Grafen Robert de Montesquiou-Fezensac nach London unternahm, katapultiert uns Barnes in das Leben der Pariser High Society. Vor allem der Graf, ein mäßig erfolgreicher Romancier, homosexueller Dandy und Exzentriker, nimmt viel Raum ein. Er war Vorbild für mehrere Romanfiguren, darunter die Hauptfigur in Joris-Karl Huysmans‘ Roman Gegen den Strich (der wiederum eine Rolle in Oscar Wildes Das Bildnis des Dorian Gray und beim Prozess gegen ihn spielte), und im Werk von Marcel Proust. Aber auch die Brüder Goncourt, die Familie Proust, Paul Hervieu, Lucien Daudet, Sarah Bernhardt, Guy de Maupassant, Jean Lorrain, Claude Monet, Alexandre Dumas d. J. und viele, viele andere tauchen als Freunde, Feinde, Patienten oder Geliebte Pozzis auf. Von allen gibt es Abbildungen, häufig Schokoladenbildchen der Firma Potin, in diesem opulenten, auf hochwertigem Papier gedruckten und doch überraschend preiswerten Band.

Ein Tausendsassa
Samuel Pozzi, Nachfahre italienischer Protestanten aus der Dordogne und mit einer englischen Stiefmutter zweisprachig aufgewachsen, war Begründer der französischen Gynäkologie, erster Lehrstuhlinhaber, Lehrbuchautor, Kosmopolit, Modearzt und für medizinische Neuerungen aus aller Welt aufgeschlossen, aber auch Kunstsammler, Senator, Dreyfusien und Salonlöwe. Er setzte sich für den medizinischen Fortschritt und für schonende, ganzheitliche Behandlungsformen ein, schreckte aber nicht vor Affären mit Patientinnen zurück. „Pozzi war überall“, wie Barnes wiederholt betont, um dann gelegentlich augenzwinkernd einzuschränken: „Pozzi war doch nicht überall“.

Anders – aber gut
Auch wenn mir zu Beginn falsche Erwartungen und ein zunächst verwirrendes Füllhorn von Akteuren und eher amüsante als wissenswerte Anekdoten den Einstieg erschwerten, so steckten mich doch Barnes‘ Begeisterung, sein Humor, seine (Selbst-)Ironie und sein Spiel mit Wissen und Nichtwissen zunehmend an. Nicht nur, aber auch aufgrund seines Mottos: „Chauvinismus ist eine Erscheinungsform der Ignoranz“ ist der weltoffene Pozzi für den überzeugten Europäer und Brexit-Gegner Barnes „so etwas wie ein Held“.

Julian Barnes: Der Mann im roten Rock. Aus dem Englischen von Gertraude Krueger. Kiepenheuer & Witsch 2021
www.kiwi-verlag.de

 

Weitere Rezension zu einem Roman von Julian Barnes auf diesem Blog:

Monika Helfer: Vati

  Die Familiengeschichte geht weiter

In hohem Alter erzählte Tante Kathe der Nichte Monika Helfer die Geschichte ihrer Familie mütterlicherseits mit der Auflage, sie erst nach ihrem Tod für einen Roman zu verwenden. Unter dem Titel Die Bagage war er eines meiner Lese-Highlights 2020. Die bitterarmen Lebensverhältnisse, in denen die Familie Moosburger als verachtete „Bagage“ im hintersten Bregenzerwald lebte, und das Schicksal ihrer Mutter Grete als vermeintliches Kuckuckskind erzählte Monika Helfer äußerst knapp, mit Unschärfen, ohne Dramatisierung oder Pathos und ebenso lebendig wie elegant.

© B. Busch

In ihrem neuen Roman, Vati, steht nun ihr Vater Josef im Mittelpunkt. Man muss den Vorgängerband nicht kennen, da alle notwendigen Informationen kurz zusammengefasst werden, trotzdem macht es mit Vorkenntnissen noch mehr Spaß. Ich habe mich jedenfalls sehr gefreut, so viele „alte Bekannte“ wiederzutreffen.

Anders ist bei diesem neuen Buch das Schöpfen aus eigenen Erinnerungen. Darüber hinaus hat Monika Helfer ihre Stiefmutter befragt – und auf deren Wunsch bis nach ihrem Tod mit dem Schreiben gewartet – und eigene Erinnerungen mit denen ihrer beiden Schwestern verglichen.

Auf und ab
Die Lebensumstände ihres Vaters als unehelich geborener Sohn einer Magd im Lungau waren ähnlich prekär wie die der Mutter. Allerdings nahm sich ein Pfarrer des begabten Jungen an und sorgte dafür, dass er in Salzburg Aufnahme ins Gymnasium und Schülerwohnheim fand. Schon damals fiel seine ungewöhnliche Liebe zu Büchern auf, die ihn ein Leben lang begleitete.

Ein halbes Jahr vor der Matura erhielt er die Einberufung und verlor in Russland ein halbes Bein und viele Hoffnungen. Weder über seine Kindheit noch über den Krieg sprach der Vater, eher schon, wie er im Lazarett die Mutter kennenlernte. Völlig mittellos lebten die beiden zunächst bei der „Bagage“.

Ab 1955 leitete der Vater das Kriegsversehrtenheim auf der Tschengla, rückblickend ein Paradies für die 1947 geborene zweite Tochter Monika Helfer. Fast wäre ihm seine rücksichtslose Büchersucht dort zum Verhängnis geworden. Als das Unglück abgewendet war, starb die zeitlebens zurückgezogene, den Alltagsanforderungen nicht gewachsene Mutter und Monika Helfer kam mit ihrer älteren Schwester Gretel und der jüngeren Schwester Renate zur Tante Kathe:

Ohne Mutti ist ohne Würde. Sie konnte nicht kochen, aber sie war unsere Würde. Natürlich wusste ich damals nicht, was dieses Wort bedeutete, aber heute weiß ich es. Alle wissen: Die Gretel und ich sind noch dazu nur untergestellt bei den Armen, wir sind sogar noch ärmer als die Armen, die Ärmsten der Armen sind unsere Wohltäter. (S. 109)

Wenn die Not am größten ist, greift die „Bagage“ ohne viele Worte ein:

Tante Kathe sagte: „Es geht niemand verloren.“ Diesen Satz habe ich später sehr oft von ihr gehört. (S. 111)

Zuletzt vermitteln sie dem Vater sogar eine neue Frau und eine Stelle. Die vier Kinder bekommen wieder ein Zuhause:

Das waren trotz allem schöne Abende. Das Paradies waren sie nicht, das war oben, 1220 Meter über dem Meer, für uns nicht mehr erreichbar. (S. 117)

Große Literatur auf nur 172 Seiten
Es ist bei weitem nicht nur die anrührende Lebensgeschichte des Vaters, die Monika Helfer „mehr wahr als unwahr“ (S. 9) in puzzleartigen Versatzstücken erzählt. Es ist ihre eigene Geschichte bis zur Gegenwart und eine Reflexion über das Schreiben und Erinnern, letzteres am greifbarsten in der Übergangsphase zwischen Wachsein und Schlaf. Vor allem aber ist es wieder ein großes Stück Literatur.

Monika Helfer: Vati. Carl Hanser 2021
www.hanser-literaturverlage.de

 

Weitere Rezension zu einem biografischen Roman von Monika Helfer auf diesem Blog:

Tove Ditlevsen: Kindheit

  Der Zwang zu schreiben

Die dänische Schriftstellerin Tove Ditlevsen (1917 – 1976) ist hierzulande leider bisher viel weniger bekannt als in ihrem Heimatland. Nach ihrem Selbstmord trauerten Tausende vor allem Däninnen an ihrem Sarg, während nur wenige ihrer Bücher überhaupt je ins Deutsche übersetzt worden waren. Von der Kopenhagen-Trilogie, die der Aufbau Verlag in sehr ansprechender Aufmachung  im Januar und Februar 2021 auf den Markt bringt, gab es nur den dritten Teil, der nun unter dem Titel Abhängigkeit neu übersetzt wurde. Die beiden ersten Bände, Kindheit und Jugend, erscheinen dagegen erstmals auf Deutsch.

© B. Busch

Schreiben als Therapie
Gerade einmal 115 Seiten umfasst Kindheit, den ich fast ohne Unterbrechung lesen musste, so stark ist der Sog dieser aus kindlicher Perspektive, ohne erläuternde Zusätze, erzählten Erinnerungen. Tove Ditlevsen schrieb die beiden ersten Teile, die 1967 erstmals erschienen, während eines Aufenthalts in einer Entzugsklinik auf ihrer Schreibmaschine. Kindheit reicht von den frühesten Erinnerungsschnipseln bis zum Alter von 14 Jahren, als die begabte Schülerin die Schule beenden und eine Stelle als Hausmädchen antreten muss.

Schutzhülle aus Wörtern
Dazwischen liegen prekäre Jahre in einer Hinterhaus-Zweizimmerwohnung im Kopenhagener Arbeiterstadtteil Vesterbro, ohne Rückzugsmöglichkeit und ohne die Möglichkeit, das wertvolle Poesiealbum mit den ersten eigenen Gedichten vor den Augen des spottenden Bruders zu verbergen. Die Liebe zur Literatur stammt vom Vater, Sozialist, Gewerkschafter und während der Weltwirtschaftskrise arbeitslos gewordener Heizer, der ihr Grimms Märchen schenkt, jedoch Gedichte als Schwärmerei verachtet und ihr als Mädchen jede Möglichkeit einer Zukunft als Dichterin abspricht. Dabei sind Wörter schon früh ihre Mauer gegen die unberechenbare, distanzierte Mutter:

Ich trug die Tassen in die Küche, und in meinem Inneren krochen lange, merkwürdige Wörter hervor und legten sich wie eine Schutzhülle über meine Seele. Ein Lied, ein Gedicht, etwas Linderndes, Rhythmisches und unendlich Melancholisches, das jedoch nie so leidvoll und traurig war, wie es der Rest meines Tages unweigerlich sein würde. Wenn mich diese hellen Wogen von Wörtern durchströmten, wusste ich, dass meine Mutter mir nichts mehr anhaben könnte, denn in diesem Moment hörte sie auf, für mich von Bedeutung zu sein. (S. 8)

Schreiben gegen Trauer und Sehnsucht
Während einer Kindheit, die nicht zu ihr passt, die „lang und schmal wie ein Sarg [ist], aus dem man sich nicht allein befreien kann“ (S. 31), die „winselt wie ein kleines Tier, das man in einen Keller eingesperrt und vergessen hat“ (S. 34) und die an ihrem Ende „dünn und platt wie Papier“ (S. 73) wird, werden ihr die Liebe zur Literatur und der Glaube an das eigene Talent zum Rettungsanker:

Doch selbst wenn sich niemand sonst für meine Gedichte interessiert, bin ich gezwungen, sie zu schreiben, denn sie dämpfen die Trauer und Sehnsucht in meinem Herzen. (S. 107)

Und doch ein Roman
Tove Ditlevsen hat für ihr Schreiben immer aus dem Vorrat eigener Erinnerungen geschöpft. Indem sie das Geburtsdatum ihrer Ich-Erzählerin jedoch um exakt ein Jahr nach hinten verlegte, macht sie deutlich, dass es sich trotz allem um einen – wenngleich autofiktionalen – Roman handelt.

Was für eine lohnende Entdeckung eines über 50 Jahre alten modernen Klassikers, dessen klare, ebenso anrührende wie unsentimentale Erzählweise mit den treffsicheren Bildern mich sogleich gepackt hat. Ein Glück, dass wir nicht lange auf die Folgebände warten müssen!

Tove Ditlevsen: Kindheit. Aus dem Dänischen und mit einem Nachwort von Ursel Allenstein. Aufbau 2021
www.aufbau-verlag.de

Elena Ferrante: Das lügenhafte Leben der Erwachsenen

  Oben und unten

Nach dem Welterfolg ihrer Neapolitanischen Saga in Form einer Tetralogie ist Das lügenhafte Leben der Erwachsenen der erste neue Roman der immer noch geheimnisumwitterten italienischen Autorin Elena Ferrante. Zwischendurch veröffentlichte der Suhrkamp Verlag ihre älteren Romane, die mir unterschiedlich gut gefielen. Auch das neue Buch reicht in meinen Augen nicht ganz an die Tetralogie heran, doch ist Ferrantes knapper, kompromissloser und lakonischer Stil unverkennbar. Parallelen gibt es bei der erneut weiblichen Ich-Perspektive, der Erzählweise aus der Rückschau, dem Thema Bildung als Mittel zum gesellschaftlichen Aufstieg und vor allem Neapel als Handlungsort. Allerdings spielt der neue Roman in den 1990er-Jahren und nur während der kurzen Zeitspanne von drei Jahren. Im Zentrum steht ein jugendliches Innenleben, es fehlt der historisch-politische Kontext, der die Tetralogie besonders auszeichnete.

Ende der Gewissheit
Mit knapp 13 hadert Giovanna mit ihrer beginnenden Pubertät und den damit verbundenen körperlichen Veränderungen: 

Mein einziger Trost in dieser Zeit, meine einzige Gewissheit, war, dass mein Vater absolut alles an mir liebte. (S. 13)

 Eine zufällig belauschte Bemerkung lässt jedoch ihre Welt zusammenbrechen: 

Zwei Jahre bevor mein Vater von zu Hause wegging, sagte er zu meiner Mutter, ich sei sehr hässlich. Der Satz wurde leise gesprochen, in der Wohnung, die sich meine Eltern, frisch verheiratet, im Rione Alto, oben in San Giacomo dei Capri, gekauft hatten. (S. 9)

Dabei waren die Worte des Vaters eigentlich andere. Doch seine Aussage, sie gleiche nun immer mehr seiner älteren Schwester Vittoria, musste Giovanna so interpretieren, denn Vittoria ist sein verhasstes Schreckgespenst. Sie, die Putzfrau, hat es nie aus dem Viertel der Unterprivilegierten herausgeschaffte. Giovannas Eltern dagegen arbeiteten sich durch Bildung nach oben, wohnen in gehobener Lage, sind Gymnasiallehrer und der Vater obendrein ein angesehener Intellektueller.

Zwei Welten
Giovannas Neugier ist geweckt und damit ihr Wunsch, die geheimnisvolle Tante zu treffen. Fortan lernt sie ein neues Neapel kennen und bewegt sich in zwei gänzlich unterschiedlichen Welten Neapels: der höher gelegenen, bürgerlich-geordneten, von Klassendünkel geprägten des Rione Alto mit den links-intellektuellen Ansichten ihrer Eltern und deren Freunde und der unten liegenden, schmutzig-chaotischen, vulgären der Zona Industriale mit ihren unverblümt und im derben Dialekt redenden Bewohnerinnen und Bewohnern. Vittoria mit ihrer eigenen Version der Familiengeschichte bleibt nicht ihre einzige Bekanntschaft dort. Schnell lernt Giovanna, was sie bisher nicht konnte: lügen und heucheln wie die Erwachsenen. Zuerst ist es die Mutter, deren Verhalten Giovanna nicht zu deuten vermag, dann verlässt der Vater wegen einer langjährigen Geliebten die Familie. Weil die Erwachsenen mit sich selbst beschäftigt sind, muss Giovanna sich alleine zurechtfinden. Als scharfsinnige Beobachterin beider Welten zieht sie Schlüsse aus deren Verhalten, erkennt Scheitern und Verrat, in dessen Mittelpunkt immer wieder ein Armband steht. Ein neu entstehender Kompass hilft ihr, die Fehler der Erwachsenen zu vermeiden. Ihr Weg aus den Selbstzweifeln in die Emanzipation soll selbstbestimmt sein:

Ich habe es satt, den Worten anderer ausgesetzt zu sein. Ich muss wissen, wer ich wirklich bin und was für ein Mensch ich werden kann […]. (S. 377)

Ungewisse Zukunft
Möglich, dass auch dieser Roman fortgesetzt wird, denn am Ende bricht die 16-jährige Giovanna in eine ungewisse Zukunft nach Venedig auf. Ich wäre gespannt, zu erfahren, wie es weitergeht!

Elena Ferrante: Das lügenhafte Leben der Erwachsenen. Aus dem Italienischen von Karin Krieger. Suhrkamp 2020
www.suhrkamp.de

 

Weitere Rezensionen zu Romanen von Elena Ferrante auf diesem Blog:

Alexander Häusser: Noch alle Zeit

  Zusammen ist man weniger allein

Der Zufall führt die beiden sehr unterschiedlichen Protagonisten des Romans 2019 auf einer Fähre von Dänemark nach Oslo zusammen. Der gut 60-jährige Edvard hat nach dem Tod seiner Mutter Hinweise gefunden, dass sein 1967 an seinem zehnten Geburtstag plötzlich verschwundene Vater Oskar Mellmann nicht tot war, wie seine Mutter Helene ihn glauben machte. Die Spur führt nach Norwegen, wo Oskar, wie er gern erzählte, im Zweiten Weltkrieg als Pilot stationiert war. Erschüttert und voller Wut über das Schweigen der Mutter macht sich Edvard, der nichts als sein Dorf hinter dem Elbdeich kennt, auf die Suche nach der Wahrheit.

Die 30-jährige Berlinerin Alva dagegen ist auf der Flucht vor sich selbst und den Erwartungen an sie. Immer „anders“ als alle anderen, wie durch eine „Scheibe“ vom Leben getrennt und nie von ihrer Mutter angenommen, kann sie ihre eigene Mutterrolle nicht ausfüllen. Sie ist auf der Suche nach sich selbst, auch wenn der vordergründige Anlass der Reise Recherchen für eine Fernsehreportage über magische Orte sind:

Mit den magischen Orten käme Ordnung in ihr Leben – Ordnung und Geld […]. Das war es doch, was ihre Mutter immer von ihr wollte: dass sie wie alle anderen sei. (S. 46) 

Edvard wie Alva sehnen sich nach Halt, Angenommensein, Liebe und einem erfüllten Leben.

Vom Dunkeln ins Helle
Zunächst hatte ich Sorge, dass Edvard, dem die Mutter seit dem Verschwinden des Vaters kein eigenes Leben und kaum Luft zum Atmen ließ, der nie die Kraft zur Befreiung aus ihrer Umklammerung aufbrachte, und der seine große Liebe Elsie aus Pflichtbewusstsein seiner Mutter gegenüber verlor, bei Alva in erprobte Muster fallen und zum „Kümmerer“ würde. Doch im Gegenteil finden beide einen Weg, ihre Projekte zu verbinden und sich gegenseitig zu stützen:

Er öffnete die Augen, sie strich ihm übers Haar und begriff, dass man den anderen auch trösten kann, wenn einem selbst genau so kalt war. (S. 214)

Bei Edvard kehren immer mehr verschüttet geglaubte Erinnerungen zurück und vor allem Alva wächst über sich hinaus:

Es durfte keine Rolle spielen, was sie brauchte, wenn sie gebraucht wurde. (S. 249)

Es bedarf nicht immer der ganzen Wahrheit
Die Reise führt durch die fantastische Landschaft Norwegens von Oslo über den Wasserfall Sputrefossen nach Tromsø, mit der Fähre nach Honningsvåg, nach Kirkeporten, dem Felsen des Nordkaps und Opferstätte der Sami, und auf die vor Bergen liegende Insel Herdla, im Zweiten Weltkrieg Stützpunkt der deutschen Luftwaffe. Sie wird für beide zum Wendepunkt, von dem aus sie verändert heimkehren:

Das Leben verändert sich nicht an einem Tag. Doch eines Tages weiß man, dass es sich verändert hat. (S. 216)

Unbedingt lesenswert
Acht Jahre lang hat der 1960 geborene Autor Alexander Häusser an seinem vierten, von eigenen biografischen Ereignissen beeinflussten Roman Noch alle Zeit gearbeitet und dafür spürbar gründlich recherchiert. Historischer Hintergrund und Einzelschicksal sind hervorragend verbunden, die spannende Handlung ruhig und einfühlsam erzählt, die stimmigen Bilder, Metaphern und Motive lohnen ein gründliches Lesen und Wiederlesen. Haupt- und Nebenfiguren sind glaubhaft und mehrdimensional, so dass ich mehrfach vorschnelle Urteile revidieren musste, jedes Schicksal berührt, jedoch völlig ohne Kitsch. Besonders gut gefallen hat mir das Ende mit der perfekten Balance zwischen Auserzählen und Offenlassen.

Alexander Häusser: Noch alle Zeit. Pendragon 2019
www.pendragon.de

 

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Brian Sewell: Pawlowa oder Wie man eine Eselin um die halbe Welt schmuggelt

  Very british und leicht schräg

Seit wir im Sommer 2020 zwei wundervolle Wochen in einem Ferienhaus  mit dem Namen „Les trois ânes“ im Béarn verbrachten, bin ich bekennende Esel-Liebhaberin. Maximus, Raffa und Milly waren ebenso unterhaltsame wie anschmiegsame und angenehme Nachbarn, dankbar für jedes Grünzeug oder für Streicheleinheiten. Ein Buch über einen ganz besonderen Eselfreund müsste deshalb genau zu mir passen, meinte meine Freundin, und traf mit Pawlowa oder Wie man eine Eselin um die halbe Welt schmuggelt von Brian Sewell voll ins Schwarze.

Maximus, Raffa und Milly. © M. A. Busch
Maximus macht eine Rolle. © M. Busch

 

 

 

 

 

 

Ein verrückter Einfall
Mr B, ein sehr englischer, kleiner und drahtiger Gentleman von 50 Jahren, Spezialist für antike Geschichte mit Schwerpunkt Alexander der Große, Liebhaber von Büchern und Teppichen, erblickt bei Dreharbeiten im chaotischen Stoßverkehr von Peschawar ein viel zu schwer beladenes, verängstigtes Eselsfohlen. Spontan beschließt der Tierfreund zum Entsetzen des Filmteams, mit Pawlowa, wie er das Tier wegen seiner langen Beine in Erinnerung an die russische Ballerina Anna Pawlowa später nennen wird, zu Fuß nach England zurückzukehren:

„Was sollen wir den Leuten sagen, wenn wir wieder in London sind?“ fragte der Regisseur […].
„Die Wahrheit: dass ich eine kleine Eselin gefunden habe und mit ihr zu Fuß nach Hause gehe.“
„Sie sind verrückt“, sagte der Regisseur.
„Mag sein“, sagte Mr. B. „Aber es ist eine anständige Art von Verrücktheit, zu der Sie nicht fähig sind. […]“ (S. 13/14)

© B. Busch

Es wird ein langer, abenteuerlicher Weg, aber Fußmärsche bleiben ihnen weitgehend erspart und sie brauchen nur gut 30 Tage für die gut 4000 Meilen. Überall treffen sie auf verständnisvolle, hilfsbereite und gastfreundliche Menschen, Apotheker, Buchhändler, Teppichverkäufer, Diplomaten, Bus- oder Lieferwagenfahrer, Botschaftschauffeur, Schaffner oder Camper, bis sie schließlich den letzten Teil der Reise im bequemen Rolls Royce des schottischen Antiquars Hector zurücklegen können. Nur einmal droht Gefahr, als sie einem Heroinschmuggler über die pakistanisch-iranische Grenze als Tarnung dienen, aber davon ahnen sie glücklicherweise nichts. Sie schlafen an ungewöhnlichen Orten, genießen die Landesküchen (wobei es „Handkäs mit Musik“ wohl im Rhein-Main-Gebiet, nicht aber in Karlsruhe gibt!), genießen die abwechslungsreiche Natur und die Kulturen ihrer Gastländer.

30 gemeinsame Jahre sind ihnen anschließend noch in Mr Bs Villa in Wimbledon vergönnt, bis sie beide hochbetagt sterben und Mrs B ihre Geschichte zu Papier bringt.

Wiedergutmachung in Buchform
„Mit einem schlechten Gewissen wegen jenes Esels in Peschawar“, wie es in der Widmung des Büchleins zu lesen ist, hat der laut Guardian „berühmteste und umstrittenste“ Kunstkritiker und Kolumnist Großbritanniens und große Tierfreund Brain Sewell (1931 – 2015) diesen kleinen Roman kurz vor seinem Tod verfasst. Es ist die anrührende Geschichte eines Mannes mit großer Tier- und Menschliebe, mit Mut, Selbstlosigkeit, Gottvertrauen und einer gesunden Portion Naivität, charmant-altmodisch und mit viel britischem Humor erzählt. Die wirklich entzückenden, mit einem Augenzwinkern gezeichneten kleinen Schwarz-Weiß-Zeichnungen stammen von der Cartoonistin Sally Ann Lasson. Vermisst habe ich lediglich eine Landkarte, die es nur in der englischen Originalausgabe The White Umbrella gibt, benannt nach Mr Bs wichtigstem Utensil.

Wen dieses zauberhafte Büchlein nicht anrührt, hat kein Herz für Tiere und Sonderlinge und hatte sicher noch nie einen Esel als Nachbarn.

Brian Sewell: Pawlowa oder Wie man eine Eselin um die halbe Welt schmuggelt. Aus dem Englischen von Claudia Feldmann. Insel 2017
www.suhrkamp.de