Wiebke von Carolsfeld: Das Haus in der Claremont Street

Weiterleben nach dem Undenkbaren

Das Haus in der Claremont Street, Debütroman der Deutsch-Kanadierin Wiebke von Carolsfeld, beginnt mit einem erschütternden Ereignis: Der neunjährige Tom wird Zeuge, wie sein Vater zuerst die Mutter Mona mit einem Golfschläger tötet und sich dann erschießt. „Wir sterben“ kann Tom dem Notruf noch mitteilen, dann verstummt er für lange Zeit.

Tom ist nicht der einzige trauernde Hinterbliebene in der Einwandererfamilie Michailovitsch. Genau wie er sind auch Monas drei Geschwister, die schon vor der Tragödie mit zahlreichen Problemen zu kämpfen hatten, nicht nur zutiefst erschüttert, sie werden auch aus unterschiedlichen Gründen von großen Schuldgefühlen gequält. „Unglaublich-verantwortungsbewusst-wenn-auch-ein-bisschen-langeweilig-Sonya hat nach dem Selbstmord der Mutter ihre jüngeren Geschwister aufgezogen, ist verheiratet, beruflich erfolgreich, leidet jedoch unter ihrem unerfüllten Kinderwunsch. „Du-kannst-doch-so-nicht-in-aller-Öffentlichkeit-rumlaufen-Rose“ ist komplett chaotisch, alleinerziehend und lebt mit ihrem pubertierenden Sohn im ehemaligen kleinen Elternhaus in der Claremont Street im Zentrum von Toronto. „Warum-bist-du-schon-wieder-von-der-Schule-geflogen-Will“ (S. 160), 30-jähriges Nesthäkchen und Weltenbummler, ist nie erwachsen geworden. Trotz guten Willens kann sich niemand adäquat um Tom kümmern, denn durch die neue Situation sind die alten Konflikte und Probleme lediglich überlagert, keineswegs gelöst. Ganz im Gegenteil werden neue Baustellen eröffnet – zum Nachteil Toms.

Verschiebung des Schwerpunkts
Dieser Umstand ist zugleich mein Hauptkritikpunkt an dem leicht lesbaren Roman: Anstatt um das traumatisierte Kind, geht es mir viel zu sehr um die nur bedingt interessanten Geschichten der Erwachsenen, angefangen bei Beziehungsproblemen und –problemchen, Lügen, Betrug, unsozialem Verhalten und Spielsucht bis hin zu einem chronisch verstopften Wasserabfluss. Wären da nicht eine fähige Psychotherapeutin und ein wohlwollender Sozialarbeiter, um Toms Genesungsaussichten stünde es sehr schlecht. Zum Glück erkennen Tanten und Onkel das nach einem knappen Jahr selbst:

Wenn Tom eine Chance haben sollte, wenn sie alle eine Chance haben wollten, dann mussten sie lernen, dass eine Familie aus mehr bestand als nur aus Trauer und Verrat. (S. 323)

Damit wendet sich, wenn auch plötzlich, erfreulicherweise für alle das Blatt. Der kurze Ausblick in Toms Zukunft war mir dann aber eindeutig zu viel Happy End. Zwar habe ich den Roman alles in allem nicht ungern gelesen, aber er ging mir trotz der dramatischen Ausgangssituation unerwartet wenig nahe. Vielleicht waren meine Erwartungen nach dem starken Anfangskapitel mit der Schilderung des tödlichen Familiendramas aus Kindersicht einfach zu hoch. Erfüllt wurden sie nur, wenn Tom im Fokus stand – und das war leider zu selten.

© B. Busch

Ein Betrag zum kanadischen Gastlandauftritt
Dass die Autorin Wiebke von Carolsfeld vor ihrer Auswanderung nach Kanada und erfolgreichen Karriere als Filmemacherin einst ihre Ausbildung zur Verlagskauffrau bei Kiepenheuer & Witsch machte, ist eine schöne Geschichte am Rande. Inzwischen schreibt sie auf Englisch und ihr Roman wird im Katalog Kanadas zum Gastlandauftritt 2020/21 auf der Frankfurter Buchmesse geführt.

Ein Wort noch zur Herstellung: Mit dem gelungenen Cover fällt das Buch positiv ins Auge. Nicht wertig wirkt dagegen das gelbstichige, leicht reißende Papier mit wenig Kontrasten bei schlechter Beleuchtung.

Wiebke von Carolsfeld: Das Haus in der Claremont Street. Aus dem Englischen von Dorothee Merkel. Kiepenheuer & Witsch. 2020
www.kiwi-verlag.de

 

Weitere Rezensionen zu Büchern auf diesem Blog, die anlässlich des  Gastlandauftritts von Kanada auf den Frankfurter Buchmessen 2020/2021 erscheinen:

      

Donal Ryan: Die Stille des Meeres

  Von Bäumen, Inseln und menschlichen Schicksalen

 Ich erzähle dir etwas über Bäume. […] Sie sprechen über unterirdische Gänge miteinander, die Pilze von ihren Wurzeln aus gebahnt haben, sie senden Zelle für Zelle ihre Nachrichten, und das mit einer Geduld, die wohl nur ein Lebewesen aufbringt, das sich nicht vom Fleck rührt. (S. 9)

 

Die ersten Sätze des Romans Die Stille des Meeres bereiten die zentrale Aussage des irischen Autors Donal Ryan vor: Das Ganze besteht aus vermeintlich Unverbundenem, einzelne Bäume ebenso wie einzelne menschliche Schicksale, so weit sie auch auseinanderliegen mögen. Dabei ist die Verbindung oft für das Auge unsichtbar. Im letzten der vier Teile des Buchs mit dem Titel Seeinseln wird der Gedanke noch einmal aufgegriffen und das unterirdische Geflecht für uns ans Tageslicht geholt.

 

© B. Busch

Teil eins bis drei: Drei Leben
Doch bevor die Verbindungen der drei Protagonisten sichtbar werden, ist jedem von ihnen ein eigener Teil des Romans gewidmet, jeweils mit einer eigenen Erzählstimme. Farouk, der syrische Arzt, vertraut im ersten Teil nach dem Eindringen des IS in seine Heimatstadt sein Leben, das seiner christlichen Frau und seiner vergötterten Tochter gewissenlosen Schleusern an. Farouks Geschichte ist mit Abstand am besten gelungen, atemlos, sparsam und poetisch erzählt, tief erschütternd und zu Herzen gehend traurig.

Lampy, ein 23-jähriger Ire, uneheliches Kind eines ihm unbekannten Vaters und dafür gehänselt, lebt bei seiner Mutter und seinem Großvater. Er ist nie richtig erwachsen geworden, lässt sich orientierungslos treiben und jobbt nach einem missglückten Studienversuch als ungelernte Hilfskraft im Altenheim. Liebeskummer, unkontrolliertes Aggressionspotential und tiefe Traurigkeit zerreißen ihn. Er sehnt sich nach einem Neuanfang, wo ihn niemand kennt, und ist doch zu schwach dafür. Der zweite Teil über Lampy ist direkter, in Umgangssprache und teils mit Humor erzählt.

Gänzlich unsympathisch, trotz bemitleidenswerter Kindheit, ist als dritte Hauptfigur der erfolgreiche Chef einer irischen Beraterfirma und durchtriebene Lobbyist John. Er manipuliert und vernichtet Menschen gnadenlos. Obwohl nicht religiös, erfahren wir seinen ungeschönten Lebensbericht in Form einer Beichte aus der Ich-Perspektive. Trotz seines kometenhaften beruflichen Aufstiegs war das private Glück nur einmal kurz zum Greifen nah.

Teil vier: Unterirdische Gänge
Am Ende des dritten Teils war ich ratlos bezüglich des verbindenden Elements zwischen den Protagonisten. War es, dass sie einmal in ihrem Leben den Tod vor Augen hatten? Dass sie alle eine große Liebe verloren und eine unbestimmte Sehnsucht sie antrieb? Dabei hätte ich mich nur an die Bäume vom Beginn erinnern müssen: Auch zwischen Farouk, Lampy und John bestehen unsichtbare Verbindungen, überaus kunstvoll konstruiert, unwahrscheinlich zwar, aber für mich nicht zu unglaubwürdig, wenn man sich die Geschichte rückwärts erzählt vorstellt. Mit dem vierten Teil bekamen nun plötzlich auch vermeintlich unbedeutende, unverständlich ausführlich erzählte Episoden aus den vorhergehenden Abschnitten einen Sinn.

Ein komplexes Buch
Eine lohnende Lektüre also, auch wenn der erste und letzte Teil für mich wesentlich stärker waren als die beiden in der Mitte. Vielleicht lese ich die komplexe Sammlung dieser einzelnen, miteinander verbundenen Geschichten, mit der Donal Ryan 2018 auf der Longlist des Man Booker Prize stand, sogar irgendwann noch einmal, denn so manches habe ich beim ersten Lesen garantiert übersehen.

Donal Ryan: Die Stille des Meeres. Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll. Diogenes 2021
www.diogenes.ch

 

Weitere Rezensionen zu Romanen von Donal Ryan auf diesem Blog:

  

Thomas de Padova: Nonna

  Mehr als nur ein berührendes Porträt der italienischen Großmutter

Ab den 1960er-Jahren entwickelte sich Italien mehr und mehr zum Traum-Urlaubsziel vieler Deutscher, die nun in Scharen an den „Teutonengrill“ nach Rimini fuhren. Auch der 1965 in Neuwied geborene Physiker, Astronom, Wissenschaftsjournalist und Autor Thomas de Padova verbrachte die ersten fünfzehn Sommer seines Lebens Italien, allerdings aus ganz anderen Gründen: Sein Vater war italienischer Gastarbeiter aus Apulien. Es waren Besuche im vom unwegsamen Gargano-Gebirge umringten 6000-Seelen-Dorf Mattinata bei der um 1914 geboren Nonna, die ihm als Kind unheimlich erschien:

Meine Nonna trägt immer Schwarz. Seit ich denken kann. Wenn ich sie im Sommer in Süditalien besuche, habe ich kurzärmelige Hemden und Shorts, Badehose und Flip-Flops in meinem Koffer. In Mattinata, dem Geburtsort meines Vaters, erwarten mich Sonne, Meer und weiße Adriastrände. Und meine Nonna in schwarzer Kluft. […]
Sie kam mir wie ein Relikt aus der Vergangenheit vor, eine Frauenfigur, die mir unbekannte Zeiträume durchlebt hatte, eine Hüterin dunkler Erinnerungen. (S. 11 u. 12)

© B. Busch

Hüterin der Familiengeschichte
Erst als Student lernte Thomas de Padova Italienisch, später den aussterbenden Dialekt seiner Nonna, um ihr dadurch näher zu kommen. Nur sie als einzige Überlebende, die niemals eine Schule besuchte, Analphabetin war, alles in Schonbezüge packte und kaum aus dem Haus ging, konnte ihm von seinen Vorfahren erzählen. Behutsam, geduldig und mit viel Einfühlungsvermögen entlockte Thomas de Padova ihr angesichts des lauernden Todes lückenhafte Teile seiner Familiengeschichte.

Nonna ist deshalb auch sehr viel mehr als ein berührendes Bild einer alten Frau, die sich nie von den Traditionen entfernte, Mattinata nie verließ und die, hätte sie noch einmal wählen können, lieber ins Kloster gegangen wäre. Thomas de Padova erzählt von vier Generationen, von Auswanderung in die USA, später nach Deutschland, und manchmal Rückkehr, von Bleiben und Warten, von Entbehrungen und der Mühsal des Überlebens in einer der ärmsten Gemeinden Italiens, von familiären Schicksalsschlägen und der Ursache für die unglückliche Ehe der Großeltern und ganz nebenbei auch über sich selbst. Wenn er jedes Jahr die 1700 Kilometer zwischen Berlin und Mattinata zurücklegte – und auch heute, nach dem Tod der Nonna, noch dorthin reist –, so lag und liegt das weniger an der berauschend schönen Landschaft:

Denn nicht als Tourist komme ich hierher, sondern weil sich ein Teil meines Lebens um dieses Zentrum dreht, weil ich irgendwie dazugehören möchte zu diesem Dorf und seiner Geschichte, und sei es nur für die Dauer des Sommerurlaubs. (S. 128)

Ein bleibender Leseschatz
Die von Thomas de Padova eindringlich beschriebene entschleunigte Lebensweise in Mattinata hat sich beim Lesen auf mich übertragen. Ich habe mir sehr gerne von den Lebenswegen seiner italienischen Vorfahren erzählen lassen, bin hin- und hergesprungen zwischen Menschen, Orten und Zeiten, um immer wieder zur Nonna nach Mattinata zurückzukehren. Mit dem leisen, gänzlich unaufdringlichen Schreibstil und den vielen kleinen sprachlichen Perlen ist dieses entzückende, bereits 2018 erstmals erschienene und von mir leider erst jetzt entdeckte schmale Buch ein wahrer Leseschatz, weit über die eigentliche Familiengeschichte hinaus.

„Alles ist so gekommen, wie es kommen musste“, sagt sie irgendwann. „Wir haben alle unsere Bestimmung. Jeder von uns.“ (S. 172)

Thomas de Padova: Nonna. Insel 2020
www.suhrkamp.de

Ruth Lillegraven: Tiefer Fjord

  Wie gut kennen wir unsere Nächsten?

Thriller lese ich eher selten, aber hier haben mich Autorin und Übersetzer neugierig gemacht. Ruth Lillegraven lernte ich 2019 beim Gastlandauftritt Norwegens auf der Frankfurter Buchmesse bei einem Kaffeslabberaskennen, damals als Autorin preisgekrönter Lyrik, des Romans Sichel in Form eines Langgedichts und von Kinderbüchern. Dass sie 2018 auch einen Psycho-Thriller geschrieben hat, der nun unter dem Titel Tiefer Fjord auf Deutsch erschien, hat mich bei dieser 1978 geborenen, sehr zurückhaltenden Frau überrascht, ebenso wie Hinrich Schmidt-Henkel als Übersetzer, der beispielsweise die sehr literarischen Romane von Tarjei Vesaas fantastisch ins Deutsche übertragen hat.

© B. Busch

In der Tat ist Tiefer Fjord in vielerlei Hinsicht ein besonderer Thriller. Der norwegische Originaltitel Alt er mitt (Alles ist mein) ist einem Gedicht des schwedischen Literaturnobelpreisträgers Pär Lagerkvist (1891 – 1974) entnommen, den ein Protagonist ahnungsvoll zitiert:

 Alles ist mein, alles wird mir genommen, schon bald wird mir alles genommen. (S. 171)

Risse in der Fassade
Clara Lofthus und Haavard Fougner sind ein junges Vorzeigepaar mit einer Villa im Osloer Westen und Zwillingen. Beide sind beruflich sehr engagiert und erfolgreich, Clara als Juristin im Justizministerium, Haavard als Kinderarzt in Norwegens größtem Krankenhaus Ullevål. Ihre Vergangenheit könnte jedoch unterschiedlicher nicht sein: Während Clara eine traumatisierende Kindheit auf einem Hof in West-Norwegen verbrachte, kam Haavard in Oslo mit dem sprichwörtlichen goldenen Löffel im Mund zur Welt.

Hinter der Fassade ihrer Ehe klaffen tiefe Risse. Für Haavard ist die willensstarke und kompromisslose Clara längst nicht mehr das ungezähmte, erfrischend andere „Naturkind“, sondern die „Eiskönigin“, die seit einem Unfall vor 30 Jahren nicht mehr weinte. Haavard dagegen ist zwar nach außen warm und umgänglich, bei Nähe jedoch kühl. Die Affäre mit seiner Kollegin Sabiya ist nicht seine erste.

Eines verbindet Clara und Haavard jedoch: ihr Engagement gegen Kindesmisshandlung. Clara arbeitet an einem Gesetzesvorschlag zur verschärften Überwachung und Meldepflicht, Haavard wird mit Fällen dieser Art bei der Arbeit konfrontiert. Als wieder einmal ein gewalttätiger, pöbelnder pakistanischer Einwanderer mit seinem sterbenden Kind kommt, will er nicht mehr tatenlos zusehen. Kurze Zeit später ist der Vater tot…

Ein Psycho-Thriller mit ungeheurem Sog
Tiefer Fjord hat genau, was für mich einen Thriller lesenswert macht: eine extrem spannende Handlung mit für mich völlig unvorhersehbaren Wendungen und interessante Themen wie Kindesmisshandlung und Rassismus. Dazu gibt es tiefe Einblicke in den norwegischen Verwaltungs- und Politikbetrieb, den Ruth Lillegraven aus langjähriger Arbeit im Verkehrsministerium bestens kennt, und traumhafte Beschreibungen ihrer Heimat West-Norwegen. Auch die Erzählweise hat mir sehr zugesagt: 75 kurze Kapitel aus der Sicht verschiedener Ich-Erzählerinnen und -Erzähler, meist Clara und Haavard, und verschiedene Zeitebenen bis zurück zu Claras Geburt. Eine völlig untergeordnete Rolle spielt dagegen die Polizei. Alles ist perfekt konstruiert, vielleicht zu perfekt, um wirklich so passiert zu sein, aber das hat mich nicht gestört.

Völlig unverständlich ist für mich allerdings die Wahl des Covers, das keinerlei Bezug zu Titel oder Inhalt hat. Warum nicht ein Fjord oder zumindest Wasser?

Es geht weiter
Da der Thriller als Mehrteiler angelegt ist – der zweite erschien soeben in Norwegen unter dem Titel Av mitt blod –, werden längst nicht alle Handlungsstränge aufgelöst. Hoffentlich geht es auch auf Deutsch bald weiter!

Ruth Lillegraven: Tiefer Fjord. Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel. List 2021
www.ullstein-buchverlage.de

Sien Volders: Norden

  Im Zweifel immer nordwärts

Wie kommt eine junge Belgierin auf die Idee zu einem Roman, der am nördlichen Rand der Zivilisation angesiedelt ist? Die 1983 in Gent geborene Innenarchitektin, Journalistin und Lektorin Sien Volders wurde beim Besuch eines Freundes in Dawson City, gut 200 Kilometer südlich des Polarkreises, zu einer Geschichte inspiriert, die zwischen 1976 und 1988 vorwiegend an der Grenze zwischen Kanada und Alaska spielt, im fiktiven ehemaligen Goldgräberstädtchen Forty Mile, der „einzigen und letzten Stadt nördlich von allem“ (S. 25). Dorthin flieht die erfolgreiche junge Silberschmiedin und Designerin Sarah „Torun“ Aysgarth, als sie überraschend ein Angebot einer großen Schmuckfirma erhält:

Ich wollte weg aus Vancouver. Ich muss nachdenken und eine Entscheidung treffen, und das kann ich am besten unterwegs. Der Norden schien mir eine gute Idee. (S. 41)

Eine Woche ist sie mit ihrem Auto unterwegs, ehe sie in Forty Mile ankommt. Spontan und für sie selbst überraschend bietet ihr die Besitzerin des General Store und der Post, die etwa 60-jährige Witwe Mary Calhoun, ein Zimmer an:

Was war in sie gefahren, diese junge Frau zu sich einzuladen? Ob es am Auto lag? Oder an der Art, wie Sarah von der Reise erzählte? An der Behutsamkeit, mit der sie ihre Worte wählte.
Ein Gefühl des Wiedererkennens. (S. 44)

© B. Busch

Zwei Frauen, vier Männer
Mary, einst erfolgreiche Malerin, kam vor vielen Jahren nach Forty Mile, um ihren Weg zwischen Kunst, Kommerz und Ausstieg zu finden. Wie Sarah traf auch Mary auf zwei Männer, Rick Calhoun und den Trapper Walker, und musste sich entscheiden. Sarah lernt die Freunde Adam und Jacob kennen, beide Zugezogene. Adam ist ein radikaler Künstler, Geiger, der das Royal Conservatory Toronto verließ, als er zum ersten Mal athabaskische Musik hörte, eine Verschmelzung zwischen den Geigenliedern der ersten irischen und schottischen Trapper und der Ureinwohner. Aber er ist nicht für den Norden gemacht: Mit jedem langen, harten Winter stürzt er mehr ab, mit jedem Jahr versinkt er tiefer im Alkohol, wie so viele vor ihm, die ihre Kraft überschätzten. Jacob dagegen kennt die eigenen Grenzen. Er will zukünftig nur noch die Sommer im Norden verbringen und warnt Adam:

Ich habe es satt zu sehen, wie der Norden dich langsam zugrunde richtet. Ich wünschte, du würdest das auch einsehen. (S. 124)

Nordwärts, um sich selbst zu finden
Alle, die nicht in Forty Mile geboren wurden, kamen hierher auf der Suche nach sich selbst. Auf sich zurückgeworfen, muss jede und jeder seinen Knoten am Ende alleine lösen, sich von äußeren Zwängen befreien und entscheiden, welchen Raum die Kunst im eigenen Leben einnehmen soll. Dass man dabei eine neue Heimat oder Heimat auf Zeit, Freunde, Liebe und vieles mehr finden kann, davon erzählt Sien Volders in ihrem Debütroman. Das ist sehr viel Stoff für nicht einmal 300 Seiten und manchmal hätte ich mir mehr Tiefe beim Innenleben der Figuren gewünscht.

Was diese Künstler-, Liebes- und Freundschaftsgeschichte wirklich besonders macht, ist die eindringliche Beschreibung der herben Schönheit Nordkanadas, der Natur, der Jahreszeiten, der Geschichte, der eingeschworenen Gemeinschaft, der Ureinwohner, der Musik, der Legenden und des alltäglichen Lebens am Rande der Zivilisation.

Nordwärts. Im Zweifel immer nordwärts. (S. 251)

Sien Volders: Norden. Aus dem Niederländischen übersetzt von Bettina Bach. Residenz 2020
www.residenzverlag.com

Dorothy West: Die Hochzeit

  Rasse und Klasse

Ausgehend von 24 Stunden vor einer geplanten Hochzeit im Spätsommer 1953 erzählt die schwarze US-Amerikanerin Dorothy West (1907 – 1998) die Geschichte der reichen, zur schwarzen Oberschicht gehörenden Familie Coles über fünf Generationen. Sowohl unter den Vorfahren von Clark Coles, dem Brautvater, als auch denen der Brautmutter, Corinne Coles, finden sich Weiße. Die beiden Töchter, Liz und die Braut Shelby, sind hellhäutig und blond. Umso schockierender für die 98-jährige Urgroßmutter Gram aus altem weißem Südstaatenadel, die bis heute mit der Heirat zwischen ihrer Tochter und dem Sohn einer ehemaligen Sklavin hadert, dass Liz einen dunkelhäutigen Arzt geehelicht hat und Baby Laurie nach dem Vater schlägt. Ihre Hoffnungen ruhen nun auf Shelbys Bräutigam Meade, einem „echten Weißen“. Für Shelbys Eltern steht der weiße Jazzmusiker sowohl außerhalb ihrer Rasse als auch außerhalb ihrer sozialen Schicht.

© B. Busch

Die Hochzeit, benannt nach einem Ereignis, das wir im Buch nicht erleben, war der zweite und letzte Roman von Dorothy West. Sie veröffentlichte ihn 1995, fast 50 Jahre nach ihrem ersten, auf Betreiben ihrer Freundin und Nachbarin Jacqueline Kennedy Onassis. Er  erschien 1996 erstmals auf Deutsch, nun wurde er vom Verlag Hoffmann und Campe wiederentdeckt und in überarbeiteter Übersetzung neu veröffentlicht.

Aufstieg durch Bildung
Fasziniert hat mich die detaillierte Beschreibung des Entstehens der afroamerikanischen Bourgeoisie durch Fleiß, Ehrgeiz, Geschäftssinn, eiserne Sparsamkeit und den Drang nach Bildung für die Nachkommen. Dorothy West kannte dieses Milieu aus eigener Erfahrung, wurde doch ihr Vater noch als Sklave geboren und brachte es nach der Befreiung mit einem florierenden Lebensmittelhandel zu Wohlstand, was der Tochter ein Journalistik-Studium ermöglichte. Auch Martha’s Vineyard, die Insel der Wohlhabenden vor Massachusetts, wo die Familie Coles im Kreise Gleichgesinnter ihre Sommer verbringt, kannte sie genau, da sie dort ab 1943 im Ferienhaus ihrer Familie dauerhaft lebte. Die pointierte, oft ironische Darstellung von plumpem Rassismus einerseits, aber auch Ausgrenzung innerhalb der schwarzen bürgerlichen Gesellschaft, über die ich so noch nie gelesen hatte, sind für mich das Besondere an diesem Roman. Dank des Stammbaums vorn im Buch fällt der Überblick über die fünf Generationen nicht schwer. Viel schwieriger ist es, die feinen Nuancen der so bedeutsamen Hautschattierungen zu erfassen. Dorothy West beschreibt sie mit einer Vielzahl von Farbadjektiven und -vergleichen, die man sehr aufmerksam lesen sollte.

Ein Plädoyer für die Liebe
Die Bemühungen des Außenseiters Lute McNeil, einem erfolgreichen schwarzen Möbeltischler mit drei hellhäutigen Töchtern von drei weißen Frauen, der Shelby unbedingt in letzter Sekunde für sich gewinnen will, sorgen für Spannung. Trotzdem hat mir dieser Erzählstrang nicht so gut gefallen wie die Coles’sche Familiengeschichte. Meine Lieblingsfiguren waren eindeutig die junge Mutter Liz und die zunehmend selbstsicherer auftretende Shelby, die schließlich erkennt:

Die Hautfarbe war eine Scheindistinktion, die Liebe dagegen nicht. (S. 276)

Eine lesenswerte Wiederentdeckung
Die Hochzeit war für mich die lohnende Begegnung mit einer Autorin, die sich nicht als politisch verstand, sondern der Bedeutung von Ethnie im Alltag und komplexen Identitäten nachspürte. Das interessante Nachwort von Diana Evans, deren Roman Leute wie wir ich erst vor einigen Wochen gelesen habe, würdigt sie angemessen.

Dorothy West: Die Hochzeit. Aus dem amerikanischen Englisch von Christa E. Seibicke. Mit einem Nachwort von Diana Evans. Hoffmann und Campe 2021
hoffmann-und-campe.de

Leïla Slimani: Das Land der Anderen

  Die Früchte des Zitrangenbaums

Beim Gastlandauftritt Frankreichs auf der Frankfurter Buchmesse 2017 war die französisch-marokkanische Autorin Leїla Slimani mit ihrem Buch Dann schlaf auch du, für das sie 2016 den Prix Goncourt erhielt, eine bereichernde Entdeckung. Ihr dritter Roman, Das Land der Anderen, ist der erste Band einer Trilogie nach Motiven ihrer eigenen Familiengeschichte.

 

Leїla Slimani wurde 1981 in Marokko geboren, dem Land, in das ihre Großmutter, genau wie die Romanfigur Mathilde, einwanderte. Mathilde folgt ihrem Mann Amine Belhaj, einem marokkanischen Offizier der französischen Armee, den sie bei Kriegsende in ihrem elsässischen Heimatdorf kennenlernte und aus Liebe, Abenteuerlust und Sehnsucht nach Veränderung überstürzt heiratete. Bei der Landung in Rabat am 1. März 1946 dominiert Beklommenheit:

Trotz des hoffnungslos blauen Himmels, trotz der Freude, ihren Mann wiederzusehen, und des Stolzes, ihrem Schicksal entronnen zu sein, war ihr plötzlich mulmig geworden. […] Ihr Mann, dem die Blicke der anderen Passagiere nicht entgingen, küsste sie auf die Wangen. Er packte ihren rechten Arm in einer zugleich sinnlichen wie drohenden Geste. Es schien, als wolle er sie im Zaum halten. (S. 15/16)

Geplatzte Träume
Amine ist in Marokko ein anderer. Zwar liebt er Mathilde und billigt ihr eine andere Stellung als seiner Mutter Mouilala zu, einer streng-traditionellen Muslimin, doch duldet er keinerlei Kritik an heimischen Traditionen und Bräuchen:

„So ist das hier.“
Diesen Satz würde sie noch oft hören. Und genau in dem Moment begriff sie, dass sie eine Fremde war, eine Frau, eine Ehefrau, ein Mensch, der der Gnade der anderen ausgeliefert war. (S. 19)

Auch als sie 1949 ein ererbtes Stück Land beziehen und Amine wie ein Besessener – und zu Beginn mit wenig Erfolg – auf seiner Farm arbeitet, bleibt das Verhältnis zwischen den beiden kulturell grundverschiedenen Partnern angespannt. Die 1947 geborene Tochter Aїcha und der jüngere Sohn Selim wachsen im Dauerstreit der Eltern auf und erleben Gewalt des Vaters gegenüber der Mutter und seiner jüngeren Schwester Selma.

© B. Busch

Niemand fühlt sich zuhause
Nicht nur die französischen Siedler, jeder scheint in diesem Roman im fremden Land zu leben: Mathilde gehört weder zu Marokko, noch zu den Kolonialisten. Bei einem Heimatbesuch 1954 ist sie auch dort eine Fremde. Amine wird für seine Kriegsteilnahme von den eigenen Nationalisten verachtet. Besonders aber leidet Aїcha mit dem blonden Wuschelkopf unter Spott und Quälereien im französisch-katholischen Pensionat:

Denn Aїcha war weder wirklich eine Einheimische noch eine dieser Europäerinnen […]. Sie wusste nicht, was sie war, also blieb sie allein […]. (S. 84)

Symbolhaft ist der Orangenbaum, in den Amine einst einen Zitronenzweig setzte:

„Wir“, sagte er, „sind wie dein Baum, halb Zitrone, halb Orange. Wir gehören zu keiner Seite. […] Während er leise auf den Flur trat und die Tür schloss, dachte er, dass die Früchte des Zitrangenbaums ungenießbar waren. (S. 370/71)

Eine Welt im Untergang
Aus vielerlei Gründen habe ich den Roman überaus gern gelesen und freue mich auf die Fortsetzung. Zum einen sind es die nüchterne, wertfreie Erzählweise, das Einfühlungsvermögen Leїla Slimanis in unterschiedlichste Figuren und die immer wieder wechselnde Perspektive, mit der sie allen gerecht wird. Die Themen Fremdheit und Einsamkeit, männliche Unterdrückung, Gewalt, Emanzipation, Liebe, unerfüllte Träume, Trennendes und Verbindendes, Scham, Hilflosigkeit, Rassismus und koloniale Überheblichkeit lösten abwechselnd Mitgefühl und Wut in mir aus. Die Verbindung aus Einzelschicksalen und dem marokkanischen Unabhängigkeitskampf, der 1956 zur Loslösung von Frankreich führte, ist ausgezeichnet gelungen.

Der Roman endet 1955, als Aїcha ungerührt dem Untergang einer Welt zusieht.

Veranstaltung am 12.07.2021 im Literaturhaus Stuttgart mit Leïla Slimani, zugeschaltet, und dem Autor und politischen Reporter Mohamed Amjahid, moderiert vom Islamwissenschaftler und Übersetzer Stefan Weidner. © B. Busch

Leïla Slimani: Das Land der Anderen. Aus dem Französischen von Amilie Thoma. Luchterhand 2021
www.penguinrandomhouse.de

 

Weitere Rezension zu einem Roman von Leїla Slimani auf diesem Blog:

Dmitrij Kapitelman: Eine Formalie in Kiew

  Zugehörigkeit und Verbundenheit

Migration hört eigentlich nie auf, auch fünfundzwanzig Jahre später wandere ich noch immer nach Deutschland ein… (S. 25)


Alles beginnt mit einem auf einer nach Katzenurin stinkenden Treppe gefassten Entschluss: nach 25 Jahren in Deutschland will Dmitrij Kapitelman einen deutschen Pass und damit schräge Blicke bei der Wohnungssuche vermeiden, Wahlrecht, vereinfachtes Reisen. Der eigentliche Grund aber liegt tiefer: Distanz zu den als jüdische Kontingentflüchtlinge aus der Ukraine eingewanderten Eltern zu erzwingen, zu einer Heute-Mutter im Katzenwahn und einem gebrochenen Heute-Vater.

© B. Busch

 Die Fakten


1994 im Alter von acht Jahren immigriert, deutsch eingeschult, sozialisiert, studiert. Berufstätig, steuerpünktlich, verfassungspatriotisch. Nicht zu vergessen hellhäutig, das bürgert hierzulande besonders verlässlich ein. Stets meine Einkäufe in weniger als sieben Sekunden verstauend, so wie es in diesen Gefilden Brauch ist seit jeher. (S. 8)

Müsste die Einbürgerung nicht eine Selbstverständlichkeit sein? Wer sich noch an Reinhard Meys satirische Ballade Ein Antrag auf Erteilung eines Antragsformulars von 1977 erinnert, ahnt, dass dem nicht so ist. Tatsächlich hat Frau Kunze, die emotionslos-korrekte Sachbearbeiterin bei der Leipziger Ausländerbehörde, nach eineinhalb Jahren(!) Unterlagensammelei noch ein Ass im Ärmel:

„Mir brauch’n jetzt nür nöch eine arneuerde Gebürdsurgünde un eine Abösdille von Ihn’n. […] Doas ist die behördlich Beschdädi[g]ung einör behördlichen Beschdädigung von dar nächsthöheren’n Behörde. […] Die könn’n Sie nur in dar Ukraine krieg’n.“ (S. 14) 

Eine Reise nach Kiew, ins Land der Kindheit, der lockeren Gullydeckel und der Korruption wird nach 17 Jahren unumgänglich, Erinnerungen an eine behütete Kindheit mit einer lebensfrohen, zugewandten Damals-Mutter und einem tatkräftigen Damals-Vater werden lebendig. Es ist eine Rückkehr in ein zugleich vertrautes und doch fremdes Land und eine Begegnung mit überraschend anderen Sichtweisen:

„Was ist das denn für ein System, in dem ihr in Deutschland lebt? Wo man so gar nichts mit persönlichen Kontakten und ein wenig Geld regeln kann? Das ist doch unmenschlich!“ (S. 135)

Verschiebung des Schwerpunkts
Doch nicht die Apostille ist die größte Herausforderung der Reise, denn nach überraschend erfolgreichen Behördengängen verschiebt sich mit der Ankunft des schwer erkrankten Vaters, später auch der Mutter, der Fokus der Geschichte. Die entfremdete Familie ist zum ersten Mal wieder vereint. Höchste Zeit, Grenzmauern einzureißen und die Für-immer-Eltern zu finden.

Signierte Ausgabe. © B. Busch

Lachen und Weinen liegen eng beieinander
Der Journalist und Autor Dmitrij Kapitelman hat in diesem autobiografischen Migrationsroman so viel Witz und tiefe Traurigkeit vereint, dass sich bei der Lektüre unweigerlich Achterbahngefühle einstellen. Unschlagbar sind sein Sprachwitz und seine Wortneuschöpfungen, allerdings hätte ich nicht deutlich mehr als die 176 Seiten lesen wollen. Die klare Stellungnahme gegen deutsche Neonazis hat mir gut gefallen und nicht nur für die Beschreibung deutscher Grenzkontrollen bei der Einreise ukrainischer Staatsbürgerinnen und Staatsbürger habe ich mich geschämt. Trotzdem mag ich kein pauschales Polizei-Bashing, denn auch in Sachsen gibt es mehr als nur „Einzelfälle von nicht rechtsextremen Polizisten und Justizvollzugsbeamten“ (S. 13). Obwohl völlig ohne Kitsch, hat mich die verfahrene Familiensituation und das komplizierte Eltern-Sohn-Verhältnis fast zu Tränen gerührt, vor allem, weil Dmitrij Kapitelmans tiefe Zuneigung selbst in wütenden Anklagereden noch durchscheint.

Der Schlusssatz des Romans ist unschlagbar:

Nichts ist so gleichgültig wie Nationalitäten. Wollen wir wirklich an etwas so Gleichgültigem zu Grunde gehen, liebe Landsleute? (S. 176)

Dmitrij Kapitelman: Eine Formalie in Kiew. Hanser Berlin 2021
www.hanser-literaturverlage.de/verlage/hanser-berlin

 

Rezensionen zu weiteren autobiografischen Migrationsromanen auf diesem Blog:

Sandra Noa & Peter Friedl: Vulkane

  Wo es raucht, blubbert, zischt und speit

Nicht alle Kinder lieben Geschichten so sehr, dass sie dafür die Mühen des Lesens auf sich nehmen. Manche von ihnen lassen sich jedoch von Erstleser-Sachbüchern verführen. Im Ravensburger Verlag gibt es seit über 20 Jahren die Reihe Wieso? Weshalb? Warum? mit verschiedenen Unterreihen  für unterschiedliche (Vor-)Lesealter und Bedürfnisse. Neu hinzugekommen ist nun die Unterreihe Erstleser mit zunächst vier Bänden: Dinosaurier, Vulkane, Wale und Delfine sowie Weltraum. Im Vordergrund steht hier das Lesetraining, das mit interessantem, kindgerecht aufbereitetem Sachwissen, mit Rätseln, Quiz, Stickern und einem selbstgebastelten Lotto richtig Spaß machen soll.

Wie bei Erstleserbüchern üblich, sind die Bände in großer Fibelschrift gedruckt, die Zeilen kurz und im Flattersatz gesetzt, es gibt kaum Nebensätze, die vier Hauptkapitel und zahlreichen Unterkapitel sind jeweils mit einer Frage überschrieben und das Textverständnis wird durch unzählige Fotos und Illustrationen erleichtert.

Die vier Hauptkapitel, die jeweils fünf bis sechs Doppelseiten umfassen, sind übersichtlich in vier Farben gehalten. Im Band Vulkane heißen sie:

  • Was ist ein Vulkan?
  • Wo gibt es ganz besondere Vulkane?
  • Wie leben Menschen mit Vulkanen?
  • Welche Vulkane stellen Rekorde auf?

Auf jedes Hauptkapitel folgt eine Doppelseite mit Leserätseln, am Ende des Bandes ein Lesequiz, die Lösungen und eine Bastelvorlage für ein Leselotto. Die Doppelseite mit den Island-Stickern in der Mitte des Buches hätte es für mich nicht gebraucht, macht aber sicher vielen Kindern Spaß. Sehr nett ist der kleine grüne Drache, der in Sprechblasen witzige, überraschend einfache Erklärungen zu komplizierten Sachverhalten gibt.

Natürlich bleibt es bei einem Sachbuch über Vulkane nicht aus, dass schwierige Wörter wie Tsunami, Magmakammer, Seitenschlot, Schlackenkegel oder Geysir vorkommen und auch der berühmte isländische Vulkan Eyjafjallajökull darf nicht fehlen. Soweit sich die Begriffe nicht anhand der anschaulichen Bilder von selbst erschließen, sind also hin und wieder die Erwachsenen gefragt. Da Kinder jedoch erfahrungsgemäß bei Themen, die sie fesseln, über sich hinauswachsen, eignet sich der sehr lebendige Band für die zweite Lesestufe ab Mitte der zweiten Klasse und die gesamte Grundschulzeit oder zum Vorlesen ab sechs.

Sandra Noa & Peter Friedl: Vulkane. Ravensburger 2021 (Wieso? Weshalb? Warum? Erstleser; Bd. 2)
www.ravensburger.de

Marianne Philips: Die Beichte einer Nacht

  Die eigene Hölle

Ich setze mich zu Ihnen, Schwester. Das ist nicht erlaubt, ich weiß es. Aber ich mache es trotzdem – ich habe so lange nicht mehr auf einem Stuhl gesessen, an einem Tisch mit einer Lampe drauf. (Romananfang S. 7)

 

Mit diesen Worten beginnt die Ich-Erzählerin Heleen eine beklemmende Lebensbeichte und bricht nach sieben Monaten in einer Nervenheilanstalt ihr Schweigen. Anders als der deutsche Romantitel Die Beichte einer Nacht nahelegt, sind es zwei Nächte, in denen Heleen einer Nachtschwester ungeschönt ihr Leben erzählt, hauptsächlich, um sich selbst Klarheit zu verschaffen:

Ich liege da und will begreifen – ich suche und finde immer wieder andere Gründe, warum das Unglück geschehen musste. Aber den ursächlichen Grund finde ich nicht. (S. 164)

Die handarbeitende Schwester bleibt völlig stumm, nur Randbemerkungen lassen ihre Reaktionen erahnen. Dass der Tag zwischen den beiden Nächten eine Veränderung für Heleen bringt, legt nahe, dass die Zuhörerin wider Willen aufmerksam lauscht – bis Heleen nach zwei Nächten mit den Worten endet:

Schwester! Was machen Sie jetzt? Beten Sie? Für mich? (S. 263)

© B. Busch

Aufstieg und Fall einer schönen Frau
Als ältestes von zehn Kindern einer durch einen Unfall des Vaters verarmten niederländischen Bürgersfamilie muss Heleen früh Verantwortung übernehmen, besonders für die jüngste Schwester Lientje. Ein Ausweg scheint nach nur sechs Schuljahren die Arbeit im Schneideratelier einer Französin. Dort lernt sie einen Handelsvertreter kennen, der ihr den Weg in die Stadt ebnet:

Meine Wahl war nicht falsch. Ich bereue sie nicht. (S. 78)

Mit Ehrgeiz, Fleiß und dank ihrer Schönheit schafft sie den beruflichen, später auch den gesellschaftlichen Aufstieg, immer bemüht, „nicht billig zu sein“, bleibt aber trotz ihrer Männerbekanntschaften zutiefst einsam. Mitte 20 beginnt ihre Angst vor dem Alter und sie geht eine kurze, traumatische Ehe mit einem reichen Kunstkritiker ein:

Bis heute ist mir unklar, warum ich ihn geheiratet habe. Ich muss taub und blind gewesen sein – oder so müde, dass mir alles egal war außer meiner eigenen Bequemlichkeit. (S. 121)

Als das Glück dann in Person des Sportlehrers Hannes doch noch vor ihrer Tür steht, kann sie ihm nicht trauen. Die Liebe macht sie verletzlich, ihr Selbstvertrauen leidet unter ihrer vergehenden Schönheit und das Drama nimmt seinen Lauf.

Ein Roman mit Sog
Die Beichte einer Nacht konnte ich, einmal begonnen, nicht mehr aus der Hand legen. Die faszinierende Erzählform in Kombination mit der von Beginn an heraufziehenden Katastrophe, die genaue Innenperspektive einer tragischen Frauenfigur, die detaillierte Beschreibung des sozialen Umfelds und aller Figuren sowie die Anklage gegen die zeitgenössische Psychiatrie machen für mich diesen unbekannten Klassiker zu einer unbedingt lesenswerten Entdeckung.

Kein bisschen verstaubt
Als der Roman der niederländischen Jüdin Marianne Philips (1886 – 1951) im Jahr 1930 unter dem Titel De Biecht erschien, war er Teil einer Therapie im Rahmen einer Psychoanalyse. 1913 hatte die Autorin wegen einer Wochenbett-Depression bereits sechs Monate in einer Nervenklinik verbracht. Auch sonst finden sich zahlreiche Parallelen zur Biografie der politisch bei den Sozialdemokraten engagierten dreifachen Mutter, wie ihre Enkelin, die Historikerin Judith Belinfante, in ihrem sehr lesenswerten Nachwort erklärt. Welch ein Glück, dass der Diogenes Verlag diesen so modern anmutenden Klassiker nun auf Deutsch zugänglich macht. Die wegen seiner Außergewöhnlichkeit zwiegespaltenen Kritiken der Zeitgenossen werden sich heute bestimmt nicht wiederholen.

Marianne Philips: Die Beichte einer Nacht. Aus dem Niederländischen von Eva Schweikart. Mit einem Nachwort von Judith Belinfante. Diogenes 2021
www.diogenes.ch

 

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